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Mutige Grenzgänger

Über Menschen, die ihr Land lieben und die wissen, dass die Palästinenser nicht die Feinde sind

Von Ekkehart Krippendorff*

"Über die Zukunft einer anderen Art von Politik" war das Thema einer Konferenz, zu der das Sapir-College knapp 100 Kilometer südlich von Jerusalem und einen Steinwurf von der Grenze zum Gaza-Streifen entfernt eingeladen hatte. Gemeint war damit nicht die Politik gegenüber den Nachbarn und das Problem eines palästinensischen Staates, wie man von Deutschland aus sofort assoziieren würde, sondern etwas ganz anderes: Bildungssystem und Wasserprivatisierungen, Prostitution und Frauenhandel, Gemeindeautonomie gegen zentralstaatliche Gängelung, Sozialstaatsabbau und soziale Netzwerke, Arbeitslosigkeit und Minderheiten...

Israel ist in vieler Hinsicht ein normaler Staat geworden wie andere auch, nur dass hier vielleicht der Thatcherismus rücksichtsloser zugeschlagen hat als anderswo. Die radikale Politik der Privatisierungen, denen sich selbst die sozialistischen Kibbutzim nicht entziehen können, die laut beklagte Zerstörung der Gewerkschaften durch die Likud-Regierung, die legendäre Histradut, die vom Riesen zum Zwerg gemacht wurde. Es war eindrucksvoll zu beobachten, dass in Israel im Widerstand gegen den hemmungslosen Kapitalismus noch eine radikale und sozialistische Sprache gesprochen wird, die es in Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr zu hören gibt. Einige rhetorische Glanzleistungen, auch von Professoren, ließen erkennen, dass sich Meinungsbildung durchaus außerhalb von nivellierenden TV-Talks vollziehen kann.

Und welch wunderbare Typen das immer niveauvolle Wort führten: Selbstbewusste Bürgermeister, die für ihre Gemeinden kämpfen; engagierte radikale Frauen, die keinen Feminismus mehr nötig zu haben scheinen und ihre Sache so eloquent und leidenschaftlich vertreten, dass man meint, so müsse eine Rosa Luxemburg gesprochen haben; Professoren, die sich ganz unbefangen als Marxisten etikettieren und dann die Klassenpolitik der Regierung Sharon geißeln. Dabei bot die Konferenz einen Querschnitt durch (fast) die gesamte Gesellschaft: Sephardische und ashkenasische Israelis, Beduinen und Araber (fast 20 Prozent der israelischen Bevölkerung), dunkelhäutige äthiopische Juden, linksradikale Orthodoxe und erklärte Nichtreligiöse. Eine weitere Erfahrung, die "man" natürlich als informierter Zeitgenosse wissen kann, die aber hautnah und lebendig mitzuerleben doch etwas ganz Anderes ist: Israel beherbergt eine wahrhaft multikulturelle Gesellschaft, die sich spätestens seit Ende der achtziger Jahre mit der massenhaften zweiten sowjetisch-russischen Auswanderungswelle vom Ideal des "Schmelztiegels" verabschiedet hat. Da fühlte sich der deutsche Beobachter auf vertrautem Boden. Nur ist Israel um Lichtjahre toleranter mit sich selbst - ist das Kopftuch der beduinischen Aktivistin für den nichtreligiösen Israeli ebenso wenig anstößig wie der große pelzbesetzte Tellerhut des Orthodoxen.

Und das, was uns in der Regel als erstes in den Sinn kommt, wenn wir an Israel denken - der Dauerkrieg, die Besatzung, der Bau der Mauer, die blutig-brutalen Vergeltungsaktionen für jedes ebenso blutig-brutale Selbstmordattentat? Ich ging mit einer Gruppe der "Frauenwache" an den größten Kontrollpunkt zwischen Jerusalem und Ramallah. Ich hätte diese Erfahrung lieber nicht machen mögen: Die Erniedrigung der palästinensischen Grenzgänger - alte Frauen, Kinder, würdige Männer an Stöcken, Männer mittleren Alters, Kinder, alle mit irgendwelchen eingekauften Habseligkeiten - durch arrogante junge Soldaten hinter schusssicheren Sandsackwällen, willkürliche Zurückweisungen, der Umgang mit Kleinhändlern, die vertrieben werden, indem Soldaten ihre Ware in den Schmutz stoßen. Die israelischen Frauen schrieben alles auf, Name der Einheit und der einzelnen Soldaten - daraus wird ein Beschwerdebericht an die Armeeführung oder auch eine Klage. Selbst wenn nichts passiert: allein die Beobachtung wirkt bereits abschreckend für schlimmere Misshandlungen. Objektiv, unter Sicherheitsgesichtspunkten, hat diese menschenverachtende Behandlung kaum einen Sinn. Aber sie wirkt psychologisch und zeigt, wer Herr im Hause ist; auch die im Bau befindliche monströse Mauer (sie lässt die Berliner Variante fast als elegantes Architekturdenkmal erscheinen) scheint keiner nachvollziehbaren Logistik zu folgen, alle rätselten vor Ort über den unverständlichen Plan ihres Verlaufs. Im Dunklen kommt die Szenerie einer dantesken Höllenvision nahe - Staub und Dreck, hupende Autos, dazu Hunderte von Menschen die hin- und her geschoben werden, überall Soldaten mit der Waffe im Anschlag, ein Alptraum.

Und doch gibt es da diese eindrucksvollen Menschen, diese integren und idealistisch engagierten Bürger, die seit Jahren unermüdlich ihre Gesellschaft sensibilisieren gegen die zerstörerische Politik ihrer Regierungen, die ein moralisches Gewissen sind, die sich schon aus Prinzip weigern, die für israelische Siedler reservierten Straßen zu benutzen und statt dessen mühsame Umwege auf sich nehmen. Israelis, die ihr Land lieben und die wissen, der Feind, das sind nicht die Palästinenser, sondern der blinde Hass und die Arroganz der eigenen Leute. Welche Gesellschaft bringt heute noch so viel ungebrochene idealistische Kraft auf zum Kampf für Menschenrechte und gegen staatliches Unrecht? Es waren immer Minderheiten, die den Funken der Hoffnung auf "eine andere Art der Politik" - so die Konferenz, auf der ich über Politik als Überwindung von Rache (Äschylos´ Orestie und die biblische Parabel von Kain und Abel) sprach und dankbare Zustimmung erfuhr - nicht aufgaben und letztlich doch ihre geschichtliche Anerkennung erfuhren. Ehe es sich zum Besseren wendet, wird der Prozess israelisch-palästinensischer Selbstzerstörung noch schlimmer werden. Von derzeitiger diplomatischer Aktivität ist wenig zu erhoffen - wohl aber langfristig von der Eigendynamik unspektakulärer gesellschaftlicher Initiativen.

Aus: Freitag 52, 17. Dezember 2004


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