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Zipi Livni macht das Rennen um den Vorsitz in der Kadima-Partei

Nun auch Premierministerin? Grundlegende Änderung der israelischen Politik ist nicht zu erwarten

Am 17. September 2008 wählten die Mitglieder der Kadima-Partei eine(n) neue(n) Parteivorsitzende(n). Die beiden Favoriten, Außenminiterin Zipi Livni, und Verkehrsminister Schaul Mofas, schenkten sich im Wahlkampf nichts.Entsprechend knapp fiel schließlich das Ergebnis zugunsten Livnis aus. Somit hat sie gute Chancen, den noch amtierenden Premierminister Olmert zu beerben.
Im Folgenden dokumentieren wir israelische Berichte (aus: Haaretz) über das innerparteiliche Abstimmungsergebnis sowie Hintergrundberichte über den Wahlkampf.



Livni siegt bei Kadima-Wahlen

Israels stellvertretende Ministerpräsidentin und Außenministerin Tzipi Livni hat die Wahlen zum Vorsitz der regierenden Kadima-Partei gewonnen. Sie wird nun Ministerpräsident Ehud Olmert im Parteivorsitz ablösen und versuchen, eine neue Koalition zu bilden, um dann die neue Regierungschefin Israels zu werden.

Livni setzte sich gestern mit 43.1% der Stimmen äußerst knapp gegen ihren primären Rivalen, Verkehrsminister Shaul Mofaz durch, der 42% der Stimmen erhielt. Die beiden anderen Kandidaten, Innenminister Meir Sheetrit und der Minister für innere Sicherheit, Avi Dichter, folgen mit großem Abstand (8.5 bzw. 6.5%).



Die leise Revolution Tzipi Livnis

Von Avirama Golan *

Tzipi Livni wurde nicht zur Kandidatin für das Amt des Ministerpräsidenten gewählt, weil sei eine Frau ist. Auch nicht, weil sie eine ‚Zivilistin’ ist. Nicht weil sie rechts und nicht weil sie links ist. Sie wurde gewählt, weil sie geeigneter ist als ihre Rivalen. Die Wahl fand zwar in den Vorwahlen von Kadima statt, aber diese politische Ortbestimmung, die die kommende Regierung zusammensetzen wird, ist definitiv Teil eines neuen Trends: nicht rechts, nicht links, nicht herkunftsbedingt, nicht sicherheitspolitisch, nicht Frau, nicht Mann. Es naht das endgültige Ende der alten Teilungen.

Das heißt selbstverständlich nicht, dass die israelische Gesellschaft sich plötzlich um die nüchtern-ernsthafte, pragmatische Staatsräson Livnis schart und die Sektoren und Klüfte beiseite wischt. Aber es heißt, dass sich auch in Israel ähnliche Vorgänge wie im Rest der Welt vollziehen, im Zuge derer Personen an die Macht kommen, die vor zwanzig dreißig Jahren keine Aussicht darauf hatten, ein Ministerbüro von innen zu sehen: Frauen, Menschen aus Randgruppen, Kinder von Einwanderern und Armen.

Mit Ausnahme Skandinaviens, wo eine umfassende Bevorzugung von Frauen eingeführt wurde, sind – vor allem in Europa und den USA – nur sehr fleißige, hartnäckige und ambitionierte Frauen in hohe Ämter gelangt. In den vergangenen Jahren geht jedoch eine leise Revolution vonstatten: In der französischen Regierung gibt es sieben Frauen in Schlüsselfunktionen (darunter das Finanz- und das Justizministerium), in Deutschland gibt es eine weibliche Kanzlerin und in Spanien eine junge und energische Verteidigungsministerin.

Nun besteht die nicht geringe Aussicht, dass in Israel eine Frau Ministerpräsidentin wird, die gewählt und nicht wie Golda Meir „auf Befehl der Bewegung“ ernannt wurde. Und man betrachte es als ein Wunder – abgesehen von ein oder zwei sexistischen Kommentaren (die mehr dem Urheber als Livni selbst schaden) scheint es niemandem wichtig zu sein, ob sie ein Mann oder eine Frau ist. Ihre Anhänger und ihre Gegner bezogen sich gleichermaßen auf ihre Inhalte und Fähigkeiten.

Ein gutes Zeichen? Kein schlechtes. Es stimmt, dass Frauen im Großteil der Welt noch an Unterdrückung und Diskriminierung leiden, aber man kann – mit gewisser Vorsicht – sagen, dass sie in der Politik bereits den ihnen angemessenen Platz besetzen. Nicht zufällig: Die Männer haben schon seit langem verstanden, dass diese eine zu schwierige Aufgabe ist.

Aus: Haaretz, 18. September 2008


Die Hartnäckigkeit hat sich bewährt

Von Aluf Benn **

Das oberste Ziel

Tzipi Livni ist ein hartnäckiges Mädchen. Die Journalisten, die sie in den vergangenen Jahren getroffen, sie noch in ihren Tagen als Juniorministerin auf ihrem Weg an die Spitze begleitet und ihren Reden und Erklärungen gelauscht haben, hörten von ihr bis zur Ermüdung stets die gleiche Botschaft. Ich bin hier wegen des obersten Ziels, das der jüdische und demokratische Staat ist. Daher unterstütze ich die Gründung eines palästinensischen Staates, unter der Bedingung, dass er die nationale Lösung für alle Palästinenser sein wird, so wie Israel die nationale Lösung für alle Juden ist. In kleineren Foren wiederholt Livni exakt dieselben Worte und fügt hinzu: „Aber das bleibt zwischen uns, ja?“

Livnis Hartnäckigkeit hat sich gestern bewährt. Im letzten Jahr begann sie mehr als in der Vergangenheit auf Berater zu hören und sammelte die Mehrheit des politisch-medialen Stabes Ariel Sharons um sich.

Livni ist weit davon entfernt, Sharon zu sein. Sie gehört zu einer anderen Generation, und sie hat keinen zynischen und sarkastischen Humor und keine militärischen Erlebnisse wie er. Sie liebt es, sich zu erklären, neigt jedoch nicht dazu, sich über das zu beschweren, was über sie geschrieben oder gesendet wird, oder bei Journalisten über ihre Kollegen zu lästern wie andere Politiker. Es ist ihr wichtig, Selbstsicherheit und etwas Distanz zu zeigen. Leute, die sie zum ersten Mal treffen, sind von ihrer Direktheit beeindruckt. In der Knesset-Cafeteria mag man sie weniger; dort hat man sie vor langer Zeit als Ehrgeizling und gefährliche Anwärterin auf die Krone identifiziert.

Livni bringt ihre Gedanken schriftlich zum Ausdruck. Mehr als um Geistesblitze geht es ihr um Problemlösungen, und sie neigt zur Beschäftigung mit Details. So braute sie den „Livni-Kompromiss“ zusammen, der es Sharon möglich machte, den Abkoppelungsplan durch das Kabinett zu bringen, mit der Unterstützung Biniyamin Netanyahus. So schrieb sie das Kadima-Parteiprogramm, einen Moment vor dem großen Knall Sharons. So wies sie Ehud Olmert den politischen Ausweg aus dem zweiten Libanonkrieg. Aber in all diesen Fällen gab es jemanden über ihr, der die Entscheidungen traf und die Verantwortung übernahm. Mit diesem Luxus ist es nun vorbei. Von jetzt an wird diese Aufgabe Livni zufallen, und ihr steht ein strenger Test bevor.

Wer hat gewählt?

Das Hauptargument gegen Livni – wenn sie eine neue Regierung bildet und an ihrer Spitze steht – wird sein, dass sie kein Mandat der Öffentlichkeit erhalten habe, sondern nur das der Kadima-Mitglieder. Die Behauptung, dass nur 20 000 Leute bestimmt haben, wer Ministerpräsident wird, war schon während des Wahlkampfs zu hören, und sie wird gewiss in der Folgezeit noch stärker werden.

Livni ist nicht die erste, die den Vorsitz einer Regierungspartei mitten in der Legislaturperiode erhalten hat, aufgrund der Entscheidung eines Parteiforums – David Ben Gurion 1955, Levi Eshkol 1963, Golda Meir 1969, Yitzhak Rabin 1974 und Yitzhak Shamir 1983. Auch darf man nicht vergessen, dass nur ein Mann den gegenwärtigen Ministerpräsident ins Amt gewählt hat - Sharon, der Olmert zu seinem Stellvertreter ernannte.

Die Lehre aus dem Aufstieg Olmerts und Livnis an die Spitze besteht darin, dass das Amt des stellvertretenden Ministerpräsidenten, das gesetzlich erst 2001 festgeschrieben wurde, seinen Inhaber mit einem seltenen Vorteil bei jedem zukünftigen politischen Machtkampf ausstattet. Es ist ein Vorzug, nur ein Blutgerinnsel oder ein polizeiliches Ermittlungsverfahren vom Amtsinhaber entfernt zu sein. Diese Lehre wird im politischen Apparat von nun an zweifellos beherzigt werden.

Die Prinzen haben gewonnen

Die rotierende Ministerpräsidentschaft von Shimon Peres und Yitzhak Shamir vor zwei Jahrzehnten hat zwei um die zukünftige Führung Israels konkurrierende Gruppen hervorgebracht: die Prinzen des Likud und die „Gruppe der acht“ in der Avoda. Auf der einen Seite standen die Kinder von Führern Beitars, Etzels und der Cherut-Bewegung, auf der anderen eine Gruppe von jungen Abgeordneten, die sich trauten, linkeren Meinungen als das Parteiestablishment der Avoda von einst zu vertreten.

Historisch betrachtet, haben die Prinzen gewonnen. Zwei von ihnen, Netanyahu und Olmert, waren bereits Ministerpräsidenten, und Livni ist auf dem Weg dahin. Die zwei letzteren haben unterwegs eine Umwandlung ihrer politischen Standpunkte vollzogen und klingen heute wie die Mitglieder der „Gruppe der acht“ der Avoda, von denen es niemand an die Spitze geschafft hat. Nicht Chaim Ramon, nicht Yossi Beilin, nicht Amir Peretz und nicht Avraham Burg.

In den nächsten Wahlen werden – laut ,,Umfragen – Netanyahu und Livni gegeneinander antreten. Bibi gegen Tzipi. Der Sohn eines Historikers, der Sekretär Jabotinskys war, gegen die Tochter eines Einsatzkommandanten der Etzel. Dies wird ein süßer, wenngleich später Sieg für das revisionistische Lager sein – das von einer „kleinen und Recht habenden Minderheit“ ins politische Zentrum Israels gerückt ist.

** Aus Haaretz, 18. September 2008


Israel: Zipi Livni neue Parteichefin – und demnächst Premierministerin? ***

In den Morgenstunden des Donnerstags (18. Sept.) hatte Israels reaktionäre Regierungspartei Kadima (Vorwärts) die Voten ihrer Mitglieder ausgezählt. Es war – entgegen aller Voraussagen – knapp geworden im Rennen um den Parteivorsitz, der nach dem Rückzug des in zahlreiche Korruptionsverfahren verstrickten bisherigen Chefs Ehud Olmert vakant geworden war. Letztlich hatte die favorisierte Außenministerin Zipi Livni mit 43,1 Prozent die Nase vorn. Sie erhielt von den insgesamt 74000 Wahlberechtigten 431 Stimmen mehr als ihr Konkurrent Schaul Mofas; der amtierende Verkehrsminister brachte es auf 42 Prozent.

Allerdings täuscht das Kopf-an-Kopf-Rennen nicht darüber hinweg, daß sich die beiden Protagonisten in ihrer Programmatik kaum voneinander unterscheiden. Zwar wird der »Falke« Mofas als besonders skrupellos angesehen, was die Kriegspolitik gegen die Palästinenser und den Libanon sowie den Aggressionskurs gegen Iran angeht. Doch verdiente sich Livni diesbezüglich auch einige Meriten und stand bereits beim Angriff auf Beirut im Sommer 2006 an der Seite Olmerts. Somit dürfte die Befürchtung der im Gazastreifen regierenden palästinensischen Unabhängigkeitspartei Hamas von Donnerstag (18. Sept.) durchaus zutreffen. Für den Fall, daß Livni, wie vorgesehen, demnächst Olmert auch als Premier ablösen wird, sei die “Fortsetzung einer Politik der Unterdrückung und Aggression gegenüber dem palästinensischen Volk» zu erwarten, erklärte Hamas-Sprecher Fawsi Barhum in Gaza.

Die 50jährige Juristin, die immer noch von ihrer einstigen Agententätigkeit für den israelischen Geheimdienst Mossad schwärmt, kündigte für den heutigen Freitag (19. Sept.) die Aufnahme von Koalitionsgesprächen an. Auf der Kabinettsitzung am Sonntag (21. Sept.) will der bisherige Ministerpräsident Ehud Olmert seinen Rücktritt einreichen. Es wird mit schwierigen Verhandlungen auch deswegen gerechnet, weil die Arbeitspartei laut Umfragen derzeit vor Kadima liegt und also auf Neuwahlen orientieren könnte. (AFP/AP/jW)

*** Aus: junge Welt, 18. September 2008


Schlammschlacht mit "Tschach-tschach"

Heute (17. September) wird in Israels Regierungspartei Kadima ein neuer Parteichef gewählt

Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem ****

Heute soll der Nachfolger von Ministerpräsident und Kadima-Parteichef Ehud Olmert bestimmt werden. Außenministerin Zipi Livni will sich gegen Verkehrsminister Schaul Mofaz durchsetzen.

Das Ringen um den künftigen Vorsitz der von Ariel Scharon gegründeten Partei »Kadima« (Vorwärts) nimmt unschöne Formen an. Ein Berater der Favoritin, Außenministerin Zipi Livni, bezeichnete den Hauptkonkurrenten, den ehemaligen Generalstabschef und heutigen Verkehrsminister Schaul Mofaz, einen »Tschach-tschach«. Der in Iran geborene Mofaz behauptete, dass er bisher noch nie mit diesem Schimpfwort beleidigt worden sei. »Tschach-tschach« ahmt die nuschelnde Redeweise der Marokkaner nach. Dudu Topaz, ein israelischer Komödiant, hatte das verächtlich machende Wort 1981 bei einer Wahlkampfveranstaltung der Arbeitspartei in Tel Aviv benutzt und eine Welle der Empörung ausgelöst, die letztlich Menachem Begin vom rechtsgerichteten Likudblock den Wahlsieg über den damaligen Favoriten Schimon Peres bescherte. »Unerhört, dass Livnis Leute wieder den Geist ethnischer Verachtung aus der Flasche holen«, wetterte Mofaz und versuchte so den geringen Vorsprung Livnis weiter schrumpfen zu lassen.

Die Umfragen unter den rund 75 000 wahlberechtigten Kadima-Mitgliedern prognostizieren ein Kopfan- Kopf-Rennen der beiden Hauptkandidaten, während Polizeiminister Avi Dichter und Justizminister Meir Schitrit weit zurückliegen. Doch die Umfrageinstitute gestehen, eigentlich nicht zu wissen, wie die Wahl ausgehen könnte. Denn die Partei ist zu neu und ihre Mitglieder seien zu unbekannt, um einigermaßen zuverlässige Voraussagen treffen zu können, wer die Nachfolge Ehud Olmerts als Parteichef und später vielleicht auch als Ministerpräsident antreten wird.

Mofaz betont seine militärische Erfahrung in Zeiten sicherheitspolitischer Herausforderungen durch Iran, Hisbollah und Hamas. Seiner Gegnerin hält er vor, von diesen wirklich wichtigen Dingen nichts zu verstehen. Zipi Livni hingegen setzt auf ihre langjährige Erfahrung in der Politik, auf ihr diplomatisches Geschick und die innerisraelische Gemengelage. Schon mit Blick auf bevorstehende Neuwahlen zum Parlament lautet ihr Schlachtruf deshalb »Zipi gegen Bibi«. Gemeint ist der Likud- Chef und ehemalige rechtsgerichtete Premierminister Benjamin Netanjahu. Nur sie und keinesfalls der nicht sonderlich populäre Schaul Mofaz könne Netanjahu die Stirn bieten und Israel vor einer neuerlichen Revisionisten-Regierung retten.

Der angesehene Politologe Schlomo Avineri räumt aber Mofaz bessere Chancen ein, wegen des aus den USA übernommenen und für die israelischen Verhältnisse nicht adaptierten Systems der »Primaries« bei den großen Parteien. Wer gewinnen will, müsse bis zu 500 Familienfeiern, Beschneidungen und Hochzeiten im Jahr besuchen, tausende Hände schütteln und leutselig sein, um die Herzen der Familienclans für sich zu gewinnen. Zipi Livni, die eher spröde Rechtsanwältin mit polnischen Wurzeln, sei darin weit weniger geübt als der im Orient verwurzelte Mofaz.

Sobald der neue Kadima-Chef feststeht, will Olmert vom Amt des Ministerpräsidenten zurücktreten, obgleich bisher nur Verdacht auf Korruption gegen ihn besteht. Die Staatsanwaltschaft hat noch nicht beschlossen, ob das von der Polizei gesammelte Beweismaterial für eine Anklageschrift ausreicht. Der Parteichef würde dann vom Staatspräsidenten mit der Regierungsbildung beauftragt.

Ob das bei der heutigen Zusammensetzung des Parlaments, der Knesset, gelingt, wagt niemand vorherzusagen. Andererseits besteht unter den derzeitigen Abgeordneten keine große Lust, in den Wahlkampf zu ziehen, denn viele von ihnen würden ihre gut dotierten Sitze verlieren. Die Seniorenpartei und vielleicht sogar Kadima könnten sich in Luft auflösen, während die Arbeitspartei mangels Führungsqualitäten Ehud Baraks intern zerstritten ist und viel Rückhalt in der Bevölkerung verloren hat. Der Sozialist Barak versucht gerade, seine Wohnung im teuersten Hochhaus Tel Avivs für elf Millionen Dollar zu verkaufen, um durch den Umzug in eine billigere Unterkunft Volksnähe zu demonstrieren.

So könnte Olmert noch sehr lange als unstürzbarer Übergangspremier im Amt bleiben und vielleicht sogar die Verhandlungen mit dem palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas abschließen.

**** Aus: Neues Deutschland, 17. September 2008


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