Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Im Schatten der Mauer

Palästinensisches Leben in dem kleinen Ort Anata nahe Jerusalem. Tränengas, Straßenkämpfe und Wut als Produkt eines monströsen, international geächteten Bauwerks

Von Leila Dregger*

Nasefah Ibraheam, Lehrerin an der Secondary School von Anata, ist empört. »Es ist, als wollten sie eine Generation von Terroristen heranzüchten. Vor dem Mauerbau ging nie eine gewaltsame Tat von dieser Schule aus. Mit welchen Argumenten sollen wir jetzt die Schüler noch daran hindern, Steine zu werfen?«

Vor zwei Monaten, nach einem schulfreien Freitag, stand plötzlich eine über sechs Meter hohe Mauer mitten im Schulhof. Eine Information dazu hatte es vorher nicht gegeben, beteuert Nasefah. Sie muß es wissen, schließlich ist sie Mitglied des Gemeinderates von Anata, einem Vorort Jerusalems. Auch den Schülern steht seitdem nur noch ein Bruchteil des ehemaligen Raums zur Verfügung. Wo die 13- bis 18jährigen Jungen vorher in den Pausen Fußball spielten, gibt es jetzt einen anderen Sport. Und der beginnt um 11.30 Uhr.

Rund zwei Dutzend vielleicht 14jährige Jungen stehen an den Ritzen der Mauer und warten. »Jehud!« ruft einer. Tatsächlich, pünktlich zur Pausenzeit taucht unten an der Straße ein gepanzerter Jeep der israelischen Grenzpolizei auf. Er wird von einem Steinhagel begrüßt, der auf sein Dach prasselt. Der Jeep zieht sich wieder zurück. Die nächste Schulstunde beginnt. Alltag in Anata.

Ausnahmezustand

Der 9000 Einwohner zählende Ort Anata liegt vier Kilometer nordöstlich von Jerusalem. Die vom Internationalen Gerichtshof ebenso wie von der UNO verurteilte israelische Mauer, die in der ganzen Westbank jüdische Siedlungen von palästinensischen Dörfern trennen soll, verläuft direkt um den Dorfkern. Zu vierzig Prozent ist sie hier bereits fertiggestellt. Um die Baustelle gibt es fast täglich Straßenkämpfe zwischen Jugendlichen und Grenzpolizisten, die den Mauerbau schützen sollen. Der Ort befindet sich im Ausnahmezustand. Ein Checkpoint bildet die einzige Zufahrtsmöglichkeit von und nach Anata.

»Wir leben wie in einem Gefängnis«, empört sich Nasefah Ibraheam. »Wenn es so weitergeht, ist Anata in wenigen Jahren ein Flüchtlingslager.« Vom Dach der Schule kann man weit in den Osten schauen, wo die Wüste beginnt. In weiten Bögen übersieht man den Verlauf der Mauer aus Betonfertigteilen, die bis zu acht Meter hoch aufgerichtet sind. Mit den Straßen, Zäunen und Sicherheitsstreifen auf beiden Seiten ist die offiziell »Security Fence« genannte Anlage rund 70 Meter breit. Ihr Verlauf ist keineswegs identisch mit der sogenannten Grünen Linie (Green Line), die nach dem Oslo-Abkommen von 1993 die Grenze zwischen Israel und Palästina bilden sollte.

Der Grund für diesen »Sekundärzaun« liegt weiter oben am Hang, in rund einem Kilometer Entfernung: Dort stehen ordentliche Reihen neuerer Häuser. Sie gehören zu Neveh Brat, einer der vier israelischen Siedlungen, die zwischen 2001 und 2003 rund um Anata entstanden sind. Es ist das Bedürfnis der Siedler nach Sicherheit, welches das Argument liefert, den Ort einzumauern – nach Beschluß des UN-Sicherheitsrates illegalerweise. In dessen Resolution Nr. 465 von 1980 heißt es speziell: »Alle israelischen Unternehmungen, die den Zustand, die Bevölkerungszusammensetzung (...) der seit 1967 besetzten, palästinensischen oder anderen arabischen Gebieten einschließlich Jerusalem verändern sollen, sind illegal.«

Von der Arbeit abgeschnitten

Legal oder nicht, im März 2004 erhielt der Gemeinderat ein Schreiben der israelischen Militärbehörde, in dem mitgeteilt wurde, daß das Land nördlich und östlich des Ortes konfisziert wird. Ein eiliger Protest nützte nichts. Am 27. Juni begann die Planierung des Baugrundes. Die derzeitige Baustelle liegt genau unterhalb der Schule in nur etwa 20 Meter Entfernung. Die Mauer auf dem Schulhof, so erfuhren die Lehrer nach mehrmaligem Nachfragen, sei nur temporär, um den eigentlichen Mauerbau vor Steinwürfen zu schützen. Auch die Fenster in Richtung Mauerbau dürfen nicht mehr geöffnet werden.
»Wenn es wirklich um Sicherheit ginge«, fragt Mohamed Aburafia, Vorsitzender des Gemeinderates von Anata, den wir auf dem Dach der Schule treffen, »warum bauen sie dann die Mauer nicht um ihre Siedlungen herum? Oder meinetwegen auch auf halber Strecke zwischen dem Dorf und der Siedlung? Statt dessen werden wir hier regelrecht stranguliert. Und unser Land fällt an die Israelis«.

Mit fast 30000 Dunum (30 Quadratkilometer) gehörte Anata bis vor kurzem zu den größten Dörfern Palästinas. Es erstreckt sich zwischen Jerusalem im Westen bis Jericho im Osten. Durch den Bau der vier Siedlungen, einer Militärstation und zwei Siedlerstraßen verbleiben dem Ort nur noch etwa 1300 Dunum. »Die Mauer ist ja nur der jüngste Akt,« erläutert Aburafia. »Weil die Straßen nur von den Siedlern benutzt werden dürfen, können unsere Bauern seit Jahren nicht mehr auf ihr Land.« Nicht nur die Landwirtschaft liegt brach. Auch die Steinbrüche, die Marmor für Jerusalem und bis nach Amman lieferten, liegen still. Und: Es stinkt in der Stadt. Der Müll wird auf der Straße verbrannt, für die Entsorgung des Abfalls steht nicht mehr ausreichend Land zur Verfügung.

Israelische und palästinensische Nichtregierungsorganisationen (NGO) haben Protest eingelegt. Amit Weiss von der Friedensgruppe Middleway: »Den Prozeß haben wir verloren, jedenfalls was den Gesamtverlauf der Mauer angeht. Aber über das Teilstück unterhalb der Schule steht noch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes aus. Bis dahin darf eigentlich nicht weitergebaut werden. Wie Sie sehen, geschieht es dennoch. Die Wut der Bewohner von Anata ist für mich vollkommen verständlich.«

Leidtragende des Mauerbaus gibt es viele. Die Arbeitslosigkeit ist in die Höhe geschnellt, Arbeiter mußten ihre Jobs in Jerusalem aufgeben, da sie durch den Checkpoint nicht mehr zuverlässig in die Betriebe kamen, Studenten erreichten nicht die Universität, Lehrer nicht mehr pünktlich die Schulen. Laut der israelischen Koalition gegen Hauszerstörung (ICAHD) wurden 400 Häuser in Anata für Mauerbau und Siedlerstraßen abgerissen; Moslems wurden auf dem Weg zu heiligen Plätzen am Checkpoint zurückgehalten; die medizinische Versorgung ist erschwert.

Mohammed Alrifie hat es besonders hart getroffen. Der kräftige 38jährige Mann ist Pferdezüchter. Sein weißer Araberhengst Mahran ist mittlerweile 18 Jahre alt. Bis 2001 gewann dieser die höchsten Preise Israels. Jetzt steht das berühmte Zuchtpferd seit Jahren in einem käfigartigen Bretterverschlag. Es hat kaum Platz, sich zu drehen. Um seine Box herum befindet sich ein halbes Dutzend weiterer Pferdekäfige, plaziert in einem kleinen Karree zwischen Wohnhäusern. Ein Bild des Elends. Etwa 20 Tiere stehen hier, teilweise im Dunkeln, und sind zur Bewegungslosigkeit verurteilt. Einige haben aufgeschlagene Beine, verletzt an den engen Wänden der Boxen. Eine Stute hebt und senkt unablässig das Haupt und den rechten Huf: Ganz offensichtlich ist sie geschädigt.

Auf fremdem Land

»Meine Tiere leiden so, wie ich leide«, klagt Alrifie. »Ich verbringe jede Minute hier, ich versuche auch, die Tiere zu bewegen, aber das geht nur auf der Straße.« Vor acht Jahren hatte der Pferdezüchter das nötige Geld gespart, um seinen Lebenstraum zu erfüllen: Er beantragte eine Baugenehmigung für ein Arabergestüt auf seinem eigenen Land. Doch Palästinenser einer C-Zone, zu der Anata gehört, erhielten schon lange keine mehr. Die C-Zonen Palästinas sind laut dem Oslo-Vertrag Bereiche unter voller israelischer Verwaltung.

»Ich versuchte es ohne Genehmigung, was sollte ich tun?« erzählt er. Er baute einen Reitstall. Es wurde der einzige Platz in Palästina, wo junge Leute reiten lernen konnten. Doch er hatte Pech. »Das erste Mal kamen sie morgens um sechs. Soldaten. Sie gaben mir eine Stunde. Die Bulldozer warteten schon. Alles, was ich tun konnte, war die Stalltüren zu öffnen und die Pferde hinauszujagen. Von 40 Pferden kamen 20 später zu mir zurück.«

Sein Herz brach, und das ist wörtlich zu verstehen: Der damals 31jährige wurde mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus gebracht. Noch zweimal versuchte er, zu bauen, das letzte Mal 2001. Dann gab ihm seine Familie dieses Stück Land mitten im Ort. Inzwischen entstand tatsächlich ein Pferdestall, gebaut von israelischen Siedlern. »Sie erhielten sofort eine Baugenehmigung, und das auf meinem Land, was ist daran Recht?«

Nach Auffassung des israelischen Informationszentrums für Menschenrechte in den besetzten Gebieten gehört dieses Vorgehen zu einer Gesamtstrategie der Behörden, die palästinensische Bevölkerung zu vertreiben. Auf Internetseiten der Ämter findet sich folgende Formel: Keine Stadtplanung, keine Baugenehmigung, Wohnungsnot, illegaler Wohnungsbau, Zerstörung von Häusern, Auszug von Bewohnern. Mohammed Alrifie aber wird bleiben, schon wegen der Pferde.

Wir wollen wissen, mit welchem Rechtsempfinden jüdische Siedler auf palästinensischem Land leben. Gemeinsam mit Alrifie fahren wir zu seinem Land. Schmutzige Schuppen, verwahrloste Ställe finden wir vor, Reste seines eigenen Reitstalls. Keine Reaktion auf unser Klopfen und Rufen, offenbar ist niemand zu Hause. Erst als wir wieder fahren wollen, registrieren wir eine Bewegung: Eine Frau mit Kopftuch schließt die Fensterläden. Doch sie gibt keine Antwort. Das Siedlerehepaar scheint zu keiner Auskunft bereit. Mohammed Alrifie ist nicht überrascht. »Es wurde hier sogar schon geschossen«, sagt er. »Die Menschen haben eine wahnsinnige Angst vor mir. Ich will aber gar keinen Krieg, ich bin ein Mann des Friedens. Ich will nur mein Land zurück.«

Genau das aber ist für Siedler normalerweise kein Diskussionsgegenstand. Ohne unseren palästinensischen Begleiter – er hätte hier keinen Zutritt – besuchen wir eine andere Siedlung: Alon Shrut, nördlich von Jerusalem. Wir treffen einen älteren Mann namens Shlomo. Seinen vollen Namen möchte der Siedler nicht nennen. Von ihm möchten wir wissen, was sich Menschen, die so selbstverständlich auf dem Land anderer leben, eigentlich denken? »Die meisten Siedler sind Einwanderer, die mit hohen staatlichen Subventionen hier bauen und leben können«, erläutert er. »Ihnen wurde das Land versprochen, sie haben nichts anderes, wo sie hinkönnen. Zu einem kleinen Teil sind unter den Siedlern auch ultraorthodoxe Juden, die das Leben auf diesem Land als ihr biblisch verbrieftes Recht empfinden.« Seine Nachbarn aus den ringsum liegenden arabischen Dörfern kennt Shlomo nicht; er würde auch nicht hinfahren. »Was mit ihnen geschieht, tut mir leid. Aber wenn wir keine Mauer hätten, würden sie uns alle umbringen.«

Zurück in Anata. Ein scharfer Gasgeruch liegt über dem Hügel des Wohnviertels und treibt Tränen in die Augen. Unten, vor der Schule, stehen ein paar Dutzend Grenzpolizisten, zwei davon auf Pferden. Dazwischen, auf halber Höhe zu uns, eine Gruppe Jugendlicher. Die jungen Leute schleudern Steine und CDs; besonders letztere fliegen weit. Die Polizisten warten nicht lange und schießen mit Tränengas. In wenigen Sekunden liegt eine dichte Rauchwolke über dem Wohnviertel. Über den Kindergarten zieht der Reiznebel. Die Schaulustigen, meist Frauen, flüchten von den Dächern und Terrassen in die Häuser; die Jugendlichen haben sich zerstreut.

»Meine Pferde«, schreit Mohammed und rennt los, ein Tuch um den Mund gebunden. Drei Tränengasbomben sind mitten in den Ställen gelandet. Die braune Stute hustet, ein anderes Pferd muß beruhigt werden, eine Schockbombe war in seinem Stall gelandet. »So geht das jeden Tag«, schimpft Mohammeds Schwester. »Wir haben einen zweijährigen Säugling im Haus, er muß ewig würgen.« Eine Lehrerin der Schule namens May Hefzi habe eine Fehlgeburt erlitten. Verletzungen wurden auch auf seiten der Polizei zu beklagen. Am Sonntag verlor ein Uniformierter ein Auge.

Ovad Attar, Offizier der israelischen Grenzpolizei, tut seit vier Monaten Dienst in Anata. Ausgerechnet Mohammeds hochgelegenes Elternhaus suchte er als strategischen Ort aus, um von dort aus Kontrolle über die Stadt zu erlangen. »Wir müssen so hart vorgehen, die Einwohner haben keine Kontrolle über ihre Kinder«, rechtfertigt er sein Vorgehen. »Wir müssen den Mauerbau schützen, das ist unser Auftrag.« Auf unsere Frage, warum er einen illegalen, in den Augen des UN-Sicherheitsrates geächteten Bau schützt, fällt seine Antwort knapp aus: »Ich habe meine Befehle, denen ich folgen muß. Um Politik kümmere ich mich nicht.«

Die offizielle Stellungnahme des Verteidigungsministeriums ist nicht viel ausführlicher: »Die Mauer wird aus Sicherheitsgründen gebaut. Ihr Verlauf wurde so ausgewählt, daß der ökonomische Schaden minimiert wird.« Auf die Fragen nach Anatas Landverlust von mehr als 90 Prozent gab es keine Antwort. Der Bau der israelischen Sperranlagen geht weiter. »Wenn die Mauer fertig ist«, fürchtet Mohammeds Schwester, »wird es noch schlimmer werden. Wir werden uns nie damit abfinden, in einem Gefängnis zu leben.«

Zerteilung der Westbank

Sie steht mit ihrer Furcht nicht alleine. Umfragen von NGOs in der Bevölkerung bestätigen, daß die Palästinenser nichts Gutes von der Zukunft erwarten. »Unser ganzes Land wird konfisziert werden. Wir sind jetzt schon arm, aber dann werden wir völlig abgeschnitten von unseren Nachbardörfern sein und keinen Handel mehr treiben können.« Was für Möglichkeiten des zivilen Widerstandes stehen den Menschen noch zur Verfügung? Amit Weiss: »Die rechtlichen Schritte sind so gut wie ausgeschöpft. Wir versuchen jetzt vor allem, die israelische und die internationale Bevölkerung zu informieren. Vielen ist nicht bewußt, daß dies keine Mauer zwischen zwei Ländern ist, sondern eine Mauer, die die Westbank in sehr kleine Abschnitte zerteilt. Auf diesem Wege wird immer mehr Land für israelische Siedler gewonnen.« Die Palästinenser hätten friedliche Besetzungen von Baustellen organisiert, und es sei auch schon gelungen, den Bau ganz zum Stillstand zu bringen. Aber das natürlich nur vorübergehend. Ein Mittel, das diskutiert werde, sei ein ökonomischer Boykott von Produkten, die aus Siedlungen kommen. Aber, so Weiss: »Letztlich ist es ein Thema der Politik: die Besetzungspolitik Israels muß beendet werden.«

* Aus: junge Welt, 7. Januar 2006 (Wochenendbeilage)


Zurück zur Israel-Seite

Zur Palästina-Seite

Zurück zur Homepage