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Etwas fern des Rechts

Der deutsche Innenminister erliegt der Faszination von Beton und Stacheldraht, während Ariel Sharon die "Road Map" beerdigt

Von Margret Johannsen*

Otto Schily hatte vermutlich keine Maurerkelle im Koffer, als er nach Israel flog, um auf einem internationalen Antiterror-Kongress den dritten Jahrestag des 11. September zu begehen. Jedenfalls ist nicht bekannt, dass er nach seiner Rede vor 600 geladenen Gästen ins besetzte Westjordanland fuhr, um beim Bau der Mauer - sie wird in Israel auch "Trennzaun" genannt - selbst Hand anzulegen. Die israelischen Erbauer hätten ihn sicher willkommen geheißen. Denn nachdem Ariel Sharon die "Road Map" des Nahost-Quartetts zu Grabe getragen hat, gibt es nur noch einen israelischen Plan: Mit dem Abzug aus dem Gazastreifen will man sich die Zustimmung der USA zu der Absicht erkaufen, die Kontrolle über weite Teile des Westjordanlandes zu zementieren. Dafür ist die Mauer da, und je schneller sie gebaut wird, umso besser. Sie schafft getreu der bewährten zionistischen Devise "Fakten auf dem Boden", die nur schwer rückgängig zu machen sind.

Aber Schily darf sich als Mitglied der deutschen Regierung nicht die Hände schmutzig machen. Denn der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) hat im Frühsommer in seinem Gutachten über die rechtlichen Folgen des Mauerbaus nicht allein deren Errichtung auf palästinensischem Gebiet völkerrechtswidrig genannt und Israel aufgefordert, die bereits errichteten Abschnitte wieder abzureißen sowie Schadenersatz zu leisten. Das Gutachten verpflichtet überdies alle Staaten, die rechtswidrige Situation nicht anzuerkennen, die sich aus dem Bau der Mauer ergibt, und alles zu unterlassen, was dazu führen könnte, die mit der Mauer geschaffene Lage aufrechtzuerhalten.

Wenn auch keine praktische, so hat der gelernte Jurist Schily doch verbale Hilfe geleistet, als er die Mauer im Deutschlandfunk verteidigte und die Kritik an ihr als "etwas fern der Realität" verspottete. Etwas fern der Realität sind Schily zufolge also die Bundesregierung, die EU, die UN-Vollversammlung und der Haager Gerichtshof. Sie alle haben Israels Recht auf Sicherheit vor Terrorismus nie in Abrede gestellt. Aber sie halten die real existierende Mauer für falsch, weil sie auf besetztem palästinensischem Gebiet verläuft. Israel nimmt damit eine De-facto-Annexion vor, missachtet die Menschenrechte der Palästinenser und bricht Völkerrecht.

Die Klarstellungen, zu denen sich Innenministerium und Auswärtiges Amt genötigt sahen, sollten den Schaden aus dem eigenwilligen Umgang des obersten deutschen Ordnungshüters mit international gültigem Recht begrenzen. Schily habe sich nicht zum Verlauf der Mauer geäußert, hieß es. Er befinde sich darum nicht im Widerspruch zur Bundesregierung. Diese habe stets nur kritisiert, dass Israel die Mauer nicht auf eigenem, sondern auf fremdem Boden baue. Israel habe wie jedes andere Land der Welt das Recht, sich gegen Terror zu schützen und eine Mauer zu bauen, wenn es dies aus Sicherheitsgründen für sinnvoll halte. Und nur ihr, der Mauer an sich, habe Schilys Lob der Sperranlage gegolten.

Leider aber gibt es in der Realität, die Schily so am Herzen liegt, keine Mauer an sich. Was die Palästinenser erleben, ist ein monströses Bauwerk, das sie von Land und Wasser abschneidet, in Enklaven einpfercht, ihnen den Lebensunterhalt nimmt und sie in die Emigration treibt, wenn sie glücklicher Besitzer eines Passes sind.

Schily hat in Israel erklärt, man werde den Kampf gegen den islamistischen Terrorismus langfristig nur gewinnen, wenn man den Kampf um die Herzen und Köpfe der Muslime aufnehme. Er will die islamistischen Fanatiker von der breiten Mehrheit der Muslime isolieren. Der lässliche Umgang des deutschen Innenministers mit internationalem Recht aber wird keinen einzigen Palästinenser der "No-future"-Generation davon überzeugen, auf die rechtsstaatlich verfassten Demokratien zählen zu können, wenn es um seine Rechte geht. Worauf aber soll er dann hoffen?

Schily nannte in Israel den islamistischen Terrorismus die größte Gefahr, der sich die gesamte zivilisierte Welt im 21. Jahrhundert gegenüber sehe. Er beschrieb dessen massenmörderische Zielplanung, die gemischte soziale Herkunft der Attentäter, die modernen Kommunikationsmittel - es war offensichtlich, dass er al-Qaida vor Augen hatte. Sollten ihm die Unterschiede zur palästinensischen Hamas wirklich entgangen sein?

Die beiden Attentäter, die vor einigen Tagen in Beersheba 15 Menschen mit sich in den Tod rissen, waren wie Mohammed Atta vermutlich fromme Muslime und waren wie er willens, das eigene Leben als Waffe einzusetzen. Aber anders als Atta mussten sie erleben, zusammen mit 120.000 ihrer Landsleute von ein paar hundert bewaffneten und fanatischen jüdischen Siedlern in ihrer eigenen Stadt als Geiseln genommen zu werden - sie spürten täglich, was es heißt, ohnmächtig zu sein. Solche Erfahrungen und die Erosion der traditionellen Autoritäten, die dieser desillusionierten männlichen Jugend weder Sicherheit noch eine Zukunft bieten können, machen sie empfänglich für radikale Ideologien, die Selbstermächtigung durch Selbstaufopferung fordern. Die Jugend bringt ihre Verzweiflung ein, Hamas sorgt für die Logistik. Die Legitimation beziehen beide - die Attentäter und die Drahtzieher hinter den Anschlägen - aus dem nationalen Befreiungskampf.

Aber natürlich ist Terror nicht die einzige Waffe der Schwachen - eine andere ist das Recht. Dass die Palästinenser so beharrlich auf ihren Rechten bestehen, die ihnen die Staatengemeinschaft - ob nun der UN-Sicherheitsrat, die UN-Vollversammlung oder UN-Menschenrechtskommission - seit Jahrzehnten zuspricht, sollte eigentlich jeden optimistisch stimmen, der wie Schily auf die moralische Stärke und Glaubwürdigkeit des demokratisch verfassten Rechtsstaates setzt, auch im Umgang mit Terror. Die Palästinenser, die wegen des Mauerbaus nach Den Haag gegangen sind, um dort Recht zu bekommen, brauchen Unterstützung. Ansonsten werden die bewaffneten Gruppen Recht behalten, die in der Staatengemeinschaft nur das Recht des Stärkeren am Werk sehen und ihre eigene Schwäche in Stärke verwandeln, indem sie jungen Männern für die gerechte Sache einen süßen und ehrenvollen Tod bereiten.

Nachdem Sharon die "Road Map" beerdigt hat, die bei allen Mängeln immerhin kein Diktat, sondern Verhandlungen zwischen Gleichberechtigten wollte, brauchen die Palästinenser als die schwächere Partei Verbündete noch nötiger. Schily aber ist kein solcher Verbündeter, wenn er - etwas fern des Rechts - der Faszination von Beton, Stacheldraht und Sensoren erliegt, seine Worte in bekannter Streitlust nicht wägt und mit der Verteidigung der Mauer obendrein all denen in Israel in den Rücken fällt, die sich von dem Rechtsgutachten des IGH eine mäßigende Wirkung auf die eigene Regierung erhofft hatten.

* Der Beitrag von Margret Johannsen (Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg-IFSH) erschien am 24. September 2004 in der Wochenzeitung "Freitag"


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