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Israels politische Ökonomie und globale Militarisierung

Von Lev Grinberg

Während der 1990er meinten prominente neomarxistische Soziologen, daß der israelisch-palästinensische Friedensprozeß Teil eines umfassenderen Wandels der israelischen Volkswirtschaft sei, hin zu mehr Liberalisierung und Privatisierung. Die Einführung neoliberaler Politik in eine weitgehend zentralisierte und subventionierte Wirtschaft wurde mit dem Interesse israelischer Investoren erklärt, an der Weltwirtschaft teilzuhaben. Deswegen sei die Wirtschaftelite an einer Annäherung an die arabischen Länder interessiert, um neue Märkte für israelische Produkte zu erschließen und Israel für internationale Investoren attraktiv zu machen. Die Anerkennung der PLO, die Osloer Abkommen und die Dekolonisierung Palästinas waren gemäß dieser Analyse, zentrale Anliegen der Wirtschaftselite und hätten entsprechend neue friedliche Beziehungen zu den Palästinensern hervorbringen müssen.

Der neoliberale Wandlungsprozeß in Israel begann 1985 mit der Umsetzung eines auf falschen Annahmen beruhenden Plans zur ökonomischen Stabilisierung und wurde seit 1989 verstärkt durch das GATT-Abkommen und das Ende der Sowjetunion. 1992 gewann die Arbeitspartei die Wahlen. Mit dem Versprechen, die Besatzung zu beenden und einen Friedensvertrag zu erreichen, hatte sie die Mehrheit der Stimmen der Mittel- und Oberschicht mobilisieren können, die am zunehmenden Globalisierungsprozeß teilhaben wollten.

Diese Theorie erschien sehr vielversprechend, elegant und plausibel, untermauert durch umfangreiche wirtschaftliche und politische Fakten. Es war sehr leicht, den Liberalisierungs- und Privatisierungsprozeß nachzuweisen, wie auch die aktive Unterstützung der Wirtschaft für die Arbeitspartei und den friedlichen Ausgleich; auch die Vorteile aus dem Friedensprozeß für die wirtschaftliche Elite waren ebenso offensichtlich wie die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich und die Beschneidung des Wohlfahrtsstaates. Diese Trends der wirtschaftlichen Entwicklung setzten sich jedoch auch nach dem Scheitern des Friedensprozesses fort; die Wirtschaftselite unterstützt auch die neue Regierung, deren neoliberale Politik und indirekt auch die Unterdrückung der Palästinenser.

Warum hat die Elite die Unterstützung des Friedensprozesses aufgegeben?

Was war also falsch an der neomarxistischen Analyse des Friedensprozesses? Warum hat die bürgerliche Elite ihre Unterstützung für den Friedensprozeß aufgegeben? Theoretisch greift die neomarxistische Analyse zweifach zu kurz:
  1. Daß Neoliberalismus und Globalisierung Nationalismus, Militarismus, Kolonialismus und Imperialismus widersprächen, ist zwar ganz klar Teil der liberalen und neoliberalen Ideologie, entspricht jedoch kaum deren Praxis. Nach dem Ende der Sowjetunion erwies sich die hegemoniale Stellung der USA immer deutlicher als durch deren militärische Übermacht bedingt, die sie mit der weltweiten Koalition gegen Saddam Husain und dem Anspruch auf eine neue Weltordnung auf Grundlage US-amerikanischer Übermacht unterstrich. Dieser Prozeß kann als globale Militarisierung bezeichnet werden, d.h. die militärische Hegemonie der USA und die Legitimierung dieser Hegemonie durch Kriege gegen reale und imaginierte Bedrohungen der "modernen, westlichen, freien und demokratischen Welt". Nach dem 11. September hat die hegemoniale Militärmacht USA mit der Sprachregelung vom "globalen Krieg gegen den Terror" ihre wirtschaftlich dominante Position legitimiert. In dieser neuen, global militarisierten Weltordnung kommt Israel im Nahen Osten eine zentrale Rolle als lokaler Verbündeter der weltweiten US-amerikanischen Militärdominanz zu. Dies ist alles andere als ein vielversprechender Prozeß im Hinblick auf friedliche Verhandlungslösungen der regionalen Konflikte.
  2. Der vernachlässigte unabhängige Einfluß von Politik und staatlichen Institutionen: Die Eliten werden als diejenigen gesellschaftlichen Kräfte gedeutet, die allein die Entwicklung einer Gesellschaft bestimmen und ihre Fähigkeit, die eigenen Interessen innerhalb der staatlichen Strukturen politisch zu artikulieren und durchzusetzen, wird als Tatsache angenommen. Dies ist ein unhistorischer und apolitischer Ansatz, der Veränderungen staatlicher Politik nicht wirklich erklären kann - nur im Nachhinein als Ausdruck von Eliteninteressen - und damit eine Art Tautologie. Denn wirtschaftliche Eliten profitieren generell von der staatlichen Politik aufgrund ihrer strukturellen Position und nicht wegen ihrer Fähigkeit, direkten Einfluß auf die Politik zu nehmen.
Um die aktuellen Trends in der israelischen Politik verstehen zu können, muß analysiert werden, wie politische Ziele von staatlichen Institutionen und Parteien seit 1985 vertreten wurden und Israels Integration in die Weltwirtschaft neu interpretiert werden. Das herausragendste politische Phänomen der 1990er ist das völlige Scheitern der Arbeitspartei, eine Politik zu gestalten, die einen politischen Kompromiß mit den Palästinensern ermöglicht hätte. Darüber hinaus verfolgt die Likud-Regierung seit 2001, in einer von Gewalt geprägten Zeit, eine aggressive neo-liberale Politik. Diese Situation hat sich als sicherstes Instrument dafür erwiesen, Protest und breite politische Mobilisierung in Israel zu behindern. Augenscheinlichstes Beispiel dafür waren zwei kurze Perioden im Dezember 2001/Januar 2002 und im Juli/August 2003, als die Palästinensische Behörde einen Waffenstillstand erklärt hatte. In beiden Phasen formierte sich eine weite Protestbewegung in Israel, in der ersten gegen die militärische Unterdrückung der Palästinenser, in der zweiten gegen die neo-liberale Regierungspolitik - durch erneut eskalierte Gewalt wurde die Protestbewegung abrupt beendet.

Strategie der Arbeitspartei vor der Staatsgründung

Durch eine kurze Analyse der politischen Ökonomie Israels, versuche ich hier eine alternative Erklärung für die aktuelle politische und wirtschaftliche Entwicklung. In der historischen Entwicklung der israelischen Gesellschaft war die politische Ökonomie stets aufs engste mit den konfliktreichen Beziehungen zwischen Juden und Palästinensern verbunden und wurde durch politische Parteien und militärische Institutionen vermittelt. Internationale wirtschaftliche und politische Entwicklungen hatten entscheidenden Einfluß auf die Innenpolitik, obwohl sie stets durch lokale politische Konstellationen vermittelt und verändert wurden. In den 1930er Jahren wurde die zionistische Arbeitspartei zur dominierenden politischen Kraft aufgrund ihrer Fähigkeit, die effektivste Strategie zur Integration jüdischer Einwanderer aus Europa zu entwickeln: politische Kontrolle der Märkte und Verdrängung der Palästinenser von ihrem Land sowie die gleichzeitige Bereitschaft zu territorialen Kompromissen aufgrund "demographischer Realitäten". Die Arbeitspartei war am besten in der Lage, diese Strategie zu entwerfen und umzusetzen, weil sie sowohl die Interessen der unteren Einkommensschichten vertrat - v. a. die Verdrängung der Palästinenser vom Arbeitsmarkt - und weil sie durch Spenden westeuropäischer und amerikanischer Juden starke Wirtschaftsorganisationen aufbauen konnte. Die jüdische bürgerliche Elite in Palästina lehnte diese Politik ab, weil sie von der wirtschaftlichen Schwäche der Araber - billige Arbeitskraft und abhängige Kleinhändler - profitierte.

Die Rolle des Militärs

Der Krieg von 1948 und die Vertreibung der palästinensischen Araber aus 78 Prozent des Mandatsgebiet Palästina bedeutete den vollständigen Erfolg der zionistischen Strategie der Arbeitspartei. Zwischen 1933 und 1977 wurde die israelische Politik von der Arbeitspartei bestimmt und die Wirtschaft stand unter straffer politischer Kontrolle und zentraler Planung. Dennoch vollzogen sich nach 1948 tiefgreifende Wandlungsprozesse in der israelischen Gesellschaft aufgrund dreier entscheidender Faktoren: die Wiedergutmachungszahlungen von Deutschland, die Einwanderung von Juden aus arabischen Ländern und die Ausdehnung der Grenzen Israels auf das gesamte historische Palästina (nach 1967). Daraus folgte ein völliger Wandel der ethnischen Zusammensetzung der unteren Einkommensschichten, während die Arbeitspartei zunehmend die Vertreterin der wirtschaftlichen Eliten und der aschkenasisch-europäischen Mittelklasse wurde.

Folge dieses gesellschaftlichen Wandels war die Etablierung eines gewichtigen Oppositionsbündnisses, des Likud. Dieser würde die Ziele des expandierten israelischen Staates besser vertreten. Er verfügte über eine Ideologie zur Legitimierung der Besatzung der Westbank und des Gazastreifens und diente den Interessen aller Klassen der jüdischen Gesellschaft: Die Ober- und Mittelschicht profitierte von der Abhängigkeit der Palästinenser; die Unterschicht profitierte von ihrem privilegierten und geschützten Status gegenüber palästinensischen Arbeitern. Die staatliche Institution, die diese neue Strategie vertreten und durchsetzen konnte, war das Militär, das die Interessen aller Israelis schützt: Es schützt Arbeiter und Unternehmer vor dem "freien Wettbewerb" mit palästinensischen Erzeugnissen und Arbeitern und sichert die wirtschaftliche Expansion und Entwicklung. Das Militär wurde auch aufgrund der verstärkten Militärhilfe durch die USA seit den 1970ern - bedingt durch den Kalten Krieg und den Rückzug aus Vietnam - zu einem entscheidenden Wirtschaftsfaktor. Dem militärischen Establishment gelang es, nach 1967 seine wirtschaftlich zentrale Rolle durch die Kontrolle des Sicherheitsapparates und des Verkehrs von Arbeitskraft und Produkten zwischen Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten auszubauen.

Die militärische Kontrolle über die Westbank und den Gazastreifen schwächte auch die fragile Demokratie im israelischen Kernland. Die Rolle politischer Parteien war nicht die Vertretung von Klasseninteressen, sondern - mit Rückendeckung des Militärs - darauf beschränkt, die neue offizielle Politik der militärischen Besatzung zu legitimieren. Der Unterschied zwischen Arbeitspartei und Likud reduzierte sich somit auf verschiedene Mythen und Diskurse zur Mobilisierung ihrer jeweiligen Wählergruppen. Die Arbeitspartei rechtfertigte die Besatzung mit einem rationalen Sicherheitsdiskurs, der das Selbstbild der aschkenasischen säkularen Mittelklasse widerspiegelte; und der Likud benutzte den religiösen Mythos vom gelobten Land, um die Unterschicht, d.h. die orientalischen Juden und das nationalreligiöse Milieu, zu mobilisieren. Dennoch haben beide Parteien in Regierungsverantwortung eine ähnliche Politik verfolgt: Beide hielten die Besatzung aufrecht, erweiterten die Siedlungen und verhinderten die Anerkennung palästinensischer Rechte. Zeitweise bildeten sie Regierungen der "nationalen Einheit" (1967-70, 1984-90).

Strategieänderung

Warum wurde also diese neue Strategie zu Beginn der 1990er Jahre aufgegeben? Die Strategie territorialer Expansion und wirtschaftlichen Wachstums durch Investitionen in den Sicherheitsapparat wurde zunehmen unproduktiv und führte zwischen 1974 und 1985 zur Destabilisierung durch eine Finanzkrise und Hyperinflation. Als von der neuen Likud-Regierung 1977 eine wirtschaftsliberale Politik verfolgt wurde, verschlechterte sich die Situation zu einer Hyper-Inflation, die nur durch eine Regierung der nationalen Einheit eingedämmt werden konnte, die eine neoliberale Wirtschaftspolitik einführte, Subventionen und Staatsausgaben (v.a. das Sicherheitsbudget) kürzte und dadurch das Staatsdefizit reduzierte und die Preise stabilisierte. Diese neoliberale Wirtschaftspolitik wurde jedoch unter den Vorzeichen des Libanonkrieges eingeführt, als die Vormachtstellung des Militär sowohl in den Augen der israelischen Bürger als auch der Palästinenser geschwächt war. Der Ausbruch der Intifada 1987 verursachte neue Verluste sowohl für das Militär als auch für die israelische Wirtschaft und die militärischen und wirtschaftlichen Eliten entwickelten zur gleichen Zeit eine neue Strategie zur Reduzierung der Kosten der Besatzung, zur Befriedung der Palästinenser und der Integration Israels in die Weltwirtschaft.

Es stellte sich nun die Frage, wer diese neue Strategie politisch würde umsetzen können. In einer demokratischen Gesellschaft, wie gefährdet oder parteiisch sie auch sein mag, werden Entscheidungen von Politikern getroffen und die Risiken werden von ihnen getragen, nicht vom Militär oder der bürgerlichen Elite, die zwar über strukturelle Macht verfügen, aber keine direkten Entscheidungen treffen können. Der Likud konnte die liberale Politik gegenüber den Palästinensern nicht vertreten, weil er dem nationalreligiösen Diskurs eines Großisrael verpflichtet ist, während die Arbeitspartei in dieser Hinsicht einen politischen Wandel aufgrund ihres Sicherheitsdiskurses vertreten konnte. Yitzhak Rabin war die geeignetste politische Führungspersönlichkeit, weil er zwischen 1984 und 1990 Sicherheitsminister gewesen und seit 1990 der Verfechter der Interessen des Militärs und der Ober- und Mittelklasse in der Arbeitspartei geworden war. Er gewann die parteiinternen Vorwahlen der reformierten Arbeitspartei und führte sie 1992 zu einem beispiellosen Sieg in den Parlamentswahlen. Rabin begann einen politischen Prozeß und entwarf eine Wirtschaftspolitik, die die Interessen der militärischen Elite (Senkung der Besatzungskosten) und der wirtschaftlichen Eliten (Erschließung der Weltmärkte und internationaler Investitionen) vertrat.

Der Friedensprozeß und die Abhängigkeit der Palästinenser von Israel

Der sogenannte "Osloer Friedensprozeß" hat jedoch nie einen Prozeß der Dekolonialisierung in Gang gesetzt. Im Gegenteil, er verstärkte die Abhängigkeit der Palästinenser von der israelischen Wirtschaft und die Auswirkungen der militärischen Besatzung auf ihren Alltag. Die Liberalisierung der Besatzung gelang durch die Vereinnahmung der PLO-Führung und ihrer militärischen Einheiten für eine Kooperation mit dem israelischen Militär und der israelischen Wirtschaft. Die Osloer Abkommen ermöglichten der PLO die Bildung einer schwachen nationalen Selbstverwaltung in wenigen begrenzten Gebieten der Westbank und des Gazastreifens umgeben von israelischem Militär und Siedlungen. Die Siedlungen wurden ausgebaut, die militärische Kontrolle verstärkt und die Bewegungen von palästinensischen Arbeitern und Waren blieb weiterhin unter israelischer Kontrolle. Letztlich legitimierte der Friedensprozeß die fortgesetzte militärische und wirtschaftliche Abhängigkeit der Palästinenser von Israel.

Zwischen 1992 und 1996 boomte die israelische Wirtschaft, wuchs und verringerte die Arbeitslosigkeit durch nationale und internationale Investitionen, die von dem Friedensprozeß angeregt wurden. Israel wurde Teil der Weltwirtschaft: neue Märkte wurden erschlossen, zu ersten Mal wurden internationale Investitionen in Israel getätigt - nicht als Finanzhilfen, sondern als Investitionen für private Gewinne - und Arbeiter aus zahlreichen Dritte Welt Ländern wurden nach Israel geholt, um in Niedriglohnbereichen des Arbeitmarktes zu arbeiten und damit den Platz palästinensischer Arbeiter aus den besetzten Gebieten einzunehmen. Die neo-marxistische Deutung des Friedensprozesses als Ausdruck der Profitinteressen der bürgerlichen Elite konnte in diesen Jahren durch offenbare Fakten gestützt werden.

Der "imaginäre Frieden"

Der Oslo-Prozeß wurde zum Traum der bürgerlichen Eliten Israels; der Frieden schien greifbar, während die Osloer Verträge jedoch die Fortsetzung der Besatzung und den Ausbau der Siedlungen durch strukturelle Entwicklungen legitimierten, die als "Friedensprozeß" bezeichnet wurden. Ich habe diesen Prozeß, der die Besatzung fortbestehen ließ und sie darüber hinaus legitimierte, als "imaginären Frieden" bezeichnet. Aber auch Imagination hat immer politische Auswirkungen; in diesem Fall wurde das "alte" politische System obsolet und durch ein neues System ersetzt, das auf einem imaginären Frieden und einer neuen politischen Tagesordnung beruht. Diese neue Tagespolitik ist bestimmt von Debatten über - politische, soziale, kulturelle, zivilgesellschaftliche und religiös-säkulare - Szenarien für die Ära nach einer Beendigung des Konflikts.

Seit der Ermordung Rabins im November 1995 ging in zwei aufeinanderfolgenden Wahlen (1996 und 1999) der Stimmenanteil der zwei "großen nationalen" Parteien Likud und Arbeitspartei von 66 auf 33 Prozent zurück. Seitdem ist die politische Bühne von Parteien bestimmt, deren Programme auf Szenarien für die Zeit nach Beendigung des Konflikt ausgerichtet sind, während das etablierte politische System nicht in der Lage war, den sogenannten "Friedensprozeß" weiterhin durchzusetzen. Der israelische Ministerpräsident Ehud Barak reiste zum Gipfel von Camp David, als seine Regierungskoalition bereits in Auflösung begriffen war und wurde von zwei Parteien getragen, die in der Knesset über nur 25 Prozent der Sitze verfügten. Mein Argument ist schlicht und einfach: Selbst wenn das Militär und die bürgerlichen Eliten einen möglichen Kompromiß mit der PLO unterstützt hätten, wären sie doch von der politischen Umsetzung dieser Politik durch die Parteien angewiesen gewesen, die sich in dieser Hinsicht jedoch als unfähig erwiesen. Dennoch verfügten Militär und bürgerliche Elite über die strukturelle Macht, auch von einem Wiederaufflammen der Gewalt zu profitieren.

Besatzung und Gewalt ebneten den Weg für die neoliberale Politik

Nach dem Scheitern von Camp David gipfelten die Spannungen zwischen der von den Palästinensern erwarteten eigenen Unabhängigkeit und den Tatsachen ihrer vertieften Abhängigkeit und der Ausweitung der Siedlungen in Massenprotesten im Oktober 2000, die vom israelischen Militär gewaltsam unterdrückt wurden. Diese neue Situation der gewalttätigen Konfrontation zwang Barak, Neuwahlen auszurufen und begünstigte den Sieg Ariel Sharons im Februar 2001. Der Kandidat des Likud war bestens in der Lage, die neue Agenda repressiver Politik zu vertreten. Das Wiederaufflammen der Gewalt verursachte jedoch eine schwere wirtschaftliche Krise und das Finanzministerium setzte umfassende Sparmaßnahmen durch, um den Staatshaushalt auszugleichen. Seitdem hat die neoliberale Politik den israelischen Wohlfahrtsstaat stark eingeschränkt. Wie zu erwarten war, hat diese Politik dennoch nicht dazu beigetragen, die Probleme rückläufiger Investitionen, wirtschaftlicher Rezension und steigender Arbeitslosigkeit zu beseitigen, die durch die instabile politische Lage und die allgemeine Verunsicherung verursacht wurden.

Überraschenderweise stieß diese ausgewiesen neoliberale Politik kaum auf wirklichen Widerstand, selbst als sie ganz offensichtlich zu Lasten der unteren Einkommensschichten ging und die Arbeitslosigkeit unter den Anhängern des Likud steigen ließ. Der Hauptgrund für das Fehlen jeglichen Widerstands ist die Mobilisierung der öffentlichen Meinung durch die Konfrontation mit den Palästinensern, die die Durchsetzung der drastischsten Wirtschaftspolitik ermöglichte. Anders gesagt, es passierte das genaue Gegenteil dessen, was die neo-marxistischen Theorien vorausgesagt hatten: Besatzung und Gewalt ebneten den Weg für die neoliberale Politik. Die bürgerlichen Eliten profitierten von dieser Politik und unterstützten die Regierung, obwohl sie in einer Friedenssituation noch mehr Profite gemacht hätten.

An dieser Stelle muß auf internationale Entwicklungen eingegangen werden: Von dem Augenblick an, als Präsident Bush den "Krieg gegen den Terror" ausrief - zwischen Gut und Böse - wurde Sharon zum Guten und Arafat zum Bösen erklärt und Israel sprang auf den Kriegszug auf, wie es vorher noch auf die Option Frieden gesetzt hatte, die von den Präsidenten Bush sen. und Clinton vorgegeben worden war. Jede Zeit hat ihre eigene Option und Profitchancen. Als sich die Welt zum Krieg rüstete, wurde Israel Teil dieser globalen Militarisierung, erhielt US-Kredite und Garantien sowie diplomatische Rückendeckung. Der israelischen Politik gelang es, sich an die internationalen Entwicklungen anzukoppeln. Die Erwartungen, daß nach dem Ende der Sowjetunion der Globalisierugsprozeß friedlich verlaufen werde, waren unrealistisch und die Ereignisse in Israel sind in dieser Hinsicht ein Mikrokosmos der internationalen Entwicklungen. Die US-amerikanische Wirtschaftshilfe machte nach 2000, wie in den 1970ern, Krieg für die Wirtschaftseliten profitabel, wie es die Option Frieden in den 1990ern gewesen war. Die kurze Zeitspanne zwischen 1992 und 2000 spiegelte viel mehr eine neue politische Option der USA wider als einen grundlegenden Wandel der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern.

Leider waren neo-marxistische Interpretationen des Friedensprozesses zu optimistisch und nahmen fälschlich an, daß die bürgerliche Elite auf Grundlage ihrer ökonomischen Interessen Israel zum Frieden führen würde. Weder in Israel noch weltweit optiert die wirtschaftliche Elite für Frieden oder Krieg, sondern lediglich für Profite. Politik und Krieg haben ihre eigenen Dynamiken, die nicht unbedingt von Kapitalinteressen bestimmt werden. Die Macht von Politikern ist immer lokal, temporär und von politischen Umständen abhängig, die Macht der Wirtschaftseliten ist global und strukturell. Deshalb können sie sowohl von Krieg als auch von Frieden profitieren. Das Schicksal der Menschen und Soldaten im Krieg ist eine andere Frage.

* Lev Luis Grinberg, Politischer Soziologe, Ben Gurion Universität des Negev, Beersheba (Israel)


Dieser Beitrag erschien in: inamo (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Nr. 38, Juni 2004

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