Alltäglicher Terror
Israel zerstört im Westjordanland die Lebensgrundlagen der Palästinenser
Von Karin Leukefeld *
Im von Israel besetzten Westjordanland haben israelische Soldaten in
der jüdischen Siedlung Barkan am Donnerstag (22. Juli) einen Palästinenser
erschossen, ein weiterer Mann sei geflohen, heißt es nach Angaben einer
Armeesprecherin. Weil sie auf Warnungen nicht reagiert hätten, sei das
Feuer eröffnet worden. Soldaten sind nach Angaben der Armeesprecherin in
der Siedlung stationiert, um Einbrüche zu verhindern.
Obwohl ein Moratorium für den Bau weiterer israelischer Siedlungen im
Westjordanland erst Ende September ausläuft, hat der israelische
Vizeregierungschef und Innenminister Eliyahu Yishai am Donnerstag an
einer Grundsteinlegung teilgenommen. In einem Industriegebiet südlich
von Hebron soll ein Verwaltungsgebäude gebaut werden, das für 15
jüdische Siedlungen mit rund 4500 Bewohnern zuständig sein soll.
Öffentliche Gebäude wie Schulen, Krankenhäuser und Synagogen sind von
dem Baustopp ausgenommen.
Derweil werden palästinensische Wohnungen und Infrastruktur im
Westjordanland von Israel weiter zerstört. Anfang der Woche hatte das
israelische Militär in den Dörfern Hmayyir und Ein Ghazal im Jordantal
74 Gebäude eingerissen, darunter Wohnungen und Wohnzelte, Koch- und
Waschhäuser sowie Ställe. Ebenfalls vernichtet wurden Wassertanks,
Weizenvorräte und Viehfutter. 107 Menschen wurden vertrieben, darunter
52 Kinder. Seit Anfang des Jahres wurden nach Angaben der Vereinten
Nationen mindestens 198 palästinensische Gebäude im Westjordanland
zerstört und 300 Menschen vertrieben. Nach Angaben der israelischen
Tageszeitung Haaretz will die Regierung mit den Zerstörungen gegen
»illegale« Baumaßnahmen im Gebiet C vorgehen, das rund 60 Prozent der
Westbank umfaßt. Israel übt dort die zivile und militärische Kontrolle
aus, die rund 150000 Palästinenser, die dort leben, werden mit einer
Fülle von Einschränkungen drangsaliert. Bauen dürfen sie so gut wie
nicht, gegen die Vertreibungen und Zerstörungen haben sie juristisch
kaum eine Handhabe, zumal wenn Israel die Gebiete kurzerhand zur
»militärischen Sperrzone« erklärt.
Das Jordantal, nicht zuletzt wegen seines Wasserreichtums die Kornkammer
der Region, wurde von Israel 1967 besetzt und fast vollständig zur
»militärischen Sperrzone« erklärt. Es ist durch fünf feste israelische
Kontrollposten abgesperrt, die nachts geschlossen bleiben. Palästinenser
gelangen nur hindurch, wenn sie im Jordantal ihren Wohnsitz haben oder
älter als 30 Jahre sind. Gleichzeitig beuten israelische Unternehmen wie
der Nahrungsmittelkonzern Agrexco mit Produktmarken wie Carmel, Carmel
Bio Top, Jaffa und Ecofresh das Jordantal rücksichtslos aus. So werden
die palästinensischen Bauern beispielsweise gezwungen, ihre Produkte den
Siedlern gegen Bezahlung zu überlassen, damit diese die Kontrollposten
passieren, verpackt und exportiert werden können. Teilweise erhalten die
Produkte sogar den Vermerk »Made in Israel«.
* Aus: junge Welt, 23. Juli 2010
Dokumentiert: Interview mit Hamas-Minister
"Europa kann in Palästina eine tragende Rolle spielen"
Die EU muß sich klar zugunsten eines Endes der Belagerung des
Gazastreifens positionieren. Ein Gespräch mit Mahmud Al-Zahar **
Mahmud al-Zahar (65) ist Mitbegründer und Führungsmitglied der Hamas
sowie Außenminister der Gaza-Regierung.
Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton hat am 18. Juli den
Gazastreifen besucht, wollte sich aber nicht mit Spitzenvertretern der
Hamas treffen. Was sagen Sie dazu?
Wir werden das noch diskutieren. Aber Lady Ashton hat mit den Menschen
in Gaza gesprochen, und von denen ist die Hamas ein Teil. Wenn wir
Aliens wären oder irgendein Fremdkörper, würden wir seit langem
hinweggefegt worden sein.
Es ist dem israelischen Staatsterrorismus weder gelungen, den
palästinensischen Widerstand noch die Hamas in die Knie zu zwingen. Das
ist eine faktische Tatsache, der auch Lady Ashton Rechnung tragen muß.
Und mit ihr zusammen Europa.
Ist das eine Drohung?
Ganz im Gegenteil. Das ist eine Öffnung. Europa kann in Palästina eine
tragende Rolle spielen, vorausgesetzt, daß es in der Praxis unter Beweis
stellt, daß es die Besatzer- und Annexionspolitik Israels nicht
unterstützt. Eine dieser Taten ist eine klare Stellungnahme zugunsten
eines Endes der Belagerung des Gazastreifens samt entsprechender
Aktivitäten.
Dies, das möchte ich unterstreichen, ist ein politisches und kein
humanitäres Problem. Die Palästinenser reklamieren ihr Recht auf
Widerstand und verlangen die Einhaltung der Genfer Konvention sowie
jenes internationalen Rechts, das Israel immer wieder gebrochen hat. Die
Palästinenser bitten nicht um Barmherzigkeit.
Ist die »Intifada des Meeres« mit internationalen Hilfsschiffen beendet?
Keineswegs. Ich weiß sicher, daß acht Schiffe bereitstehen, auch während
des Fastenmonats Ramadan (der dieses Jahr am 11.August beginnt; Anm. d.
Red.) vom Persischen Golf aus in See zu stechen.
Es gibt Leute, die behaupten, daß Ägypten die Durchquerung des
Suezkanals verhindern könnte ...
Ich glaube wirklich nicht, daß Ägypten jemals in der Lage wäre, diese
internationale Kampagne zu stoppen.
Dem iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad wird vorgeworfen, er
habe mehrfach die Beseitigung Israels beschworen. Und die Hamas?
Ahmadinedschad bezieht sich dabei auf die Niederlage des zionistischen
Regimes als Vorrausetzung für die Verwirklichung der Rechte des
palästinensischen Volkes. Ein Regime zu besiegen, das kontinuierlich und
straflos ein Volk unterdrückt, ist nicht nur ein Recht, sondern auch
eine Pflicht des palästinensischen Widerstandes. Die Religion hat mit
diesem Diskurs nichts zu tun. Israel ist nicht deshalb unser Feind, weil
es der Staat der Juden ist, sondern weil es jeden Tag unsere Rechte mit
Füßen tritt und sich weiterhin unser Land aneignet.
Der Präsident der Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, hat die Tür zum Dialog
mit der Hamas nicht geschlossen. Und Sie?
Wir sind zum Dialog bereit, allerdings ohne Vorbedingungen und unter
Respektierung des vom palästinensischen Volk bei den Parlamentswahlen im
Januar 2006 frei zum Ausdruck gebrachten Willens. Dieses Votum und nicht
die Waffen haben den Sieg der Hamas bestätigt. Und um beim Thema zu
bleiben: Warum fordert der demokratische Westen Abbas nicht dazu auf,
endlich die Präsidentschaftswahlen anzusetzen? Welche Legitimation kann
ein Präsident haben, dessen Mandat seit 17 Monaten abgelaufen ist?
Sie sprechen von Freiheit, doch die Hamas hält seit mehr als vier Jahren
den israelischen Soldaten Gilad Schalit gefangen ...
Und Israel hält seit sehr viel längerer Zeit über zehntausend
Palästinenser gefangen. Wollen Sie die Wahrheit wissen?
Wie lautet Ihre Wahrheit?
Nun, es war Israel, das sich aus den Verhandlungen zurückgezogen hat,
und es war der Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der das erreichte
Abkommen annullierte. Der deutsche Vermittler weiß das sehr genau.
Fragen Sie ihn, wie die Dinge gelaufen sind. An unserer Forderung hat
sich nichts geändert (die Freilassung von eintausend inhaftierten
Palästinensern; Anm. d. Red.). Wenn Israel sie akzeptiert, wird Schalits
Gefangenschaft keinen weiteren Tag dauern.
Ist die Hamas von US-Präsident Barack Obama enttäuscht?
Enttäuscht sind nur jene, die sich falschen Erwartungen hingegeben
haben. Wir gehören nicht dazu. Obama ist ein guter Redner, aber mit ihm
hat sich in Palästina nichts geändert.
Interview: Umberto De Giovannangeli
Das Interview erschien zuerst in der italienischen Tageszeitung
l’Unità. Übersetzung: Andreas Schuchardt
Quelle: junge Welt, 23. Juli 2010
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