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Israelische Regierung "will auch kulturell herrschen"

Autor Daniel Brecher spricht von Kulturkampf in Ariel

Daniel Brecher im Gespräch mit Susanne Führer *

Die Stadt Ariel ist eine israelische Siedlung im Westjordanland, doch Künstler aus Israel weigern sich, dort aufzutreten. Der Autor Daniel Brecher bewertet dies als einen "Kulturkampf", der "von der Rechten gegen die Linke geführt" werde und bemängelt den fehlenden Widerstand.

Susanne Führer: Seit 1967 hält Israel das Westjordanland besetzt - ein Gebiet also, das zu Palästina gehört, sollte es zu der Zwei-Staaten-Lösung kommen. Im Westjordanland gibt es inzwischen weit über 100 israelische Siedlungen, die in manchen Fällen schon zu Stadtgröße herangewachsen sind. Zu ihnen gehört Ariel. Dort wurde Anfang November ein Kulturzentrum errichtet, was zu einem Aufruhr in Israels Kulturszene führte, denn Theaterschaffende, andere Künstler und Intellektuelle gaben in einer Petition bekannt, dass sie nicht in jüdischen Siedlungen im besetzten Westjordanland auftreten würden, und die Debatte geht weiter. Elisabeth Nehring hat sich bei israelischen Theaterleuten umgehört.

(...)

Soweit der Bericht von Elisabeth Nehring in der Siedlerstadt Ariel. Im Westjordanland eröffnet ein Kulturzentrum, und die israelische Kulturszene spaltet sich: Darf man dort auftreten oder nicht? Am Telefon ist jetzt der Historiker und Autor Daniel Brecher. Guten Tag, Herr Brecher!


Daniel Brecher: Guten Tag!

Führer: Ja, die Unterzeichner der Petition, darunter ja auch so prominente wie David Grossman und Jehoschua Sobol, haben an die israelischen Schauspieler appelliert, sich nicht für Auftritte in den besetzten Gebieten einspannen zu lassen. Mal dumm gefragt: Gab es die bisher nicht oder warum entzündet sich der Streit gerade jetzt an Ariel?

Brecher: Es geht hier in diesem Fall um staatlich subsidierte Theater, die vier großen Stadttheater Israels. Das ist das erste Mal, soweit ich weiß, dass hier von diesen Theatern gefordert wird, in den besetzten Gebieten aufzutreten.

Führer: Und Ariel, hat das noch eine besondere symbolische Bedeutung, dieser Ort?

Brecher: In der Tat. In Ariel kommen eigentlich die ganzen Stränge des heutigen israelischen politischen Desasters zusammen. Es ist die Frage der besetzten Gebiete, soll man sie zurückgeben, und die Frage der kulturellen Zukunft Israels, ist Israel das Land der nationalen Revolution, der Staatsideologie des Zionismus oder ist Israel das Land der liberalen Demokratie und der westlichen Werte sozusagen. Und das kommt in diesem Städtchen Ariel zusammen - kulturell völlig unbedeutend, 17.000 Einwohner, 17 Kilometer von der israelischen Grenze entfernt.

Das Wichtige an Ariel ist die geografische Lage: Es liegt mitten im Gesamtpalästina, also in dem Gebiet, das Israel und Palästina umfasst, und wer Ariel beherrscht in der Zukunft, beherrscht eigentlich das gesamte Terrain. Wenn Ariel zurückgegeben werden sollte, also eines Tages Teil eines palästinensischen Staates ausmachen sollte, würde sich Israel zurückziehen müssen auf eine Grenze, die nur 30 Kilometer vom Meer entfernt ist. Bliebe Ariel Teil Israels, wäre das zukünftige Palästina an dieser Stelle nur 30 Kilometer tief, denn das ist der Abstand von Ariel zum Jordanfluss, also zur Grenze mit Jordanien. Damit ist eigentlich schon gesagt, warum dieser Kampf um Ariel entbrannt ist.

Führer: Also das kleine Städtchen Ariel, wie Sie gesagt haben, Herr Brecher, ist sozusagen in diesem Fall symbolhaft für die gesamte grundlegende Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern? Nun hat es ja Boykotte der Kultur in Israel ja schon öfter gegeben, also jetzt hat zuletzt Elvis Costello seine Konzerte in Israel abgesagt, die englische Band Tindersticks auch. Ich habe gelesen, der ägyptische Schriftsteller Alaa al-Aswani will nicht, dass sein Buch ins Hebräische übersetzt wird. Jetzt gibt es aber zum ersten Mal sozusagen einen Boykott von innen - zeigt das eine neue Form der Auseinandersetzung?

Brecher: Es ist in der Tat neu, dass sich Israelis, die im Land selbst wohnen, stärker engagieren, denn es ist ja ihre Existenz, die damit auch bedroht wird. Aber es ist nicht das erste Mal, dass Israelis israelische Künstler oder Wissenschaftler zu einem Boykott von innen aufrufen. Das hat es schon gegeben, das hat es gegeben vor allem im universitären Bereich, wo die wirklichen Ideologiekritiker des Zionismus sitzen, in der Universität in Be'er Scheva, Tel Aviv hat es solche Bewegungen gegeben. Es hat im Juni dieses Jahres auch eine vergleichbare Aktion gegeben vonseiten der Wissenschaftler, und eine vergleichbare Reaktion kam auch aus dem Kultusministerium in Jerusalem, nämlich eine Drohung, den Universitäten, die diese linienuntreuen Wissenschaftler beherbergen, den Geldhahn abzudrehen.

Führer: So eine Drohung gibt es ja jetzt wieder. Die Kulturministerin Limor Liwnat hat ja angekündigt, dass nur noch die Theater Geld vom Staat bekommen werden, die sich nicht an diesem Boykott Ariels beteiligen. Ist das mehr Drohgebärde, ist das vielleicht auch ein bisschen üblicher Stil der politischen Auseinandersetzung, oder ist da eine neue Schärfe, eine neue Intoleranz erreicht?

Brecher: Ich denke schon, dass es sich um eine Welle der Intoleranz handelt. Das ist ein Ausdruck, den ein Linker Knesset-Abgeordneter gerade in einem Interview benutzt hat, indem er davon spricht, dass es eigentlich inzwischen um zwei Israel sich handelt. Das eine Israel ist eben das liberale Israel, das nach Westen orientierte Israel, und das andere ist das Israel, das von der jetzigen Regierung oder der Mehrheit der jetzigen Regierung repräsentiert wird und das immer mehr Linientreue von dem anderen Israel verlangt, immer weniger Spielraum bietet der Kritik und der Auseinandersetzung um die Grundfragen.

Führer: Zwei Israel, das lässt mich an einen Kulturkampf denken. Es ist ja vielleicht nicht so dramatisch, wenn die Auseinandersetzung, wie es so schön heißt, auf Augenhöhe geführt wird, also wenn gerungen wird um die Frage, wohin geht das Land, aber Sie beschreiben das mit einem deutlich negativen Unterton, Herr Brecher.

Brecher: Sie haben ganz recht, dass Sie darauf hinweisen, dass das ja eigentlich zu einer normalen Auseinandersetzung in einer Demokratie gehört. Jetzt ist es so, dass die jetzige Regierung eine der extremsten, aus meiner Sicht extremsten in der Geschichte des Landes ist und mit ganz anderen die Spielregeln zu verändern versucht. Sie will nicht nur politisch herrschen, sie will auch kulturell herrschen. Das heißt, die kulturellen Dissidenten will sie mundtot machen, und dazu benutzt sie politische Mittel. Das haben andere Regierungen in diesem Ausmaß noch nicht versucht.

Führer: Das heißt, was der Schauspieler Ishai Golan gerade in dem Beitrag von Elisabeth Nehring gesagt hat, also das Klima insgesamt sei engstirniger geworden, das sehen Sie auch so?

Brecher: Ja, das ist in der Tat so, das äußert sich in diesen kulturellen Auseinandersetzungen über die Frage der künstlerischen Freiheit, der wissenschaftlichen Freiheit, aber es äußert sich auch in Fragen zum Beispiel des neuen Einbürgerungsgesetzes, wo die Regierung verlangt, dass ein nicht jüdischer Bürger muss einen Treueeid schwören auf eine ganz bestimmte Art Interpretation des jüdischen Staates, nämlich dass es ein Staat ist, der eigentlich nur für Juden da ist und der dann die Nichtjuden gerade noch toleriert.

Führer: Ist denn die Gegenseite, das andere Israel, das offenere, liberale Israel, ist das sozusagen so in die Defensive geraten, ist es in der Minderheit, oder warum setzen sich diese Stimmen nicht durch?

Brecher: Ja, das ist ein sehr schmerzhaftes Kapitel, besonders für mich, denn es ist in der Tat so, dieser Kulturkampf wird von der Rechten gegen die Linke geführt, und die Linke wehrt sich defensiv und sehr zögerlich nur gegen diese Angriffe. Seit Jahren klagen Israelis im In- und Ausland darüber, wie wenig aktiv eigentlich der Widerstand in Israel geworden ist, gegenüber dieser langsamen Erodierung der westlichen Werte des Landes.

Führer: Und haben Sie eine Erklärung dafür?

Brecher: Es gibt verschiedene Erklärungen. Es gibt die eine, dass sehr viele Leute, die damit nicht einverstanden sind, ins Ausland gehen. Gerade unter Wissenschaftlern und Intellektuellen und Künstlern gibt es eine große Auswanderung, hat es immer schon eine große Auswanderungswelle gegeben ...

Führer: Und die geht weiter - Sie gehören ja auch zu denjenigen, die ausgewandert sind.

Brecher: Ja. Es gibt ein Ventil in diese Richtung. Das andere ist, dass die Linke sich selbst entmachtet hat, also zumindest die Herrschaft über den Diskurs aufgegeben hat im Jahre 2000, als sie selbst, als der damalige Leiter, Führer der Arbeitspartei Barack, gesagt hat, wir haben niemanden, mit dem wir verhandeln können, die arabische Seite, die palästinensische Seite will keinen Frieden. Damit hat die Linke sich selbst um ihre eigene Munition gebracht, nämlich die, zu sagen, es gibt eine Möglichkeit, diesen Konflikt zu lösen, und wir müssen alles versuchen, um ihn zu lösen.

Führer: Noch mal kurz zum Abschluss: Wenn ich das recht verstehe, dann ist die Devise nicht, bleibe im Lande und wehre dich täglich, sondern die, ja, Künstler, die Intellektuellen, die es sozusagen nicht mehr ertragen, verlassen eher das Land. Gibt es da eine neue Welle - Sie sagen, es gab schon immer diese Welle -, gibt es da eine Zunahme der Auswanderung?

Brecher: Also statistisch kann ich Ihnen dazu keine Auskunft geben, ich höre nur und lese nur, wie stark das wieder in den Vordergrund getreten ist, diese Frage - das hat es immer schon gegeben. Israel ist ein kleines Land, das ist mit dem Westen liiert und für viele Künstler und Intellektuelle ist das Land auch in anderer Hinsicht ab und zu mal etwas zu klein. Aber jetzt denke ich, hat sich in der Tat der Ton so stark verschärft, dass sehr viele Leute daran denken, zumindest zeitweise im Ausland unterzukommen.

Führer: Der Autor und Historiker Daniel Brecher. Danke für das Gespräch, Herr Brecher!

Brecher: Bitte!

* Aus: Deutschlandradio Kultur, 14. Dezember 2010; www.dradio.de

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