Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Von Müdigkeit keine Spur

Ein Besuch bei den Aktivisten des Protest-Camps in Tel Aviv

Von Martin Lejeune, Tel Aviv *

Genau einen Monat ist es her, dass eine kleine Gruppe von Demonstranten auf dem Rothschild-Boulevard ein Protest-Camp errichtete. Inzwischen sind es laut Polizeiangaben 2500 Zelte, welche die Prachtstraße von Tel Aviv säumen.

Ein Blick genügt, um zu sehen, dass kaum noch Platz ist für neue Zelte. Die Allee ist von Anfang bis Ende besetzt. Daher gibt es seit Kurzem nun schon ein zweites Protest-Camp in Tel Aviv: auf dem Platz vor dem neuen zentralen Busbahnhof. Weil ihre Forderungen bis heute nicht erhört werden, haben sich die Demonstranten auf ein langes Bleiben eingerichtet.

Es ist drei Uhr in der Nacht, und noch immer diskutieren die Führer der Protestbewegung in ihrem Hauptquartier am Ende des Rothschild-Boulevards gegenüber dem HaBima-Platz. Hier steht das große Zelt des »Self-Leadership«, so der Hinweis in Englisch auf einem großen weißen Pappschild über dem Eingang. Die jungen Leute des »Autonomen Führungskomitees«, die hier zu dieser Stunde noch immer voller Elan über ihre Protestaktion debattieren, sind zwischen 18 und 35 Jahre alt. Sie beraten permanent darüber, wie sie ihren Forderungen, zum Beispiel nach bezahlbarem Wohnraum und nach höheren Löhnen, mehr Nachdruck verleihen können.

»Ich musste meine Eltern um Geld bitten«

Ophir, ein 25-jähriger arbeitsloser Graphikdesigner, sitzt hinter dem Empfangstisch des Komitees und entwirft mit einem Mitstreiter an einem Laptop gerade das Layout für einen Protestaufkleber. »Es hilft nur noch, ›Restart‹ zu drücken«, ist auf dem Sticker zu lesen, auf dem das »Restart«-Symbol eines Betriebssystemherstellers abgebildet ist. »Ich will mit diesem Aufkleber deutlich machen, dass ich nicht mehr an eine Reformierbarkeit des Systems glaube«, erklärt Ophir. »Wir haben ein System- und kein Strukturproblem. Das System funktioniert nicht mehr, wie man auch in anderen Mittelmeerländern sieht.« Ophir ist davon überzeugt, das große Prekariat in Israel könne sich nur retten, indem es das System breche. So wie Ophir denken viele in dem Camp. Nicht das Misstrauen in das Kabinett von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu brachte sie auf die Straße, sondern die Forderung nach der Überwindung des politischen Systems in Israel. »Jede Regierung war bisher korrupt, nicht nur die derzeitige«, schimpft Aaron (30) aus Jerusalem, der neben Ophir am Computer sitzt. »Das ganze Land wird von wenigen Familien beherrscht, die die jeweils amtierende Regierung kaufen. Eine kleine Mafia-Clique teilt sich die Macht in Israel. Dafür wurde unser Land nicht gegründet«, stellt Aaron klar.

Sein geringes Einkommen hielt Ophir bisher davon ab, eine eigene Familie zu gründen. Er hat als Graphiker in einer kleinen Werbeagentur in Tel Aviv umgerechnet 900 Euro verdient. Als er vor drei Monaten seinen Job verlor, musste er seine Eltern bitten, die Miete zu bezahlen. »Doch das war kein Leben in Würde, mit Mitte 30 wieder der Familie zur Last zu fallen. Daher habe ich meine Wohnung aufgegeben als der Boulevard besetzt wurde.«

Ophir wäscht sich am öffentlichen Strand, der mit dem Fahrrad eine Viertelstunde vom HaBima-Platz entfernt ist, er lebt von Lebensmittelspenden, die Passanten vorbeibringen. Hin und wieder bekommt er einen Projektauftrag als freier Graphiker. Damit kann er Sonderausgaben decken.

Auf die Frage, wie lange er noch auf dem Boulevard wohnen wolle, entgegnet er: »Ich protestiere hier solange, bis sich etwas grundsätzlich ändert, und wenn ich dafür die nächsten 20 Jahre auf diesem Platz wohnen muss.« Ophir fügt hinzu, dass er sowieso keinen Ort mehr habe, an den er zurückkehren könne und meint damit nicht nur die verlorene Arbeit und Wohnung. Er sehe für sich keinen Platz in der Gesellschaft. »Ich habe nichts mehr zu verlieren. Ich habe nur noch meine Stimme, die ich erheben kann.«

Mit dem Blick auf die Uhr, die gerade vier Uhr morgens anzeigt, will der Besucher von Aaron und Ophir wissen, ob sie nicht müde seien. »Nein, wir sind nicht müde«, antwortet Ophir. »Müde fühlte ich mich oft früher in meinem schlecht bezahlten Job mit den vielen Überstunden. Unser Protest und unsere Gemeinschaft geben uns Kraft und Energie. Ich habe mich noch nie so gut gefühlt.«

Doch nicht nur aus den zwei Zentren des Landes, Jerusalem und Tel Aviv, kommen die Protestler auf den Boulevard. Der israelische Pfadfinderverband »HaIchud HaHaklai« unterstützt seit einer Woche die Protestbewegung und organisiert auf dem Boulevard/Ecke Neve Tzedek ein Sommercamp. »Wir wollen, dass auch unsere Scouts aus den kleinen Dörfern im Norden und Süden des Landes die Proteste unterstützen können und haben daher dieses Pfadfinderlager auf dem Boulevard errichtet«, sagt Itay, ein 26-jähriger Pfadfinder, der die Fahrten von Scout-Gruppen nach Tel Aviv organisiert.

Für die Verbesserung des öffentlichen Gesundheitssystems hingegen kämpft der »Israelische Medizinerverband« auf dem Boulevard. Er hat sich mit drei Zelten und einem Informationsstand, hinter dem ein in die Tage gekommenes beiges Sofa steht, vor wenigen Tagen an die Protestbewegung angehängt, um auf die sich seit drei Monaten hinziehenden Tarifverhandlungen der Ärztegewerkschaft mit dem Gesundheitsministerium aufmerksam zu machen.

»Ich will nicht Soldatin auf der Westbank sein«

»Ein Arzt im öffentlichen Gesundheitswesen bekommt 25 Schekel brutto die Stunde, das ist zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel«, klagt die Onkologin Dr. Nili Peylan-Ramu, die auf dem Boulevard den Israelischen Medizinerverband vertritt. 25 Schekel sind etwa 4,90 Euro. »Wenn Ärzte im öffentlichen Gesundheitswesen nicht anständig bezahlt werden, lassen sich die besten Ärzte von den privaten Kliniken abwerben, die das Vierfache bezahlen.« Wer nicht in den Privatsektor wechsele, müsse selbst als Arzt oft zwei Jobs ausüben, um über die Runden zu kommen, so Peylan-Ramu. »Dabei arbeiten unsere Ärzte in den öffentlichen Krankenhäusern bis zu 30 Stunden ohne Pause.

Auch die Schülerinnen Aviva (16) und Leah (17) schlafen seit zwei Wochen jede Nacht in ihren Zelten auf dem Boulevard/Ecke Schenkin-Straße. Sie sind in der Friedensbewegung organisiert und aktiv in dem israelischen Verein »Windows«, der Treffen mit palästinensischen Schülern in der Westbank organisiert. »Durch den Schüleraustausch und die Gespräche mit Palästinensern von der Westbank habe ich persönlich erfahren, wie groß das Leid der Menschen in den besetzten Gebieten ist. Ich will nicht als Soldatin in die besetzten Gebiete müssen und daher meinen Militärdienst verweigern«, sagt Leah zu einem Passanten, der skeptisch auf das Titelbild der Zeitschrift blickt, auf dem ein buntes »Peace«-Symbol prangt.

In Israel besteht Wehrpflicht für beide Geschlechter. Frauen sind dazu verpflichtet, mindestens zwei Jahre Dienst in den Streitkräften abzuleisten. Dabei ist ein Einsatz in den besetzten Gebieten obligatorisch. Der etwas korpulente Herr in den 50ern, der gerade das Heft von Leah in die Hand gedrückt bekommen hat, schnauzt sie unfreundlich an: »Dieses Land hat dich dank seiner Armee seit deiner Geburt beschützt, du bist es deinem Land schuldig, deinen Militärdienst zu leisten!« Leah ist diese Vorwürfe gewöhnt, seit sie vor einem Jahr erstmals von Kriegsdienstverweigerung sprach. »Ich bin nicht egoistisch. Ich würde meinem Land gerne etwas zurückzugeben, aber nicht indem ich zur Armee gehe«, erklärt Leah dem Passanten. Doch dieser schüttelt nur mit dem Kopf und sagt: »Wenn jeder so denken würde wie du, dann gäbe es kein Israel mehr. Nur dank unserer Armee gibt es uns noch.«

Auf die Frage des Besuchers aus Deutschland, was er denn von den sozialen Forderungen der Protestbewegung halte, wird er verständnisvoller: »Das unterstütze ich zu 100 Prozent. Ich selber kann meine Familie von meinem Lohn als Koch kaum durchbringen. Wir haben uns diese teuren Lebenshaltungskosten und niedrigen Löhne viel zu lange gefallen lassen. Endlich tut sich etwas gegen diese Ausbeutung.«

* Aus: Neues Deutschland, 19. August 2011


Zurück zur Israel-Seite

Zurück zur Homepage