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"Jitzhak, lass uns etwas machen!"

Vor 15 Jahren wurde Israels Premier Jitzhak Rabin ermordet

Vor 15 Jahren, am 4. November 1995, wurde der israelische Ministerpräsident Jitzhak Rabin von einem fanatischen Befürworter der israelischen Besatzungspolitik ermordet. Rabin, der noch in den 80er Jahren mit harter Hand gegen palästinensische Demonstranten vorgehen ließ, war später um einen Ausgleich mit den Palästinensern bemüht. Dafür erhielt er ex aequo mit PLO-Chef Yasser Arafat und Außenminister Shimon Peres den Friedensnobelpreis. Mit Shlomo Lahat, einem der engsten Freunde und Vertrauten Rabins, sprach für Neues Deutschland (ND) Tobias Raschke.

Shlomo »Chich« Lahat, geboren am 9. November 1927 in Berlin und 1933 nach Palästina ausgewandert, gehörte dort zunächst der jüdischen Untergrundorganisation Haganah an. Später diente er in der israelischen Armee und nahm mit ihr, zuletzt als Generalmajor, an mehreren Kriegen teil. Danach war Lahat für die Likud-Partei von 1974-93 Bürgermeister Tel Avivs.


ND: Sie waren ein Freund Rabins.

Lahat: Ich habe ihn 1948 in der Givati-Brigade kennen gelernt. Wir attackierten die Ägypter südlich von Ashkelon. Seitdem war ich mit Rabin befreundet.

Sie machten beide in der Armee Karriere.

1947 meldete ich mich freiwillig zum Militär. 1948 wurde ich Kompaniekommandeur. 27 Jahre gehörte ich der Armee an, zuletzt im Rang eines Generals. Anfang 1973 dachte ich, dass wir bald Frieden bekommen werden, und bin ausgestiegen.

Rabin entwickelte sich vom brutalen General zum Freund des Friedens, der sogar Arafat die Hand schüttelte. Er hatte keine auf ewig festgefügten Überzeugungen. Wenn die Bedingungen sich änderten, änderte er auch seine Meinung.

Wir haben das diskutiert. Er wollte Frieden. Aber wie die Mehrheit der Bevölkerung hat er nicht geglaubt, dass wir Frieden mit den Arabern bekommen können. Ich dachte anders. Als er zu der Überzeugung gelangte, dass zumindest ein Teil der arabischen Bevölkerung Frieden wolle, hat er seine Meinung geändert.

Das betrifft auch die syrischen Golan-Höhen?

Im Wahlkampf 1992 sagte er, dass wir den Golan nicht hergeben können, weil es sich um einen wichtigen strategischen Punkt handelt und man sich nicht darauf verlassen könne, dass sie uns nicht wieder attackieren wie 1967. Ein Jahr später änderte er seine Meinung. Hört mal her, sagte er damals, die Syrer wollen auch Frieden. Da er im Wahlkampf etwas anderes versprochen hatte, sagte er ein Referendum über den Golan zu. Wenn die Mehrheit für die Aufgabe sei, geben wir ihn her, ist sie dagegen, bleiben wir da – auch wenn ich anders denke.

Von 1994 bis 2002 waren Sie Vorsitzender des »Rats für Frieden und Sicherheit«.

Der »Council for Peace and Security« ist eine 1988 gegründete Gruppe von über 1200 ehemaligen Offizieren vom Oberst an aufwärts. Wir gehören zu keiner politischen Partei. Unser Manifest besteht aus sechs Punkten: 1. Die Kontrolle eines fremden Landes/Volkes widerspricht unseren menschlichen Werten. Je früher man das beenden kann, desto besser. 2. Frieden ist wichtig für die Sicherheit des Staates Israel. 3. Wenn wir nicht innerhalb weniger Jahre zu einem Frieden kommen, gibt es Krieg. Die Initiative liegt dann bei Ländern wie Iran oder Libyen mit atomaren und chemischen Waffen. Das bringt niemandem Gutes. 4. Wenn wir den Frieden möchten – und das wollen wir –, müssen wir verzichten und einen Kompromiss finden; Land zurückgeben und, wenn es keinen anderen Weg gibt, auch ein paar Siedlungen aufgeben. 5. Ein palästinensischer Staat stellt für Israel keine Gefahr dar. Wir möchten, dass die Palästinenser einen Staat bekommen. 6. Früher hieß es, dass Jerusalem die vereinte Hauptstadt Israels sein soll. Seit dem Jahr 2000 sagen wir, dass man Jerusalem teilen sollte, in eine jüdische und eine palästinensische Stadt. Der Tempelberg sollte unter internationale Verwaltung, so dass jeder kommen und beten kann.

Für den Friedensprozess wurde Rabin sehr angefeindet und sogar als Nazi verunglimpft.

Wir, die Gruppe des Rates für Frieden und Sicherheit, haben Rabin sehr unterstützt. Niemals zuvor hatten 100 ehemalige Generäle mit Plakaten auf der Straße gestanden. Das waren alles Leute, die mindestens 20 Jahre in der Armee waren. Wir hatten fünf Kriege durchgemacht und engagierten uns jetzt für den Frieden.

Wie war die Stimmung 1995?

Die rechten Parteien haben jeden Freitag an Straßenkreuzungen demonstriert, auch neben Rabins Haus. Seine Frau Lea wurde beschimpft und Jitzhak in SS-Uniform abgebildet. Über mehrere Monate sagte ich zu Jitzhak, dass wir etwas machen müssen, da das so nicht weitergehen kann. Er wurde täglich angegriffen.

Was rieten Sie ihm?

Ich sagte: Wir müssen etwas machen. Wir verlieren jeden Tag Leute. Es war meine Initiative, eine Demonstration zu organisieren.

Wie reagierte Rabin?

Er fragte mich: Chich, was passiert, wenn wir in Tel Aviv eine Demonstration organisieren und zu wenige Leute kommen? Wenn die Leute sehen, dass wir nur eine kleine Gruppe sind, werden sie die Seiten wechseln.

Aber Sie überzeugten ihn dann?

Ich hab ihm gesagt: Jitzhak, vertrau mir. Mit Hilfe eines Freundes aus Paris, Jean Friedman, organisierte der Rat für Frieden und Sicherheit dann 600 Busse zur Demonstration auf dem großen Platz vor dem Tel Aviver Rathaus. Es waren viele Organisationen beteiligt und etwa 200 000 Leute gekommen. Das hätte vorher niemand geglaubt.

»Chich, ich Idiot hab mich noch gar nicht bei dir bedankt«, sagte er zu mir kurz danach. »Das war einer der glücklichsten Tage meines Lebens. So was hab ich mir nicht vorgestellt. Und das ist alles eurer Initiative zu verdanken.« Zwei Minuten später sah ich auf einmal Leute laufen. Ich ging die Treppe hinunter und sah, was passiert war. Wir waren die letzten, mit denen er gesprochen hatte.

Was haben Sie gemacht?

Ich bin gleich ins Krankenhaus gefahren und suchte den Direktor auf. Der kam gerade aus dem Operationssaal und sagte: Unser Ministerpräsident ist verwundet, aber er wird überleben. Ich sah in seinen Augen, dass er log. Er hatte nicht den Mut, die Wahrheit zu sagen.

Sie machen sich heute Vorwürfe?

Es war meine Verantwortung. Es ist meine Schuld, dass es passiert ist.

Der Täter wollte schon vorher an einem anderen Ort zuschlagen.

Das sagen mir alle Leute bis heute. Der Mörder hatte es ja schon zweimal vorher versucht. Der Unterschied ist, dass dies nicht unter meiner Verantwortung geschah. Es war meine Initiative, und ich hatte Rabin gebeten zu kommen.

Was hat sich seither verändert?

Es ist die große Tragödie, dass wir Rabin nicht mehr unter uns haben. Seit seiner Ermordung haben wir viel von unserer Hoffnung verloren.

Die israelische Gesellschaft hat sich seit dem Mord an Rabin also verändert.

Ich glaube, das ist wahr. Wir wussten nichts von den Orthodoxen, den Fanatikern, die auf einmal da waren.

Politischer Mord in Israel – unvorstellbar bis dahin?

Samstagabend war die Demonstration, morgens um 10 Uhr hatte mich das niederländische Fernsehen interviewt. Die letzte Frage lautete, ob ich die Möglichkeit eines politischen Mordes in Israel sähe. Nicht jetzt, sagte ich. Das wird passieren, wenn wir mit einem Palästinenserstaat einverstanden sind oder wenn wir Siedlungen räumen. Aber heute – unmöglich. Keiner glaubte, dass so etwas passieren kann.

* Aus: Neues Deutschland, 2. November 2010


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