Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Genau hinsehen

Wissen, was passiert: Israelische Frauen beobachten und dokumentieren Menschenrechtsverletzungen

Von Gerda Kruss *

"Machsom Watch" heißt "Kontrollposten-Beobachtung" und ist der Name einer Nichtregierungsorganisation israelischer Frauen. Die Aktivistinnen beobachten und dokumentieren Menschenrechtsverletzungen des Militärs an den Kontrollposten in den besetzten palästinensischen Gebieten. Ursprünglich von nur fünf Feministinnen – darunter eine aus Deutschland stammende ehemalige Richterin – im Jahre 2001 gegründet, zählt sie mittlerweile Hunderte Mitglieder und ist zu einem wichtigen Bestandteil der nichtzionistischen israelischen Linken geworden. Eine der fünf Gründerinnen schildert in dem jetzt in deutscher Übersetzung erschienenen Band »Checkpoint Watch« die Entstehungsgeschichte der Organisation, beschreibt zahlreiche Aktionen lokaler Gruppen, aber auch die heftigen Auseinandersetzungen innerhalb dieses politisch heterogenen und nicht hierarchisch organisierten Netzwerks.

Wie die Autorin ausführt, ist es hauptsächlich persönliche Betroffenheit, die diese Handvoll Mittelklassefrauen bewog, sich entgegen dem politischen Mainstream ihres Landes an die Seite der palästinensischen Bevölkerung zu stellen. Eine der Aktivistinnen schildert in dem Buch ihre Motivation: »In meinem Viertel fahren keine Panzer umher (...) An meine Tür klopfen keine Soldaten, weder am Tag noch mitten in der Nacht, um meine Söhne zur Vernehmung mitzunehmen. Mich schreit niemand an, ich soll mein Hemd hochheben (...) Ich sitze zu Hause und fühle mich privilegiert; ich bin Jüdin.«

Die Aktionen der Machsom-Watch-Mitglieder beschränken sich nicht nur auf Anwesenheit an den Kontrollpunkten. Sie versuchen auch, mittels Bitten und Drohungen die schlimmsten Schikanen des Militärs gegenüber palästinensischen Einwohnern zu mildern – was allerdings nur selten gelingt. Oft mußten die Aktivistinnen Beschimpfungen bis hin zu Morddrohungen rechtsradikaler Siedlerorganisationen hinnehmen.

Es ist bekannt, daß der Gazastreifen ein gigantisches Freiluftgefängnis unter Bewachung des israelischen Militärs ist. Im Buch wird dagelegt, daß auch das Westjordangebiet durch die willkürliche und sich ständig verändernde Grenzziehung und ein System stationärer und mobiler Kontrollposten in einen Flickenteppich palästinensischer Restgebiete zerrissen wurde. Die dazwischen liegenden Wehrdörfer israelischer Siedlerorganisationen und die Sperren des Militärs sorgen dafür, daß diese Homelands weder wirtschaftlich noch politisch lebensfähig sind – die angestrebte Eigenstaatlichkeit wäre unter diesen Umständen eine Farce. Die Autorin behauptet, daß diese Zerstückelung und die damit verbundenen Schikanen politisch gewollt sind und keineswegs der »Sicherheit Israels« dienen, die als Begründung für das Kontrollpostensystem herhalten muß. Angestrebt werde von der israelischen Regierung eben keine Zweistaatlichkeit und erst recht keine Gleichberechtigung für die palästinensischen Einwohner im Rahmen eines Gesamtstaates. Gewollt sei ein Exodus. Der palästinensischen Bevölkerung solle das Leben so zur Hölle gemacht werden, daß sie eine Auswanderung dem Verbleib in der Heimat vorziehe.

Chaos und Menschenverachtung herrschen an den vom israelischen Militär kontrollierten Sperren. Für die simpelsten Handlungen – wie den Weg zur Arbeit, auf die eigenen Felder, den Einkauf von Lebensmitteln, einen Verwandtenbesuch im Nachbardorf oder den Gang zum Arzt – müssen die Einwohner endlose bürokratische Hindernisse überwinden, stunden- oder tagelanges Warten und erniedrigende Schikanen überstehen. Es gibt willkürliche Zurückweisungen, Verhaftungen, Todesschüsse auf Menschen, die versuchen, die Sperren illegal zu überwinden. Das System traumatisiert – eine der Machsom-Watch-Frauen dokumentiert den Verzweiflungsschrei eines palästinensischen Tagelöhners: »Dies alles hier hat doch eure Regierung ausgeheckt, um uns alle wahnsinnig zu machen.«

Das Kontrollpostensystem behindert und demütigt nicht nur, es führt zu Todesopfern. Die Autorin zitiert einen Bericht des palästinensischen Roten Halbmonds: Von September 2000 bis Oktober 2003 wurden an den Kontrollposten vom israelischen Militär in 991 medizinischen Notfällen der Durchlaß verweigert, 121 Krankenwagen beschädigt, 25 Ärzte und Pfleger getötet. 83 Patienten starben in den Warteschlangen, 57 schwangere Frauen mußten dort gebären, wobei 32 der neugeborenen Kinder starben.

Wie die Autorin im Nachwort der deutschen Ausgabe schreibt, begann die israelische Regierung als Antwort auf die Protestaktionen der Menschenrechtsaktivistinnen mit einer baulichen Umgestaltung der Kontrollposten, was eine weitere Beobachtung unmöglich machen soll. Die Machsom-Watch-Frauen verlagerten daraufhin ihren Arbeitsschwerpunkt auf »Court Watch« – eine Beobachtung der israelischen Justiz, Dokumentation von willkürlichen Inhaftierungen und Verstößen gegen elementare Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit.

Yehudit Kirstein: Checkpoint Watch. Zeugnisse israelischer Frauen aus dem besetzten Palästina. Mit einem Vorwort von Amira Hass. Edition Nautilus, Hamburg 2007, 253 Seiten, 18 Euro; ISBN 978-3-89401-555-8

* Aus: junge Welt, 10. Dezember 2007


Zurück zur Israel-Seite

Zur Palästina-Seite

Zurück zur Homepage