"Freunde sollten auch in der Lage sein, Kritik zu üben"
Dov Khenin, Mitglied der kommunistischen Partei Israels, über die Bundestagswahl und linke Potenziale *
Dov Khenin ist Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Israels und vertritt seit 2006 die Demokratische Front für Frieden und Gleichheit (Chadasch) im israelischen Parlament. Der promovierte Jurist und Politikwissenschaftler ist einer der aktivsten Knesset-Abgeordneten, er engagiert sich seit vielen Jahren sowohl landesweit als auch auf kommunalpolitischer Ebene insbesondere für soziale Gerechtigkeit und politische Partizipation sowie Umweltfragen. Bei den Munizipalwahlen 2008 erhielt er als Direktkandidat für das Bürgermeisteramt in Tel Aviv 34,3 Prozent der Stimmen. Über den Ausgang der Bundestagswahl in Deutschland, linke Potenziale und die deutsch-israelischen Beziehungen sprach Angelika Timm mit ihm.
nd: Die Bundestagswahlen haben in der israelischen Presse ein ausführliches Echo gefunden. Wie lässt sich dieses Interesse erklären?
Khenin: Zweifellos gilt Deutschland, auch in Israel, als wichtigste wirtschaftliche und politische Macht in Europa. Die Wahlen waren daher nicht nur von nationaler Bedeutung, sondern haben Auswirkungen auf ganz Europa.
Wahlen in Deutschland werden stets auch von der israelischen Linken genau analysiert. Verständlich, dass uns und unsere internationalen Partner vor allem die Positionen der deutschen Linken interessieren. Vielfach werden sie als ein Versuch gewertet, nach dem Fall der osteuropäischen Regimes die Linke neu zu etablieren. Das jedoch ist eine Herausforderung an uns alle. Vieles, was unsere Tradition als Revolutionäre, Sozialisten, Marxisten bestimmt, ist weiterhin relevant. Anderes jedoch sollten wir hinter uns lassen – vor allem alle Aspekte des Stalinismus, sei es in der Theorie, sei es in der Praxis. Nichts selten wird die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus von einer »Sozialdemokratisierung« der Linken begleitet. Das lehne ich strikt ab. Die Sozialdemokratie hat sich im 20. Jahrhundert verausgabt, und ich bin mir nicht sicher, ob sie im heutigen Kapitalismus noch einen Platz hat, das heißt ob es noch hinreichend Raum für soziale Kompromisse gibt.
Das Gesagte bestärkt die Forderung, die Linke neu zu etablieren – in klarer Abgrenzung sowohl vom Stalinismus als auch von der Sozialdemokratie. Es existieren linke Potenziale. Junge Menschen, die die Versprechungen der Politiker als inhaltsleer erfahren, suchen nach neuen Antworten. Wenn die Linke es nicht schafft, diese Menschen aufzufangen, driften sie anderweitig ab - in die Politikverdrossenheit oder in Richtung rechter Rattenfänger. Für die israelische Linke ist Deutschland ein Beispiel dafür, dass eine Alternative existiert, das heißt dass es eine breite linke Bewegung gibt, die sich engagiert den Herausforderungen der Gegenwart und unmittelbaren Zukunft stellt.
Im Bundestag existiert eine linke Mehrheit. Führende Politiker von SPD und Grünen halten jedoch jede Zusammenarbeit mit den Linkspartei für ausgeschlossen. Sie, Herr Khenin, sind seit sieben Jahren Knessetabgeordneter für Chadasch, die jüdisch-arabische »Demokratische Front für Frieden und Gleichheit«. Kommt Ihnen eine Politik, die die Linke ausschließt, nicht bekannt vor?
Die Haltung, demokratisch gewählte Linke aus der parlamentarischen Demokratie auszuschließen, ist uns sehr wohl bekannt. Chadasch war über viele Jahre nicht nur wegen ihrer linken Positionen politisch ausgegrenzt, sondern wurde in Parlament und Öffentlichkeit sogar als unpatriotisch oder gar als antipatriotisch verleumdet. Ein Beispiel: Nach dem Sechstagekrieg von 1967 wurde der damalige Generalsekretär der KPI, Meir Vilner, im Parlament von einem Messerstecher hinterrücks angegriffen; Vilner befand sich lange in kritischem Gesundheitszustand. Der Angreifer erhielt eine minimale Strafe, die letztlich besagte, dass die physische Attacke eines rechten Nationalisten auf einen linken Parlamentarier als relativ normal betrachtet wurde.
Wir haben stets gegen die Ausgrenzung angekämpft und die praktische Zusammenarbeit mit anderen gesucht – und mitunter auch gefunden. Seit ich 2006 in die Knesset gewählt wurde, hat das Parlament 49 Gesetze angenommen, die ich eingebracht hatte. Hunderte Abstimmungen in der Knesset und in Knesset-Ausschüssen fanden auf Initiative der Demokratischen Front statt, wurden jedoch von Mitgliedern anderer Parlamentsfraktionen unterstützt.
Das bedeutet freilich nicht, dass alle unsere Positionen geteilt werden. Während des zweiten Libanon- oder des Gaza-Kriegs standen wir allein da bzw. befanden wir uns in Konfrontation mit der gesamten Knesset. Wir haben dennoch nicht aufgehört, nach Wegen für die Zusammenarbeit in konkreten Fragen zu suchen, um wenigstens in kleinen Schritten voranzukommen. So konnten wir beispielsweise dazu beitragen, 2012 ein Gesetz über die Rechte von Gefangenen in israelischen Gefängnissen durchzusetzen - für israelische Verhältnisse gar nicht so einfach. Politische Fehlentwicklung im Parlament oder auf der Straße zu kritisieren, muss stets damit verbunden sein, nach Wegen zu suchen, wie die Realität konkret verändert werden kann, ohne der Illusion zu verfallen, dass die partielle Veränderung bereits das Ziel sei.
Was erwarten Sie von einer neuen Bundesregierung angesichts der »besonderen Beziehungen« zwischen Deutschland und Israel und der Entwicklungen im Nahen Osten?
Ich weiß nicht, was realistisch zu erwarten ist, da noch nicht klar ist, wie die künftige Koalition aussehen wird. Was ich mir aus linker israelischer Sicht von der nächsten deutschen Regierung wünschen würde, wäre eine unabhängigere Nahostpolitik, die sich weniger den amerikanischen Interessen und Ideen unterordnet. Der Nahe Osten ist und bleibt eine höchst wichtige Region. Sollte es hier erneut zu einem Krieg kommen, wäre dieser auch ein europäisches und damit ein deutsches Problem. Deutschland sollte daher ein ureigenes Interesse daran haben, die Lage im Nahen Osten zu deeskalieren - nicht nur hinsichtlich Syriens und Irans, sondern auch in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, der nach wie vor das Kernproblem der nahöstlichen Realität bildet.
Zu den »besonderen Beziehungen«: Die durchaus existenten moralischen Verpflichtungen gegenüber den jüdischen Israelis wahrzunehmen, bedeutet nicht, die abenteuerliche Politik der israelischen Regierung zu unterstützen. Freunde sollten auch in der Lage sein, Kritik zu üben und den Partner in eine gute Richtung zu weisen. Wäre ich Berater der deutschen Regierung, würde ich ihr vor allem empfehlen, unabhängig zu handeln. Gleiches beträfe die EU. Immerhin hat diese neue Richtlinien bezüglich der Siedlungspolitik beschlossen. Das unterstützen wir unbedingt, da es deutlich macht, dass zwischen Israel per se und der israelischen Politik in den besetzten Territorien zu unterscheiden ist. Die Umsetzung der Direktive wird nicht einfach sein. Sie hat jedoch einen hohen Stellenwert, da die Siedlungsprojekte nicht nur dem internationalen Recht widersprechen, sondern auch dem nationalen Interesse der Israelis, einen umfassenden Frieden in der Region zu erreichen, diametral entgegengesetzt sind.
Der israelisch-palästinensische Konflikt hat im deutschen Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt. Sind Sie der Meinung, dass die deutsche Linke diese Frage stärker ins Parlament und in die Öffentlichkeit einbringen sollte?
Die deutsche Linke sollte sich permanent mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt beschäftigen, aus dem Gefühl der Solidarität heraus, insbesondere jedoch mit Blick auf die ureigensten Interessen der deutschen Gesellschaft. Der Nahostkonflikt ist und bleibt auch ein europäisches und damit ein deutsches Problem. Doch ich betone nochmals: Sich dem israelischen Volk gegenüber verpflichtet zu fühlen, bedeutet nicht, sich der israelischen Regierung gegenüber in der Pflicht zu sehen. Im Gegenteil. Die Regierungspolitik gefährdet das israelische Volk.
Was würden Sie sich als ein Vertreter der israelischen Linken von der deutschen Linken wünschen? Wie könnten Sie in Ihrem schweren Kampf unterstützt werden?
Die Linke muss auch lernen, zwischen dem Boykott von Siedlungen und dem Boykott aller Israelis zu unterscheiden. Der Boykott des Siedlungsprojekts hilft uns, die Öffentlichkeit gegen die nationalistische Politik zu mobilisieren. Der pauschale Boykott ganz Israels dagegen hilft nur den Rechtskräften im Lande. Diese können argumentieren, dass nicht die Siedlungen oder der Konflikt das Problem seien, sondern der weltweite Antisemitismus. Die meisten Israelis, schon gar nicht die Kriegs- und Siedlungsgegner, die Friedensaktivisten oder die Vorkämpfer für israelisch-palästinensische Verständigung, wollen nicht für die Politik der Regierung in Haft genommen werden, nur weil sie Juden bzw. jüdische oder arabische Israelis sind.
* Aus der Online-Ausgabe des "neuen deutschland", http://www.neues-deutschland.de; In der Printausgabe des nd vom 9. Oktober 2013 erschien das Interview gekürzt unter dem Titel "Ausgrenzung ist Israels Linken sattsam bekannt"
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