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"Die Uniform gibt das Gefühl, mehr wert zu sein"

Israelische Soldaten berichten über ihren Einsatz in den besetzten palästinensischen Gebieten. Ein Gespräch mit Dana Golan *




Ihre Organisation heißt »Breaking the Silence« (Das Schweigen brechen). Sind die Situation in den besetzten palästinensischen Gebieten und Menschenrechtsverletzungen der eigenen Soldaten in Israel tatsächlich nur wenig bekannt?

Es gibt keine Diskussion darüber, was in den besetzten Gebieten passiert. Niemand problematisiert die Besatzung, jeder spricht darüber, als ob die Palästinenser ein irgendwie normales Leben führten. Das ist es, was wir aufzubrechen versuchen. Über den israelisch-palästinensischen Konflikt sprechen Menschen auf der ganzen Welt, doch niemand spricht über die Wirklichkeit der Besatzung.

Zur Wirklichkeit der besetzten Gebiete gehören nicht nur die Checkpoints, sondern es gibt eine Vielzahl einschüchternder Aktionen. Können sie uns eine der wenig bekannteren beschreiben?

Etwas, was oft praktiziert wird, wird »Strohwitwe« genannt. Es bedeutet, daß israelische Soldaten ein palästinensisches Haus als Spähposten vorübergehend in Beschlag nehmen, um von dort aus eine Übersicht in ein Gebiet zu haben, ohne einen neuen Kontrollposten zu errichten. Die Soldaten dringen in das Haus ein, oft mitten in der Nacht. Die ganze Familie muß dann unter Bewachung bis zu zwei Wochen lang in einem Zimmer bleiben. Von dem Haus aus können militärische Operationen unternommen werden. Das alles ist völlig legal und wird von der Armee gerechtfertigt. Die Frage ist jedoch, ob das moralisch ist. Wenn man mitten in der Nacht in ein Haus eindringt, muß man sich fragen, ob die Sicherheit des eigenen Landes das erfordert. Die Wahrheit ist doch: Selbst wenn du ein besonders moralischer Soldat bist, wenn du der Familie nichts wegnimmst und sogar Geld da läßt für die Sachen, die du gebraucht hast, du kontrollierst ihr Leben innerhalb ihres Hauses, ob nun zwei Wochen lang oder zwei Stunden. Wenn man das regelmäßig macht, Dutzende Male während des Militärdienstes, dann fragt man sich nicht mehr wirklich: Was bedeutet das eigentlich, warum mache ich das? Vielleicht fängt man sogar an, nachzudenken, aber meist schafft man es während des Dienstes nicht, eine Haltung zu entwickeln, sich dem zu widersetzen. Um sich herum hat man seine Freunde, jeder macht dasselbe, es gibt die Rechtfertigung mit der Sicherheit – deshalb nimmt man es hin.

Aber es gibt doch Tausende junger Soldaten in den besetzten Gebieten. Sprechen die zu Hause nicht mit ihren Angehörigen und Freunden darüber?

Nur ganz wenige sprechen darüber. Die meisten, die wir nach Ende des Militärdienstes wegen eines Interviews ansprechen, antworten uns: Wir haben nichts zu erzählen. Es dauert meist zwei oder drei Jahre, bis sie in der Lage sind einzuräumen, daß etwas falsch war, und sich zu Aussagen bereitfinden.

Und wie war es bei Ihnen selbst?

Ich brauchte vier Jahre. Auch ich sagte zu Anfang, ich hätte nichts zu berichten.

Wodurch ist Ihnen klar geworden, daß die Besatzung Unrecht ist?

Das erste war die Routinearbeit mit anderen Soldaten an Checkpoints in Hebron. Gewalt war ein Teil des alltäglichen Lebens, Menschen werden geschubst oder stundenlang festgenommen, weil man die Macht dazu hat. Oder man ignoriert Menschen, die eine Frage stellen, auch wenn sie das Alter deiner Eltern oder Großeltern haben, weil man das einfach tun kann. Die Uniform gibt mir das Gefühl, daß ich mehr wert bin und mein Leben mehr wert ist als das der Palästinenser um mich herum. Ich erinnere mich, daß ich mich unwohl dabei fühlte.

Bei meiner ersten Hausdurchsuchung war ich erst einmal schockiert über das Chaos, das angerichtet wurde. Schon nach wenigen Sekunden lag alles auf dem Boden. Der Vater, die Mutter, die Großmutter und die zwei Kinder nahmen alles hin, ohne Protest. Zum ersten Mal schämte ich mich, die Uniform zu tragen, denn ich hatte das Gefühl, in die Privatsphäre einzudringen. Und dann wurde ich aufgefordert, den Frauen zu befehlen, sich auszuziehen, und ihre Körper nach Waffen zu untersuchen. Ich fand das widerlich, ich fühlte mich sehr schlecht dabei.

Bedeutet Besatzung, daß Frieden in immer weitere Ferne rückt?

Natürlich. Besatzung selbst bedeutet Gewalt und ist eine Erniedrigung der Palästinenser. Man zerstört die palästinensische Gesellschaft, man erlaubt nicht, daß sie sich entwickelt und wächst. Wie kann man da Frieden erwarten?

* Dana Golan ist Direktorin der israelischen Organisation »Breaking the Silence«

Interview: Rolf-Henning Hintze

Aus: junge Welt, Samstag, 22. September 2012


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