"Wir wissen, was für die Palästinenser besser ist"
Ein israelischer Sozialwissenschaftler schreibt über die "Arroganz der Besatzer"
In der taz erschien am 22. Dezember 2001 ein Gastkommentar des israelischen Sozialwissenschaftlers Lev Grinberg, in dem er in ungewöhnlich offener Form die israelischen Besatzerallüren kritisiert. Grinberg ist Direktor des Humphrey Institute for Social Research an der Ben-Gurion-Universität in Negev/Israel. Der Kommentar befindet sich auf der Homepage der Israel-Nachrichten (www.nahost-politik.de). Wir dokumentieren den Beitrag.
Israels Sicht auf den Palästinakonflikt besagt: Jassir Arafat ist das
zentrale Problem. Mit dem "Kampf gegen den Terror" hat es aber nichts
zu tun, wenn Israel dessen Hubschrauber bombardiert, ihn in Ramallah
festhält und nicht an der Weihnachtsmesse in Bethlehem teilnehmen
lässt. Den gegenwärtigen israelischen Maßnahmen gegen Arafat ging
ein arroganter und paternalistischer Diskurs über den "Charakter von
Arafat" voraus. Wir, die Israelis, nehmen uns die Freiheit, einen
politischen Führer seines Amtes zu entheben und ihn durch einen
anderen zu ersetzen.
Dieser arrogante Diskurs gipfelt in dem paternalistischen Argument, dass "wir
wissen, was für die Palästinenser besser ist". Als Folge plädiert jeder Flügel
des israelischen politischen Spektrums für einen Führer, der seinen speziellen
Zwecken am besten dienen würde. Die "Moderaten" in der Regierung ziehen
einen Moderaten vor - einen, der als Geschäftsmann gekleidet ist und der sich
nach rationalen westlichen Manieren zu benehmen weiß. Die Extremisten
hätten gern einen Hamas-Typen, der ihnen als Vorwand für einen offenen und
blutigen Krieg gegen das "palästinensische Böse" dienen würde. Beiden Lagern
gemeinsam ist die Annahme, dass die Last der drückenden Probleme allein auf
Arafats Schultern liege, während Israel gleichzeitig seiner eigenen
Verantwortung ausweichen könne. Ignoriert wird, dass die israelische
Regierung Arafat und seine Sicherheitskräfte nicht bekämpfen und gleichzeitig
erwarten kann, dass diese wirksam gegen islamische Extremisten im
Autonomiegebiet vorgehen.
Arroganz und Paternalismus liegt jeder Besatzung zugrunde; die israelische
Okkupation bildet keine Ausnahme. Europäische Kolonialherren verhielten sich
ähnlich. Die einheimische Bevölkerung galt als minderwertig und primitiv und
besaß keinerlei individuelle oder kollektive Rechte auf ein eigenes Heimatland.
So sah es auch in Israel/Palästina seit dem Beginn der Kolonisierung des
Landes aus. Auch durch das Osloer Friedensabkommen war keine wirkliche
Veränderung erkennbar. Das Land gehört uns, den Israelis, wir sind seine
Herren; die Palästinenser müssen mit dem zufrieden sein, was wir ihnen
anbieten. Man "überließ" Arafat Jericho und Gaza und gewährte ihm eine
Probezeit. Sollte er den Test bestehen, würde er mit zusätzlichem Land
belohnt - wenn nicht, würde der Prozess angehalten, wie Rabin öffentlich
verkündigte. Von Arafat wurde erwartet, das zu gewährleisten, was die
israelische Armee nicht zu Stande brachte: Sicherheit für Israel. Von der
Sicherheit und Unabhängigkeit des palästinensischen Volkes allerdings war
keine Rede. Arafats Macht basierte nicht so sehr auf dem Willen seines Volkes
und dessen legitimen Rechten, sondern auf Israels Einwilligung. Eine
Ausweisung bzw. Vertreibung Arafats ist also keineswegs undenkbar.
Was hat Israel im Zuge des Oslo-Prozesses als Gegenleistung gebracht? Einige
größere palästinensische Städte wurden freigegeben - und ein wenig Land in
deren unmittelbarer Nachbarschaft. Gerade so, wie es Israel passte. Man
gestattete Arafat, Regierungsbeamte einzusetzen und Polizisten aufzustellen,
verweigerte ihm aber zusammenhängende Gebiete und territoriale
Souveränität. Weder verzichtete Israel auf militärische Kontrolle, noch
ermöglichte es die Schaffung eines palästinensischen Staates oder gewährte
wirtschaftliche Unabhängigkeit. Man zog sich nicht zu den Grenzen von 1967
zurück und trug nichts zu einer Lösung der besonders schwierigen Probleme
bei - wie etwa Jerusalem oder die palästinensischen Flüchtlinge. Nicht einmal
den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten hat Israel beendet oder auch nur
zeitweilig unterbunden.
Wenn wir, die Israelis, unsere Arroganz und unsere Position als
Besatzungsmacht nicht überdenken, wird sich die gegenwärtige Spirale des
Blutvergießens nur noch schneller drehen - mit oder ohne Arafat. Europa, das
einst gleichsam zum Zeugnis für die Arroganz der Besatzung bzw.
Kolonialisierung wurde, sollte nicht den Fehler begehen und diese Haltung aufs
Neue einnehmen - selbst dann nicht, wenn es sich um den jüdischen Staat
handelt. Eine internationale Intervention, um Scharon Einhalt zu gebieten, ist
dringend nötig um beider Völker willen, der Palästinenser genauso wie der
Israelis.
Lev Grinberg
Entnommen aus: www.nahost-politik.de/israel/besatzung.htm
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