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Wem gehört Jerusalem?

Beiträge zur Geschichte und Gegenwart der umkämpften heiligen Stadt

Die Friedensverhandlungen in Camp David im Sommer 2000 sind nicht zuletzt wegen der Jerusalem-Frage gescheitert. Die nachfolgenden Beiträge zur politischen und religiösen Bedeutung dieser geschichtsträchtigen Stadt für Israelis und Palästinenser sollen etwas zum Verständnis der Problemlage beitragen - obwohl es auch nur Streiflichter sein können.

Festkrallen auf heiligem Boden

Zwischen 1948 und 1967 war Jerusalem getrennt. Der 38 Quadratkilometer umfassende Westteil stand unter israelischer Kontrolle. Der Osten mit der Altstadt, rund 6 Quadratkilometer, stand unter jordanischer Kontrolle. Nach der Eroberung im Sechs-Tage-Krieg verdreifachte Israel das Stadtgebiet, mehrheitlich mit der Annexion von Land in Cisjordanien. Die israelische Stadtplanung verfolgtes das Ziel, in ganz Jerusalem eine jüdische Bevölkerungsmehrheit zu erreichen. Aus diesem Grund wurden die arabischen Bevölkerungszentren in der Nähe Jerusalems, etwa das Dorf Abu Dis, nicht zum Stadtgebiet erklärt. Ein Drittel der nach 1967 annektierten rund 70 Quadratkilometer grossen Landfläche wurde enteignet, meist von palästinensischen Privatbesitzern. Die spätere Nutzung kam ausschliesslich jüdischen Bewohnern zugute. Die in Jerusalem wohnhaften Palästinenser wurden israelischem Recht unterstellt. Ihnen ist nur gerade auf sieben Prozent der Fläche Ostjerusalems der Wohnungsbau gestattet, was zu einer enormen Wohnungsnot unter den nichtjüdischen Bewohnern Jerusalems geführt hat. Palästinensische Einwohner Jerusalems, die wegen fehlenden Wohnraums auf cisjordanisches Gebiet umgezogen sind, verlieren nach kurzer Zeit das Aufenthaltsrecht in Jerusalem. Obwohl die Palästinenser Jerusalems demselben Steuerregime wie alle andern Bewohner der Stadt unterliegen, wird die Infrastruktur in ihren Wohnvierteln vernachlässigt. So stehen beispielsweise in Westjerusalem 36 Schwimmbäder zur Verfügung, in Ostjerusalem keines. Von den offiziell 634 000 Bewohnern der Stadt sind rund 200 000 Palästinenser. Etwa gleich viele Juden leben heute in Stadtteilen im Osten, die nach 1967 annektiert worden sind.
Quelle: The Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 29. September 2000

Umkämpfte Altstadt

Laut den Angaben des Architekten Nazmi al-Jubeh, Direktor der privaten palästinensischen Kulturgüterschutz-Organisation Riwaq, wohnen derzeit in der nur gerade einen Quadratkilometer umfassenden Altstadt rund 35 000 Personen. Davon sind rund 2000 Juden und etwa 5000 Christen. Vor 1948 befand sich 0,9 Prozent des Bodens in jüdischem Besitz. Unmittelbar nach der israelischen Eroberung der Altstadt 1967 wurde das an die Klagemauer grenzende Mughrabi-Quartier von israelischen Bulldozern niedergerissen, um vor dem wichtigsten Heiligtum der Juden eine offene Fläche zu schaffen. Über hundert palästinensische Familien verloren damals ihren Wohnsitz. Wenige Monate später wurden die Grenzen des jüdischen Quartiers auf Kosten palästinensischer Anwohner stark ausgeweitet. Derzeit sind 11,7 Prozent der Altstadtfläche unter jüdischer Kontrolle; davon liegen 87 Gebäude ausserhalb des jüdischen Viertels. In manchen Fällen verfügen jüdische Einzelpersonen oder Organisationen nicht über die Eigentumstitel eines Gebäudes, wohl aber das Benutzungsrecht. Nach Jubehs Angaben lag bei den Verhandlungen in Camp David ein Vorschlag zur Teilung der Altstadt auf dem Tisch. Danach wären das jüdische und das armenische Quartier israelischer Souveränität unterstellt worden.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 29.09.2000

Die Heilige Stadt in der Hand der Frommen

Jerusalems Altstadt und die Nähe zu Gott

Die Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern sind ob dem Streit über die Kontrolle Jerusalems festgefahren. Mit der Klagemauer, der Grabeskirche Jesu und dem Felsendom ist die in Ostjerusalem gelegene Altstadt Juden, Christen und Muslimen gleich heilig. Alle nehmen für sich in Anspruch, zuerst da gewesen zu sein.

Jerusalem, im September
«Frieden,» sagt Luei und hebt mit einer müden Kopfbewegung ein wenig sein Kinn, «hör doch auf damit. Die Juden wollen gar keinen Frieden. Von meinem Haus aus habe ich freie Sicht auf den Felsendom, und sie verbieten mir, dorthin zu gehen. Soll das Friede sein?» Luei ist Palästinenser, 31-jährig, seit zwei Monaten Vater und lebt im Dorf Abu Dis vor den Toren Ostjerusalems im wohl schönstgelegenen Haus weit und breit. Lueis Vater, ein ehemaliger Polizist in jordanischen Diensten, hatte für sich und seine vier Söhne gleich hinter dem Ölberg auf dem letzten unverbauten Hügel einen Familiensitz gebaut. Von dessen einer Terrasse reicht der Blick über das Jordantal hinweg nach Osten, wo in klaren Nächten die Lichter Ammans zu sehen sind. Der andern Terrasse gegenüber erhebt sich der Tempelberg oder Haram ash-Sharif (das Gebiet der Aksa-Moschee und des Felsendoms), abgegrenzt im Westen durch die Klagemauer. Und irgendwo im Gewimmel der Altstadtdächer wäre noch die Grabeskirche Jesu auszumachen.

Mangelnde Flexibilität?

Lueis Schwestern und seine drei älteren Brüder leben in den USA. Seit dem Tod ihres Mannes hält sich Lueis Mutter nun meist bei ihren Kindern und Enkeln in der Suburbia von Chicago auf. Als jüngstes der acht Kinder harrt Luei als Letzter am Stammsitz der Familie aus. Doch nicht mehr für lange, sagt er. Eine Aufenthaltsbewilligung für die USA hat er längst im Sack. Und er beteuert hoch und heilig, dass ihn gar nichts mehr hier halte, obwohl sein neu eröffneter Schnellimbissstand an der staubigen Dorfstrasse in Abu Dis eigentlich ganz gut floriert. Es ist nicht das Geld, das ihn in die Emigration lockt, auch nicht der American way of life. Nein, Luei hat schlicht und einfach die Nase voll von dem Wahnsinn, der sich in und um die Heilige Stadt abspielt. «Ist es etwa normal, dass ich als Palästinenser, hier geboren und aufgewachsen, ohne israelische Bewilligung nicht nach Jerusalem darf, in die Stadt, in der ich jeden Winkel kenne? Ist es normal, dass Millionen von Frommen aus der ganzen Welt hierher reisen dürfen, während mir der Weg von einem Kilometer Länge bis nach Ostjerusalem verwehrt wird?»

Luei gerät ob der Ungerechtigkeit der Welt so richtig ins Feuer. «Man stelle sich vor», so sagt er, ohne die israelisch-palästinensischen Verhandlungen um Jerusalem in Camp David auch nur zu erwähnen, «jemand stiehlt etwas und weigert sich, die Beute zurückzugeben. Vor dem Richter wirft der Dieb dem Bestohlenen mangelnde Flexibilität vor. Und der Richter, der sich im Laufe der Verhandlungen als guter Freund des Diebes entpuppt, fordert, anstatt Recht zu sprechen, vor den Augen der Welt vom Bestohlenen dasselbe wie der Dieb: mehr Flexibilität. Ist das etwa normal?» Als vor einem Monat auf dem unbebauten Grundstück neben Lueis Haus wildfremde, bewaffnete Männer, alle mit einer Kipa auf dem Kopf, auftauchten und Olivenbaumsetzlinge in den Boden steckten, ahnte der Palästinenser, dass die kommende Zeit schwierig werden könnte. Die Siedler hielten ihm ein Papier unter die Nase, wonach sie rechtmässige Besitzer des Nachbargrundstückes seien, das sich bereits seit sechzig Jahren in jüdischem Besitz befinde. Ausser sich vor Zorn, schrie Luei die bärtigen, mit amerikanischem Akzent sprechenden Männer an, ob sie eigentlich wüssten, wie viel Land in Westjerusalem, ja im ganzen heutigen Israel sich vor sechzig Jahren in palästinensischem Besitz befunden habe.

Palästinensisches Land im Westen

Die Siedler gingen auf Lueis Argumente nicht ein, wohl in der festen Hoffnung, dass in Abu Dis wie in andern an Ostjerusalem angrenzenden Dörfern mitten in palästinensischen Siedlungsgebieten ein weiterer jüdischer Vorposten entstehen wird. In dem von der britischen Mandatsmacht bezeichneten Stadtgebiet Jerusalems befanden sich 1947 nur gerade 24 Prozent der Fläche in jüdischem Besitz. Während des Unabhängigkeitskriegs eroberten die jüdischen Truppen den gesamten Westteil der Stadt, was 84 Prozent der Fläche entsprach. Davon waren aber nur 30 Prozent in jüdischem Besitz. Der Rest war entweder Staatsland, gehörte religiösen Institutionen oder befand sich in privatem palästinensischem Besitz. Unlängst berichtete eine Familie in der palästinensischen Wochenzeitung «Jerusalem Times», wie die Generation ihrer Eltern und Grosseltern während des Kriegs 1948 aus ihrem Haus in Westjerusalem vertrieben worden ist. Die Nachkommen besuchen das Haus gelegentlich und stehen vor dem Gartentor, wo noch die Initialen des Grossvaters eingraviert sind. Laut Feisal Husseini, dem Jerusalemverantwortlichen der PLO, wurden 1948 rund 25 000 Palästinenser aus dem heutigen Westjerusalem vertrieben. Ihre Besitzansprüche konnten sie bisher nie geltend machen.

Diesen Umstand hatten zumindest die palästinensischen Unterhändler im Hinterkopf, als 1993 in Oslo die Verträge zwischen Israel und der PLO formuliert worden sind. Darin wird nämlich festgehalten, dass in einer endgültigen Regelung auch die Jerusalemfrage gesamthaft (und nicht nur Ostjerusalem) gelöst werden müsse. Laut palästinensischen Angaben stehen so symbolträchtige Bauten wie die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und die Knesset auf enteignetem palästinensischem Privatland. Kürzlich erschien im renommierten «Journal of Palestinian Studies» eine Recherche, wonach der Boden, den Israel den USA zum Bau einer Botschaft in Westjerusalem überlassen hat, zu einem guten Teil geflüchteten Palästinensern gehört. Bei den Verhandlungen in Camp David hätten sich die Palästinenser dazu bereit erklärt, ihre Ansprüche im Westen der Stadt an Israel abzutreten, schrieb Husseini unlängst in der «Washington Post». Im Gegenzug verlangten sie palästinensische Souveränität über Ostjerusalem und damit über die Altstadt, mit der ausdrücklichen Zusage, sämtliche heiligen Stätten allen Gläubigen offen zu halten.

Was aber geschieht mit jenen Heiligtümern, die noch nicht zugänglich sind, weil sie irgendwo, tief unter anderem historischem Bauschutt, erst noch ihrer Entdeckung harren? Die Frage mag reichlich absurd tönen. Wer immer auf dem Tempelberg gräbt, stösst aber unweigerlich auf archäologisch bedeutsame Funde. In der Heiligen Stadt dreht sich der Streit um Landbesitz nicht einfach um Boden, sondern letztlich um die Nähe zu Gott: Wir waren zuerst und ihr kamt nachher, nehmen die drei monotheistischen Religionen jede für sich in Anspruch. Der israelische Ministerpräsident Barak hatte in Camp David mit der Forderung überrascht, die Oberfläche des Haram ash-Sharif den Palästinensern zu überlassen, die ganze Unterwelt des heiligen Bezirks jedoch, wo die Ruinen des vor rund 1930 Jahren von den Römern zerstörten zweiten Tempels vermutet werden, israelischer Hoheit zu unterstellen. Die Palästinenser waren dem Vernehmen nach von der israelischen Forderung überrumpelt und vermuten dahinter ein Manöver Baraks, um im religiösen Lager Stimmen zu gewinnen. Arafat ging in den Gesprächen nicht auf die israelische Position ein und handelte sich damit den Vorwurf mangelnder Flexibilität sowohl Israels wie auch des amerikanischen Präsidenten ein.

Strenge Eingangskontrolle

Die grosse Bedeutung des Haram ash-Shari, des Tempelbergs, wird dem Besucher am Eingang zum heiligen Bezirk schnell bewusst. An neun der zehn Eingänge wachen israelische Soldaten und Angestellte der muslimischen Verwaltung (Wakf), dass keine Nichtmuslime eintreten. Die für unbedarfte Besucher reichlich schikanös wirkende Massnahme erfolgt aus Sicherheitsgründen. In der Vergangenheit hatten mehrfach radikale jüdische Extremisten versucht, auf dem Gelände den Grundstein für einen neuen Tempel zu legen, und damit regelmässig Ausschreitungen provoziert. Nichtmuslime erhalten nur noch am streng kontrollierten Eingang unmittelbar neben der Klagemauer Einlass, wo Touristen und christliche Pilgergruppen oft beinah ewige Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Es bietet sich dafür ungewollt die Gelegenheit, den nach Geschlechtern getrennt betenden Juden zuzusehen. Immer wieder bahnen sich ultraorthodoxe Männer, manche in schwarzem Gehrock aus Satin und weissen Kniestrümpfen, eilig einen Weg durch die Menge. Ihr Gehabe soll offensichtlich verraten, dass sie mit Gott in speziell gutem Einvernehmen stehen. Wer als Nichtmuslim dann endlich vor der Aksa-Moschee steht, muss, um einen Blick in dieses architektonisch wenig Aufsehen erregende Bauwerk zu werfen, umgerechnet knapp 20 Franken bezahlen und sich dazu noch von Türhütern des Wakf wie Vieh herumtreiben lassen. Auch ein kleiner Rundgang auf dem Gelände entpuppt sich als ein nicht einfaches Unterfangen. Der Versuch, eine unscheinbare Baustelle westlich des Eingangs zur Moschee anzuschauen, scheitert am wilden Protest eines Wächters, der - es ist bereits der fünfte an diesem Morgen - vom Besucher wissen will, ob er Muslim sei. Die Antwort, dass ihn dies überhaupt nichts angehe, löst wenig Freude beim Fragenden aus. Erst nach langem Palaver lässt er sich erweichen und zeigt die Baustelle, die unmittelbar an die Ostmauer der Stadtumfassungsmauer grenzt und direkt dem Ölberg gegenüberliegt.

Hier arbeiten zahlreiche Freiwillige an einem pompösen Treppenabgang, der zu einem vor kurzem ausgegrabenen Raum führt, den die Juden Ställe Salomos und die Muslime Marwani-Gebetshalle nennen. Die breiten Treppenabgänge führen unmittelbar an die Innenseite der Mauer, wo, so erzählt der nun gesprächig gewordene Aufseher, ein Durchbruch geplant ist. Dieser sei nötig, da am Ende des Ramadan jeweils weit über hunderttausend Personen auf dem Haram beten. Die freiwilligen Arbeiter unterbrechen ihre Tätigkeit gelegentlich mit lauten Worten des Lobes und Dankes an Allah. Alle sind sie bärtig, und manche von ihnen tragen auf der Stirne das Merkmal der Gottesfürchtigen, - ein Flecken aufgerauter Haut, untrügliches Zeichen unzähliger Verbeugungen vor Gott bis auf den Boden.

Wer, von so viel Gottesfurcht beeindruckt, den heiligen Bezirk durch einen der Nordausgänge verlässt, gerät unmittelbar auf die Via Dolorosa. Dort ist die Chance gross, mitten in eine der zahllosen Pilgergruppen zu geraten, die hier auf dem Leidensweg Christi unterwegs sind. Es sind meistens Südeuropäer oder Lateinamerikaner, die, singend und fromm wie Lämmer, von Pfarrherren angeführt werden. Manche der Gruppen tragen ein Holzkreuz mit sich, das jeweils Männer auf ihren Schultern mitschleppen. Es sind mehrheitlich Leute mittleren Alters, die sich an den Souvenirständen vorbei durch die Gassen drängen, bis sie bei der architektonisch ebenfalls unbedeutenden Grabeskirche am Ziel sind. Ihre Blicke verraten die Erfüllung eines lange gehegten Traumes. Und einige verlassen gar rückwärts gehend die Kirche, um Gott nicht den Rücken zukehren zu müssen. Wer nicht fromm ist, so scheint es, hat in dieser Stadt nichts mehr verloren.

Aus: Süddeutsche Zeitung, 29. September 2000

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