Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Olmert fordert Rückzug aus besetzten Gebieten - Nahost-Konflikt bleibt

Die Worte des scheidenden Premiers Ehud Olmert haben einen Schock bei vielen Israelis und verhaltene Freude bei den Arabern ausgelöst

Von Andrej Murtasin *

„Ich sage das, was vor mir noch kein israelischer Spitzenpolitiker gesagt hat: Wir sollten nahezu alle besetzten Gebiete verlassen, darunter Ostjerusalem und die Golanhöhen“, sagte Olmert in einem Interview für die Zeitung „Yedioth Ahronoth“.

Dabei ist Olmerts Vorschlag nur auf den ersten Blick wirklich sensationell. Nur ein realitätsfremder Mensch, der über die Gegebenheiten im Nahen Osten nicht informiert ist, würde glauben, dass die Israelis demnächst die Golanhöhen und alle ihre Siedlungen im Westjordanland verlassen sowie Ostjerusalem für die Araber „räumen“ würden. Damit zumindest ein Drittel davon Realität wird, müssen Jahrzehnte vergehen.

Von einem möglichen Abzug von den syrischen Golanhöhen, die Israel während des Kriegs 1967 besetzt hatte, sprach bereits der israelische Premier Yitzhak Rabin. Bei den Verhandlungen 1993 in Oslo stimmte er der Anerkennung der Palästinensischen Befreiungsorganisation zu, woraufhin PLO-Chef Yasser Arafat Israel offiziell anerkannte. Als Folge der Abmachungen wurde die Palästinensische Autonomiebehörde gebildet, der Israel die Kontrolle eines Teiles des Gazastreifens und des Westjordanlandes überließ.

Diese Abmachungen haben Rabin das Leben gekostet. Am 4. November 1995 wurde er vom Religionsstudenten Igal Amir erschossen, der seine Tat damit rechtfertigte, er habe „Israels Volk vor den Osloer Vereinbarungen verteidigt“.

Auch Ehud Barak sprach Ende der 90er Jahre von der Möglichkeit einer Rückgabe Ostjerusalems an die Araber. Die 1999 ausgebrochene „zweite Intifada“, der bewaffnete Palästinenser-Aufstand, machte aber alle Friedensbemühungen zunichte. Die „Taube“ Barak wurde vom „Falken“ Ariel Sharon abgelöst.

Eine Rückgabe Ostjerusalems wäre aber für die israelische Öffentlichkeit viel schmerzhafter als etwa das Abtreten des Gazastreifens. Vor drei Jahren gab Sharon diese Region vollständig an die Palästinenser zurück. Das gleiche würde auch für das Westjordanland gelten, das gegenwärtig von der Mahmud-Abbas-Administration und teilweise von Israel kontrolliert wird.

Ostjerusalem und die syrischen Golanhöhen, die 1967 besetzt waren, wurden von Israel 1980 offiziell annektiert. Gemäß dem israelischen Gesetz handelt es sich also nicht um besetzte Gebiete, sondern um Bestandteile des israelischen Staates.

Zugleich wurde die Annexion vom UN-Sicherheitsrat nicht anerkannt (die USA enthielten sich bei der Abstimmung der Stimme). Laut UN-Plan über die Aufteilung der Palästinensergebiete könnte Jerusalem ein internationales Territorium und eben nicht die Hauptstadt eines Staates werden. Heute betrachten die Israelis Jerusalem als „unteilbare und einheitliche Hauptstadt“, während die Palästinenser Ostjerusalem, das hauptsächlich von Arabern bewohnt wird, zur Hauptstadt des künftigen Palästinenserstaats machen möchten.

Nicht viel besser sieht es mit den Golanhöhen aus. Bereits vor 12 Jahren ließen die „Tauben“ Rabin und Shimon Peres eine Rückgabe dieses Territoriums an Syrien zu. Damals nannte Israel auch eine Entschädigungssumme, die für die Umsiedlung der Israelis von den Golanhöhen erforderlich wäre: 17 Milliarden Dollar. Die US-Administration von Bill Clinton war bereit, diesen Betrag zu überweisen. Heute wäre das nach Ansicht der Israelis zu wenig.

Denn die wichtigste Ressource der Golanhöhen ist das Wasser des Kinneret-Sees (Genezareth). Im Krieg 1967 verlor Damaskus nicht nur das Land, sondern auch den Zugang zu diesem Gewässer. Dabei ist das Problem der Wasserversorgung für Israel viel aktueller als für Syrien. Es ist nicht klar, welche Entschädigung Israel von den USA für diese Wasserquelle verlangen könnte. Außerdem wird Tel Aviv, sollte er einem Frieden mit Syrien zustimmen, von den internationalen Vermittlern und vor allem von Washington Sicherheitsgarantien für seine Nordgrenzen fordern, das heißt Ruhe im Südlibanon. Syrien wird Israel diese Garantien kaum geben können. Diese müssen von Iran verlangt werden, das die libanesische Schiitenbewegung Hisbollah großzügig und offen finanziell unterstützt.

Selbst aber wenn das Unmögliche geschehen sollte und zwischen Syrien und Israel direkte Verhandlungen ohne Vermittler aufgenommen würden, wäre mit einem baldigen Friedensabschluss kaum zu rechnen - und zwar aus folgenden Gründen.

Erstens: Weder die USA, noch Frankreich, noch die Türkei bzw. ein anderer internationaler Vermittler wären in der Lage, den Syrern, den Palästinensern und den Israelis den Preis zu zahlen, den sie für den Frieden verlangen.

Zweitens: Kein israelischer Premier kann Fragen über Krieg und Frieden ohne Abstimmung mit dem Parlament entscheiden. Für Kadima-Chefin Tzipi Livni, die jetzt eine Parlamentskoalition bildet und noch nicht einmal Regierungschefin geworden ist, wäre das aber eine praktisch unlösbare Aufgabe. Nur charismatische Personen wie Ariel Sharon oder Yitzhak Rabin waren in der Lage, die Knesset von der Richtigkeit ihrer Standpunkte zu überzeugen. Ähnliche Persönlichkeiten gibt es bislang nicht in der Führungsspitze Israels.

Drittens: Zwischen Fatah und Hamas ist faktisch ein Bürgerkrieg im Gange. Beide erheben jedoch Anspruch darauf, Ostjerusalem zur Hauptstadt des künftigen palästinensischen Staates zu machen.

Viertens: Die meisten Israelis und Palästinenser sind nicht bereit, miteinander in Frieden zu leben. Fazit: Es gibt zu viele „Aber“. Insofern wird das „politische Vermächtnis“ Olmerts wohl noch lange nur auf Papier bleiben.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 2. Oktober 2008; http://de.rian.ru



Zurück zur Israel-Seite

Zur Palästina-Seite

Zur Nahost-Seite

Zurück zur Homepage