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Die bleibenden 99,5 Prozent / The Remaining 99.5 Percent

Von Amira Hass / by Amira Hass

„Ich als Jude möchte dich als Jüdin etwas fragen,“ sagte ein junger Mann vor ein paar Tagen. Ein Beginn dieser Art lädt in diesen Tagen zu einem Dialog ein, in den wir seit ein paar Wochen hineingezogen werden. Es ist ein Dialog, in dem die Definition „Jude“ verwendet worden ist, um eine Art einzigartiger Entität zu beschreiben, die außerhalb jeder anderen menschlichen Spezies, einer überlegeren, steht. Manchmal ist es der jüdische Junge vom Warschauer Getto mit erhobenen Armen; manchmal ist es das junge Mädchen mit der orangenfarbigen Bluse, auf der der Slogan steht: Wir werden nicht vergessen und nicht vergeben; und manchmal ist es der Soldat, der sich weigert, Juden zu evakuieren. Eine einzigartige Entität, die durch Blut, Heiligkeit und Land mit einander verbunden ist.

„Als ein Jude zu einer Jüdin“, sagte der junge Mann, der sich als Tourist aus Südamerika herausstellte, der Verwandte in Israel hat und Hebräisch verst! eht. Es war an der Erez-Kreuzung zwischen Stacheldraht, verschlossenen Toren, den Drehtüren, den einschüchternden Wachtürmen, den Soldaten mit speziellen Kameras, die auf die Durchgehenden ein Auge haben, die dröhnenden Lautsprecher, durch die sie ihre Befehle auf Hebräisch gegenüber Frauen bellen, die seit fünf Stunden in der Hitze warten, um ihre gefangenen Söhne im Ber-Sheva-Gefängnis zu besuchen. „Ist es möglich,“ fährt er mit seiner Frage fort, „dass die Israelis, die so nett und gut sind – ich habe nämlich Verwandte hier – nichts von der Ungerechtigkeit wissen, die sie hier verursacht haben?“ Die Bilder der Zerstörung, die durch Israel im palästinensischen Gaza zurückgelassen wird und von ihm in den letzten Tagen gesehen wurde, hat bei ihm einen Schock hinterlassen. „Ich bin Jude und mein Vater ist ein Holocaustüberlebender und ich wuchs mit völlig anderen Werten des Judentums auf – soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und dass man sich um einander kümmert.“

So naiv die F! rage auch gewesen sein mag, so war sie für mich wie ein erfrischender Lufthauch. Hier stand ein Jude, der seine ( mitfühlende) Meinung über das Schicksal des 1,3 Millionen- Volkes aussprach, während die ganze Welt sich auf jeden einzelnen der 8000 Siedler zu konzentrieren schien, die gerade umzuziehen. Hier war ein Jude, der davon betroffen war, was sonst nur trockene Zahlen sind : 1719 Palästinenser wurden allein im Gazastreifen ab September 2000 bis heute getötet; und nach verschiedenen Schätzungen waren etwa 2/3 von ihnen nicht bewaffnet und wurden nicht in Schlachten oder im Verlauf eines Versuchs, einen Militärposten oder eine Siedlung anzugreifen, getötet. Auf Zahlen des palästinensischen Zentralbüros für Statistik gegründet, wurden 379 Kinder (unter 18) getötet; 236 waren jünger als 16; 96 waren Frauen, und 102 waren Opfer von gezieltem Töten während dem die IDF noch weitere 95 Personen tötete, die - auch nach militärischen Quellen - „unschuldige Passanten“ waren.

Etwa ! 9000 Bewohner des Gazastreifens wurden verwundet; 2704 Häuser von 20 000 Leuten wurden von IDF-Bulldozern und Helikopterangriffen zerstört; 2187 wurden teilweise zerstört. Etwa 31 650 Dunum landwirtschaftlich genützten Landes wurden verbrannt zurückgelassen.

Die israelischen Antworten auf diese Zahlen sind normalerweise: Sie haben es sich selbst anzulasten, oder: Was erwarten sie, wenn sie Kassamraketen auf Kinder und friedliche Häuser werfen oder versuchen, einzudringen und Bürger in ihren Häusern morden – dass die IDF zu ihrer Verteidigung kommt?

Man kann eine direkte Linie zwischen diesen Fragen ziehen, die die öffentliche Unterstützung für die israelische Angriffspolitik ausdrückt und der Teilnahme an den Sorgen der Evakuierten und dem Staunen über das „großartige Kapitel“ in der Geschichte des zionistischen Siedlungsunternehmens – eine direkte Linie des fundamentalistischen Glaubens in die Superrechte der Juden in diesem Land. Tatsächlich kann man sich denen anschließen, die sich über die Siedler im allgemeinen und insbesondere über die Siedler im Gazastreifen wundern.

Was für ein Mensch muss man sein, um 35 Jahre lang (ungerührt) in einem blühenden Park und in herrlichen Villen zu wohnen, die nur 20m von übervölkerten, erstickenden Flüchtlingslagern stehen. Was für ein Mensch muss man sein, um Sprinkleranlagen über Rasenflächen anzustellen, während schon auf der anderen Straßenseite 20 000 Menschen von der Verteilung von Trinkwasser aus Tankwagen abhängig sind; und zu wissen, dass man dies verdient hat, dass deine Regierung prächtige Straßen für dich baut und dabei ( vor Oslo, vor 1994) die palästinensische Infrastruktur nicht nur vernachlässigte, sondern auch zerstörte. Was für ein Mensch muss man sein, um aus dem wohlgepflegten Gewächshaus zu treten und ungerührt an 60jährigen früchtetragenden Dattelpalmen vorbeizugehen, die wegen dir entwurzelt wurden, oder an Straßen, die wegen dir blockiert werden; und an Häusern,! die wegen dir zerstört wurden, an Kindern, die aus Hubschraubern und Panzern erschossen und neben dir beerdigt wurden – nur um der Sicherheit deiner Kinder willen und der Erhaltung deiner Superrechte wegen.

Wegen eines etwa halben Prozentes der Bevölkerung von Gaza, eines jüdischen halben Prozentes wegen, wurde das Leben der übrigen 99,5 Prozent total unterbrochen und zerstört – man sollte sich wirklich darüber wundern. Es ist auch verwunderlich, wie die meisten Israelis, die nicht selbst dorthin als Siedler gingen, diese Realität ertrugen und nicht ihre Regierung aufforderten, dem ein Ende zu setzen - bevor die Kassams kamen.

Eine wohl-genährte Ziege – die Siedler - wurde diese Woche aus dem Gazastreifen weggebracht. Verständlich ist darum, dass die 99,5% aufgeatmet haben – doch gibt es einen ziemlich großen Unterschied zwischen der Realität, die in den so oberflächlichen Berichten unserer Medien auftaucht, und der Realität der Feiern von Hamas und der palästinen! sischen Behörde. Ein früher in den Siedlungen Arbeitender aus Khan Yunis sagte letzte Woche: „Die Siedlungen teilten den Gazastreifen in drei oder vier Gefängnisse. Jetzt werden wir in einem großen, wenn auch einem bequemeren Gefängnis leben – aber es bleibt ein Gefängnis.“

Übersetzt von Ellen Rohlfs
Erstveröffentlichung: Ha'aretz / ZNet Deutschland 24.08.2005
www.zmag.de



The Remaining 99.5 Percent

by Amira Hass

"I want to ask you as a Jew to a Jewess," the young man said a few days ago. In these days, a beginning such as this invites a dialogue of the kind in which we have been drowning for several weeks now - a dialogue in which the definition "Jew" has been appropriated to describe some type of unique entity, one that is set apart from the other human species, a superior one. Sometimes it's the Jewish boy with his arms raised from the Warsaw Ghetto; sometimes it's the young girl whose orange shirt bears the slogan, "We won't forget and we won't forgive;" and sometimes it's the soldier who refuses to evacuate a Jew. A unique entity of ties of blood, sacredness, and land.

"As a Jew to a Jewess," said the young man, who turned out to be a tourist from South America who has family in Israel and also understands Hebrew. It was at the Erez crossing, among the barbed-wire fencing, the locked gates, the revolving gates, the intimidating guard towers, the soldiers using special cameras to keep an eye on the handful of individuals passing through, and the booming loudspeakers through which they bark out their orders in Hebrew to women who have been waiting in the heat for five hours to go visit their sons imprisoned at the Be'er Sheva jail.

"Is it possible," he continued with his question, "that the Israelis, who are so nice and good - after all, I have family here - are unaware of the injustice they have caused here?" The images of destruction left behind by Israel in Palestinian Gaza and witnessed by him in the past few days have left a look of shock in his eyes. "I am a Jew, and my father is a Holocaust survivor, and I grew up on totally different values of Judaism - social justice, equality and concern for one's fellow man."

As naive as it may have been, the question was like a breath of fresh air. Here was a Jew who was voicing his opinion on the fate of 1,300,000 people, while the entire world appeared to be focused on every one of the 8,000 Jews who are moving house. Here was a Jew who was moved by what have become dry numbers - 1,719 Palestinians have been killed in the Gaza Strip from the end of September 2000 until today; and according to various estimates, some two-thirds of them were unarmed and were not killed in battles or during the course of attempts to attack a military position or a settlement.

Based on figures from the Palestinian Central Bureau of Statistics, of those killed, 379 were children under the age of 18; 236 were younger than 16; 96 were women; and 102 were the objectives of targeted liquidations during the course of which the Israel Defense Forces also killed another 95 individuals who, according to the military too, were "innocent bystanders."

Some 9,000 Gaza residents were injured; 2,704 homes to some 20,000 people were razed by the IDF's bulldozers and assault helicopters; 2,187 were partially destroyed. Some 31,650 dunams of agricultural land were left scorched.

The Israeli responses to these numbers are standard: They invited it upon themselves, or: What do they expect when they fire Qassams at children and peaceful homes, or try to infiltrate and murder citizens in their houses - that the IDF won't come to their defense?

A direct line is drawn between these questions, which expressed the public's support for the Israeli assault policy, and participating in the sorrow of the evacuees and the wonderment at this "magnificent chapter" in the history of the Zionist settlement enterprise - a direct line of fundamental belief in the Jews' super-rights in this land. Indeed, one can join those who are amazed by the settlers in general, and the Gaza Strip settlers in particular.

What talent it takes to live for 35 years in a flourishing park and splendid villas just 20 meters from overcrowded, suffocated refugee camps. What talent it takes to turn on the sprinklers on the lawns, while just across the way, 20,000 other people are dependent on the distribution of drinking water in tankers; to know that you deserve it, that your government will pave magnificent roads for you and neglect (prior to Oslo, before 1994) to the point of destruction the Palestinian infrastructure. What skill it takes to step out of your well-cared-for greenhouse and walk unmoved past 60-year-old fruit-bearing date trees that are uprooted for you, roads that are blocked for you, homes that are demolished for you, the children who are shelled from helicopters and tanks and buried alongside you, for the sake of the safety of your children and the preservation of your super-rights.

For the sake of about half a percent of the population of the Gaza Strip, a Jewish half-percent, the lives of the remaining 99.5 percent were totally disrupted and destroyed - worthy of wonderment indeed. And also amazing is how most of the other Israelis, who did not go themselves to settle the homeland, suffered this reality and did not demand that their government put an end to it - before the Qassams.

A big, well-fed goat was removed from the Gaza Strip this week. And therefore, the sense of relief felt by many of the 99.5 percent is understandable - although it is a far cry from the reality emerging from the so-superficial media reports that are focusing on the celebrations of Hamas and the Palestinian Authority. In the words last week in the Khan Yunis refugee camp of a former worker at one of the settlements: "The settlements divided the Strip into three or four prisons. Now, we will live in one big prison - a more comfortable one, but a prison nevertheless."

August 24, 2005;
www.zmag.org



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