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Bürgermeister, Gewerkschaftsführer - und nun Herausforderer von Ariel Sharon:

"Schnauzbart" Amir Peretz wurde zum Vorsitzenden der israelischen Arbeitspartei gewählt - Ein politisches Erdbeben?

Amir Peretz hat in einer Urabstimmung der Mitglieder der israelischen Arbeitspartei den favorisierten Amtsinhaber, den 82-jährigen Schimon Peres, besiegt. Unmittelbar nach seinem Wahlsieg kündigte er an, dass seine Partei die Regierungskoalition verlassen werde. Es wird also vorgezogene Neuwahlen, wahrscheinlich im Februar 2006, geben.
Im Folgenden dokumentieren wir drei Porträts des hier zu Lande bis dato weitgehend unbekannten Politikers, der eine interessante Biografie vorweist.



Wer ist Amir Peretz?

Amir Peretz wurde 1952 in Marokko geboren. Im Alter von vier Jahren immigrierte er mit seinen Eltern nach Israel. Dort wohnte die Familie zunächst in einem Durchgangslager, der heutigen Stadt Sderot. Peretz` Vater, früherer Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Marokko, fand Arbeit in einer Fabrik, seine Mutter arbeitete in einer Wäscherei. Mit 14 verteilte Peretz Flugblätter über soziale Gerechtigkeit. Er verehrte Che Guevara. Mit 18 ging er zur Armee.

Nach einer schweren Verletzung im Sinai 1974 war Peretz für zwei Jahre zunächst ans Krankenbett und dann an einen Rollstuhl gebunden. In dieser Zeit gründete er eine Farm bei Sderot und spezialisierte sich auf den Anbau von Rosen- und Knoblauch. Hier lernte er seine heutige Frau Ahlama kennen. Sie leben heute gemeinsam mit vier Kindern in Sderot.

1983 wurde Amir Peretz Bürgermeister von Sderot. Seinen Weg in der Arbeitspartei machte er an der Seite von Avraham Burg, Haim Ramon und Yossi Beilin. Seit 1988 ist er Mitglied der Knesset und seit 1995 Vorsitzender der Gewerkschaftsverbands Histradrut. Später gründete er die Gewerkschaftspartei "Am Echad", die 1999 zwei, dann drei Mandate erhielt. 2004 fusionierte die Partei mit der Arbeitspartei. Ironischerweise war es kein geringer als Shimon Peres, der die umstrittenen Zusammenlegung der Parteien unterstützte.

Am Tag nach der überraschenden Wahl von Amir Peretz zum Parteivorsitzenden ist der Jubel in Sderot groß. "Was hier passiert ist, ist ein Erdbeben. Wir müssen die Dinge beim Namen nennen: Hier geht es um Israel gegen Israel. Es ist der Streit der Mizrachim gegen die Aschkenazim", so ein Einwohner von Sderot. (Ynet, 11.11.)

Quelle: Newsletter der Botschaft Israels in Berlin vom 11. November 2005


Eisenbart

Amir Peretz wurde neuer Vorsitzender der israelischen Arbeitspartei

Ein Markenzeichen des neuen Chefs der israelischen Arbeitspartei ist ein respektabler Schnauzbart. Der Zeitung »Jediot Ahronot« sagte Amir Peretz, dieser gehöre ihm nicht mehr allein. »Er gehört der Öffentlichkeit, und wenn die Leute wollen, dass ich ihn abrasiere, muss es ein Referendum geben.« Ebenso typisch für ihn ist seine eiserne Durchsetzungskraft: Er hat sich hochgearbeitet, und das, obwohl man in Israel nicht viel wird, wenn man aus einer Familie afrikanischer Einwanderer stammt. »Weil es so ist, heisst das noch lange nicht, dass es immer so bleiben muss, sagt Peretz, ein Mann, der die obersten Knöpfe seiner unmodischen Hemden am liebsten geöffnet lässt. »Ich werde dafür sorgen, dass die unglaubliche Ungerechtigkeit aufhört«, sagt er als ein Mann, der Armut und Diskriminierung selbst zu spüren bekam.

Peretz wurde 1952 in Marokko geboren; seine Familie wanderte vier Jahre später nach Israel ein, wo er in einem Lager für Neueinwanderer aufwuchs, in dem furchtbare Zustände herrschten. Während seines Militärdienstes erlitt er einen Unfall und verbrachte ein Jahr im Rollstuhl. Das Militär bot ihm an, eine Tankstelle zu übernehmen. Doch Peretz wollte kein Chef sein Stattdessen machte er eine sehr erfolgreiche Knoblauch- und Rosenzucht auf.

Seine ersten Gehversuche in der Politik unternahm er als Bürgermeister seiner Heimatstadt Sderot. Später wurde er Parlamentsabgeordneter für die Arbeitspartei, gründete kurzzeitig seine eigene politische Bewegung »Eine Nation«, um dann 2004 zu den Sozialdemokraten zurückzukehren. Seinen sozialistischen Idealen ist er dabei stets treu geblieben. Im Wahlkampf um den Vorsitz der Arbeitspartei machte er sich immer wieder für faire Löhne, mehr staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft sowie soziale Gleichberechtigung stark und versprach, auf ein baldiges Ende der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete hinzuarbeiten.

Die Einwohner seiner Heimatstadt, einer Likud-Hochburg, lieben »ihren Amir« auch heute noch. Denn als Vorsitzender des mächtigen Gewerkschaftsblocks Histadrut – ein Amt, das Peretz seit 1995 ausübt – wurde er zu einem stahlharten Streikführer.

Oliver Eberhardt, Jerusalem

Aus: Neues Deutschland, 12. November 2005


Peretz ist nicht Peres

Israel und die sozialdemokratische Arbeitspartei nach der Abwahl ihres Vorsitzenden. Austritt aus der Großen-Koalitions-Regierung angekündigt

Von Uri Avnery*

Der neue Vorsitzende der israelischen Arbeitspartei heißt Amir Peretz. In innerparteilichen Wahlen kam der Gewerkschaftsführer und marokkanische Einwanderer nach Auszählung aller Stimmen auf mehr als 42 Prozent gegenüber knapp 40 Prozent für den bisherigen, 82jährigen Amtsinhaber Schimon Peres. Der 54jährige Peretz kündigte an, er wolle die Partei nach links führen und wahrscheinlich schon an diesem Wochenende über die Fortsetzung der großen Koalition mit dem Likud-Block entscheiden. Dabei legte sich Peretz bereits am Donnerstag fest, als er den »Rückzug« aus der Regierung ankündigte. Kommentatoren rechnen mit einem politischen Umbruch.

Einer der Hauptvorzüge ist der letzte Buchstabe seines Namens im Hebräischen: Pest nicht Peres. Es wird gesagt, daß die Laborpartei in einem Zustand der Stagnation sei. Das ist ein Understatement. Sie ist in einem fortgeschrittenen Zustand der Auflösung. Seit fast fünf Jahren befindet sie sich in Geiselhaft von Schimon Peres. Unter seiner Führung hat sie jeden Rest einer unabhängigen Weltsicht verloren, national wie sozial. Als Scharon an die Regierung kam, wurde Peres sein weltweiter Propagandist und Pressesprecher. Bis dahin assoziierte die Welt Scharon mit dem Massaker in Kibiya von 1953, dem Angriff auf den Libanon 1982 und dem Sabra-und-Shatila-Massaker. Es war Schimon Peres, der Friedensnobelpreisträger, der für Scharon weltweite Akzeptanz als verantwortlicher Staatsmann erreicht hat.

Nach dem halb-komischen Intermezzo, die Regierung aus Wahlgründen zu verlassen, lieferte Peres seiner Partei noch einmal eine Scharon-Regierung, bei der sie der Hauptunterstützer des »Siedlungsabzugs« aus dem Gazastreifen wurde. Er stellte keine Bedingungen: weder daß der Rückzug in Absprache mit den Palästinensern geschehen solle, noch daß das Gebiet tatsächlich befreit werden würde und auch nicht, daß der Rückzug zu Verhandlungen über einen Abzug auch aus der Westbank führen sollte.

Wir sehen nun das Ergebnis: Der Gazastreifen wurde zu einem großen Gefängnis, die Besatzung dort geht mit andern Mitteln weiter (Isolierung von der Westbank und der ganzen Welt), die Lebensbedingungen sind noch schlechter geworden (wer dachte, daß dies möglich sei?). Die Folge davon: das Blutvergießen geht weiter und wird wahrscheinlich noch schlimmer werden.

Wir sehen und lesen jeden Tag, wie die Laborpartei es Scharon ermöglicht, seinen Plan auszuführen: 58 Prozent der Westbank zu annektieren, den Rest zu von einander getrennten Enklaven entstehen zu lassen, die Trennungsmauer zu bauen, (die eine Erfindung von Labor ist), die große Teile der Westbank an Israel anfügt. Die Straßensperren. Die Erweiterung der Siedlungen mit rasender Geschwindigkeit. Die Auflösung von »Außenposten« steht nicht zur Debatte. Die Ermordungen und Verhaftungen gehen weiter, auch nachdem die Palästinenser eine Waffenpause erklärt haben – der sich anzuschließen, Scharon ablehnt. Es gibt keine Friedensverhandlungen, und der Verteidigungsminister erklärte, daß der Frieden »auf die nächste Generation« warten müsse. Ohne politische Erfolge erreicht zu haben, ist die Position von Mahmoud Abbas unterminiert. So wird die gewünschte Situation geschaffen, daß »es niemanden gibt, mit dem man verhandeln kann«.

Im sozialen Bereich vergrößert die Regierung mit Unterstützung von Labor den Unterschied des Einkommens und verschlimmert die Armut. Wenn man diese thatcheristische Politik näher betrachtet, gibt es keinen wirklichen Unterschied zwischen Scharon, Netanjahu und Peres: nur leere Slogans. Ich kenne Peretz nicht näher, und ich kann nicht beurteilen, ob er die Fähigkeit hat, die Partei und die Nation zu führen. Aber er hat etliche politische Vorteile, die kein anderer Parteiführer hat: Er hat eine klare soziale Agenda, er ist konsequent für Frieden mit den Palästinensern; er ist ein authentischer Vertreter der orientalischen Juden, ohne ein »ethnischer« Politiker zu sein. Von ihm geht Aktivismus aus, er hat einen direkten Draht zu den Menschen und hat seine Fähigkeit als Vorsitzender der Histadruth bewiesen. Nun muß ihm eine Chance gegeben werden, den Test als Parteiführer und nationaler Führer zu bestehen. Ich hoffe, es gelingt ihm.

Übrigens: Peretz bedeutet im Hebräischen »Durchbruch«.

* Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs

Aus: junge Welt, 12. November 2005


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