Respekt vor den Menschen
Der israelische Fotograf David Rubinger über sein berühmtestes Bild, die Arbeit als Kriegsreporter und den Nahen Osten im Dauerkonflikt *
Neues Deutschland: Ihr Foto aus dem Sechs-Tage-Krieg 1967 von den drei israelischen Soldaten der 55. Fallschirmjäger-Brigade vor der Klagemauer ist zu Ihrem Markenzeichen und weltberühmt geworden. Wie haben Sie
die Situation damals erlebt?
David Rubinger: Ich war bei General Tals Division in El Arish. Am dritten Kriegstag hörte ich Gerüchte, dass es in
Jerusalem zu Gefechten kommen würde. Ich quetschte mich in einen Hubschrauber, der
Verwundete nach Beer Sheva ausflog. Von dort aus fuhr ich mit dem Auto nach Jerusalem. Zuerst
schaute ich, dass meine Familie wohlauf ist. Dann ging ich zu Fuß in die Altstadt. Ich erreichte die
Klagemauer, 15 Minuten nachdem die Fallschirmjäger sie eingenommen hatten. Um eine möglichst
effektvolle Aufnahme zu machen, legte ich mich auf den Boden und richtete die Kamera Richtung
Himmel. Ich habe geheult, als ich die Fotos geschossen habe.
Es war eine hoch emotionale Situation. Viele Israelis haben vor Freude und Erleichterung geweint.
Man darf nicht vergessen, dass wir in den Wochen vor den Kampfhandlungen in Todesangst waren.
Als wir den Krieg plötzlich gewonnen hatten, fühlten wir uns wie ein Delinquent, der vor einem
Augenblick noch unter dem Galgen stand und dann nicht nur in letzter Sekunde begnadigt, sondern
zum König gekrönt wurde. Der Sieg geschah so wundersam, dass religiöse Juden davon überzeugt
waren, er könne nur von Gott kommen – er hatte eine messianische Bedeutung.
Und heute?
Es ist ein Paradoxon entstanden: Ausgerechnet der lebensrettende Sieg hat sich als ein
schreckliches Unglück erwiesen. Der Einzige, der das damals schon begriffen hatte, war Ben-
Gurion. Er sagte: »Raus aus den besetzten Gebieten, sonst werden wir daran ersticken.« Wäre Ben-
Gurion nach 1967 noch Premierminister gewesen, er hätte dort keine israelischen Siedlungen
zugelassen.
Ihr Foto gilt als die Ikone des Sechs-Tages-Krieges.
Ja. Obwohl einer der Soldaten, zum Entsetzen jedes Rabbiners, seinen Helm abgenommen hatte
und barhäuptig zu sehen ist: Das Bild von den drei Fallschirmjägern ist vielen Israelis heiliger als alle
Gebete vor der Klagemauer zusammen. Das wurde mir klar, als ich diverse Gerichtsverfahren
führen musste, um das Foto vor ideologischer Vereinnahmung und mich vor Verletzung meines
Urheberrechts zu schützen – beispielsweise als die rechtsradikale Moledet-Partei es für eine riesige
Wahlkampf-Kampagne benutzt hat. Ohne Erfolg. Die Begründung des Obersten Gerichtshofs: Das
Bild sei »ein nationaler Schatz« Israels.
Und was ist es für Sie?
Ich begreife das Bild wie die israelischen Linken und Liberalen: als ein Bild. Es gehört nicht zu
meinen besten Fotografien. Die Komposition ist nicht besonders gut.
David Ben-Gurion, Golda Meir, Bruno Kreisky, Henry Kissinger, Yitzhak Rabin: Sie alle und viele
mehr haben sich von Ihnen fotografieren lassen – nicht selten sogar hinter den Kulissen der
weltpolitischen Bühne. Ariel Sharon sagte: »Ich vertraue Rubinger, obwohl ich weiß, dass er mich
nicht wählen wird.«
Was macht Ihren Erfolg aus?
Erstens mein Respekt vor der Arbeit, zweitens mein Respekt vor den Menschen. Heute gibt es beim
Fotografieren technisch nicht mehr viel zu lernen. Magazine wie »TIME« und »LIFE« haben mich
nicht bezahlt, damit ich scharfe Bilder liefere, sondern dafür, dass ich ein Verhältnis zu den Objekten
herstelle. Wenn Menachem Begin in privatem Kreis Geburtstag feierte, dann hat seine Frau mich
eingeladen. Warum? Weil wir eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut hatten.
In welchen Momenten haben Sie die Kamera beiseite gelegt?
Ich habe nie Fotos gemacht, die Persönlichkeitsrechte verletzen, um Auflagenzahlen zu erhöhen.
Ich sehe meine Aufgabe darin, Zeitgeschehnisse zu dokumentieren. Pressefreiheit und Demokratie
bedeuten nicht, dass die Menschen wissen müssen, wie der Hintern ihres Premierministers
aussieht. Während Ehud Olmert beim Essen Spaghetti aus dem Mund hängen, werde ich ihn nicht
fotografieren. Das hätte nichts mit Journalismus zu tun – ich bin kein Paparazzo.
Als Kriegsfotograf waren Sie häufig in Lebensgefahr. Wie haben Sie Ihre Angst überwunden?
Ich habe oft Angst gehabt. Es gibt keine Helden – es gibt Idioten. Man darf aber nicht versteinern,
wenn man eine Kamera in der Hand hält.
Sie hatten intensiven Blickkontakt mit dem Leiden. Wo sind für Sie die Grenzen des Zeigbaren?
Ich werde nicht mit meiner Kamera in das Gesicht einer weinenden Mutter hineinkriechen, die ihren
Sohn auf dem Schlachtfeld verloren hat. Aber wenn das Leid selbst die Story ist, dann muss ein
Journalist sie machen. Eines Tages musste ich auf der Beerdigung eines schwedischen UNOObersten
fotografieren, der von einem arabischen Heckenschützen getötet worden war. Seine
Witwe hat auf mich eingeprügelt. Ich stand da wie ein Golem und habe ihre Schläge über mich
ergehen lassen.
Für viele Medien in Ihrem Land ist die Veröffentlichung von Bildern der Opfer palästinensischer
Selbstmordattentate ein Tabu, weil sie die Gefühle der Israelis zu sehr verletzen und das Ziel der
Täter – die Verbreitung von Angst und Schrecken in der Bevölkerung – unterstützen könnten. Teilen
Sie diese Position?
Ich bin Fotojournalist und kein Propagandist. Es ist die Aufgabe des Journalisten, die Wahrheit,
soweit sie dem demokratischen Publikum dient, zu zeigen. Zu ermessen, ob es die Moral
beeinträchtigt oder nicht, ist nicht meine Aufgabe. Ohnehin ist in meinen Augen die Wahrheit auch
die beste Propaganda.
Gab es in Ihrem Berufsleben Momente des Grauens, in denen Sie nicht in der Lage waren, den
Auslöser zu bedienen?
Nein. Unscharfe Bilder, schlechte Kompositionen, das ja, wenn man unter Druck ist. Aber ich glaube
und hoffe, dass ich in keinem Fall paralysiert war, wenn es darum ging, auf den Knopf zu drücken.
Sie haben den blutgetränkten Zettel fotografiert, von dem Ministerpräsident Yitzhak Rabin am 4.
November 1995 den Text des Song for Peace abgelesen hatte – wenige Minuten, bevor er von dem
religiösen Fanatiker Yigal Amir ermordet wurde. Welche Bedeutung hatte das Attentat für Sie?
Zu meinem großen Leidwesen muss ich gestehen, dass der verdammte Mörder das Los Israels
mehr bestimmt hat als irgendjemand anderer.
Dieses Jahr wird Israel den 60. Jahrestag seiner Staatsgründung feiern – und bald auch ein neues
Friedensabkommen?
Nein. Es gibt nur Notlösungen. Wir werden von Tag zu Tag moralisch schwächer. Der Krieg ist zur
Raison d’être, zum Lebensinhalt der Israelis geworden. Ein Drittel
der Bevölkerung hätte keinen Grund mehr, morgens aufzustehen, wenn plötzlich Frieden
ausbrechen würde.
Das klingt, als sei der Krieg zur zweiten Natur der Israelis geworden.
Ich will nicht sagen, dass die Regierung und das Militär vorsätzlich den Kriegszustand
aufrechterhalten, aber unterbewusst. 60 Jahre Konflikt haben leider ihren Einfluss auf das Denken
und Fühlen der Bevölkerung.
Und die Palästinenser?
Wie bei uns Yigal Amir gesiegt hat, so haben bei ihnen die Islamisten gesiegt. Sie haben Leuten wie
mir die Argumente geraubt und spielen den israelischen Rechtsradikalen in die Hände. Die sagen:
Sharon hat Euch den Gaza-Streifen gegeben, und was haben wir bekommen? Raketen.
Bisher haben wir Massel gehabt, aber was ist, wenn eine dieser Raketen eines Tages in einem
Kindergarten einschlägt? Den Palästinensern fehlt ein arabischer Ben-Gurion, der der Hamas die
Waffen abnimmt. Vielen Arabern fehlt es an Wirklichkeitssinn. Sie haben nicht verwunden, dass sie
nicht mehr Träger der Kultur sind – sie haben die Null erfunden, ohne sie gäbe es keine Computer –,
wie sie es einst waren. Dieser Inferioritäts-Komplex ist eine wesentliche Ursache ihres Hasses auf
die westliche Welt.
Die hat aber auch kläglich versagt, wenn es darum geht, einen gerechten Frieden zwischen Israelis
und Palästinensern zu stiften, oder?
Der Westen, inklusive Israel, hat leider nie die arabische Mentalität verstanden oder versucht, sie
positiv zu nutzen. Israels Führung – die seit 1967 beinahe durchweg aus Generalen und Feldherren
besteht – verstand es nie, mit den Palästinensern auf Augenhöhe zu diskutieren. Stattdessen
begegnet sie ihnen nur von oben herab oder über Kimme und Korn des Gewehrs. Yitzhak Rabin hat
das verstanden, und als er Arafat sagte »Wir haben gekämpft, du warst ein Held, genug des
Blutvergießens!«, hatte er Arafat »gekauft« – tausendmal mehr als mit Bomben.
* Aus: Neues Deutschland, 15. März 2008
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