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Gestrandet in der Finn Street Nr. 1

Flüchtlinge in Tel Avivs Süden – auf der anderen Seite der Stadt

Von Klaus Lederer *

Tel Aviv ist eine wunderschöne Stadt. Das Weltkulturerbe der Bauhausarchitektur, von der UNESCO anerkannt, ist traumhaft. Liberalität und Weltoffenheit kennzeichnen Tel Aviv wie keinen anderen Ort in Israel. Menschen unterschiedlicher Herkunft, Lebensweise und Kultur werden von der Stadt angezogen, lassen sich hier nieder, genießen die vielfältigen Freiräume und Möglichkeiten.

Viele Menschen, die einander im pulsierenden südlichen Zentrum der Stadt begegnen, kennen das Haus in der Finn Street Nr. 1 nicht. Es befindet sich im Stadtteil Neve Sha ´anan, kaum zehn Fußminuten entfernt vom Rothschild-Boulevard, auf dem nachts das Leben tobt. Neve Sha ´anan gehört zu den für Tel Aviver Verhältnisse ärmeren Gegenden.

Von Eritrea über Ägypten nach Israel

Im Haus Finn Street 1 befinden sich auf zwei Etagen, von einem Flur abgehend, unübersehbar viele Räume. Sie sind nur einige Quadratmeter groß, ohne Toiletten oder Kochgelegenheiten, haben kaum Fenster, eher kleine Luken. An den Türen prangen knallrote große Zahlen. Gleich hinter der Haustür, im dunklen Korridorbereich, kann man an einem Verschlag lesen: 900. In der ersten Etage stehen andere Zahlen: 1600 oder 1900. Das Haus ist heruntergekommen, ähnelt einem verlassenen Gewerbeschuppen. Sein Innenhof ist eine einzige Müllhalde. Die Zahlen stehen für den Monatspreis in Shekel (fünf Shekel entsprechen etwa einem Euro), der als Miete zu zahlen ist. Nicht selten sind es acht oder zehn Menschen, die sich einen solchen Raum teilen. Gezahlt wird bar. Wer nicht zahlen kann, fliegt raus.

Die Menschen, die hier wohnen, sind Flüchtlinge aus der sudanesischen Region Darfur oder Eritrea. Zehntausend von ihnen haben – geflohen vor Terror, Verfolgung und Krieg – im vergangenen Jahr Israel erreicht. Die Seewege in die »Festung Europa« sind ihnen mehr denn je versperrt, Das EU-Grenzregime Frontex wirkt. Hunderte ertrinken jährlich bei dem Versuch, auf »Seelenverkäufern« den Weg zur italienischen Insel Lampedusa oder nach Malta zu nehmen.

Aber der Landweg durch die Wüste Sinai ist nicht weniger gefährlich. Menschenhändler fordern 10 000 Dollar für die Schleusung. Sie kidnappen Flüchtlinge, verschleppen sie in Wüstengefängnisse, um von den Angehörigen Geld zu erpressen. Die Gefangenen werden geschlagen, vergewaltigt, an ihren Gliedmaßen aufgehängt, mit Elektroschocks oder Wasserentzug in glühender Sonne gefoltert. Der Menschenhandel ist ein einträgliches und gnadenloses Geschäft, eine regelrechte Industrie, die durch die Abschottung Europas gegen die Flüchtlingsströme Afrikas boomt. Und doch nehmen immer neue Flüchtlinge diesen Weg. Nichts zählt für sie mehr, als dem Terror in ihren Herkunftsländern zu entkommen. Viele von ihnen hatten wenig und haben nun überhaupt nichts mehr.

Die meisten, die die Wüste Sinai bezwingen, landen in Tel Aviv. In Israel wird ihr Aufenthalt geduldet. Alle drei Monate muss er erneut registriert werden. Irgendwelche Ansprüche haben diese Menschen nicht. Sie erhalten keine Arbeitserlaubnis, haben keinen Zugang zu medizinischer Betreuung oder Bildung. Viele von ihnen wissen nicht einmal, wie eine Verkehrsampel funktioniert. Sie können sich nicht in einer der im Land gängigen Sprachen verständigen.

Weltoffene oder Stadt mit Bürgerwehr?

In der Botschaft des Landes, dem sie entkommen sind, müssen sie ihre Identität bestätigen lassen. Ohne Pass keine Registrierung. Diese Flüchtlinge sind völlig statuslos. In den Häusern in der Finn Street verkaufen sie ihre Körper, sind zu illegalen oder halbillegalen Erwerbsmethoden gezwungen. Das Geschäft mit ihrer Not ist sehr einträglich. Und es ist meist ebenfalls illegal, doch die Behörden lassen es geschehen.

Jeder kann in das Haus in der Finn Street gehen und sich anschauen, was dort geschieht. Jeder, der es wissen will. Tel Aviv insgesamt atmet eine offene, demokratische Atmosphäre, aber die Regierung und die Stadtverwaltung setzen ihre Prioritäten anders. Die rechtsgerichteten politischen Kräfte in Israel indes nutzen die sozialen Probleme im Süden der Stadt, um die ärmeren Tel Aviver gegen die Migranten und Flüchtlinge in Stellung zu bringen. Eine Bürgerwehr wurde gegründet. Sie mobilisieren Menschen aus den Siedlungen in den besetzten Gebieten für Demonstrationen, die die »Reinigung Tel Avivs von Fremden« fordern. In Tel Aviv selbst finden solche Parolen noch keinen größeren Resonanzboden.

Die Auseinandersetzung um den Charakter Tel Avivs als weltoffene und demokratische Metropole ist ein Kampf um Hegemonie, eine Auseinandersetzung mit hoher Symbolwirkung für ganz Israel. Tel Aviv passt der Rechten Israels nicht. Es geht um zentrale innenpolitische Fragen, zu deren Entscheidung hier ein Exempel statuiert werden soll. In der Wüste Negev befindet sich auf der Höhe der Stadt Mizpe Ramon, in der Nähe der Grenze zu Ägypten, weit entfernt von den Städten und der Infrastruktur Israels, ein Asylcamp für 2000 Flüchtlinge. Ein weiteres ist im Bau, mit Platz für 8000 Menschen. Es sollen, so postuliert die Regierung Netanjahu/Lieberman, »offene Einrichtungen« sein. Aber was sind offene Einrichtungen inmitten einer Wüste?

86 Prozent aller geflüchteten Menschen aus Eritrea weltweit sind als Flüchtlinge anerkannt. Von der israelischen Regierung und der politischen Rechten werden sie als »Infiltratoren« von Al Qaida, also als kollektives Sicherheitsrisiko, oder als »Wirtschaftsflüchtlinge« und damit als Gefährdung der sozialen Stabilität des Gemeinwesens definiert. Die Parole lautet: Diesen Menschen soll jeder »Anreiz« genommen werden, aus Darfur oder Eritrea zu fliehen und sich auf die risikoreiche Suche nach existenziellen Alternativen zu machen. Sie sollen sich dort in ihr Schicksal fügen.

Szenenwechsel. Dror Street 9, Jaffa. Hier befinden sich die Zentrale der Organisation Ärzte für Menschenrechte (Physicians for Human Rights – PHR) und deren Klinik zur Behandlung von Menschen, die in Israel keine Möglichkeit einer gesundheitlichen Betreuung haben. Ich treffe dort Ran Cohen, den Direktor der Organisation, und die Krankenschwester Alicia, die seit drei Jahren freiwillig dort arbeitet.

Über 50 freiwillige Ärzte und Ärztinnen behandeln hier, unterstützt vom UN-Flüchtlingshilfswerk, Menschen, die in Not sind: Arbeitsmigrantinnen und -migranten, deren Krankenversicherung nicht eintritt, Palästinenserinnen und Palästinenser, die aus den besetzten Gebieten nach Israel fliehen mussten, weil sie mit den israelischen Behörden zusammengearbeitet haben oder dessen verleumdet wurden, die lesbisch oder schwul sind und im Gaza-Streifen um ihr Leben fürchten mussten

PHR versteht sich nicht als Wohlfahrtsverein, sondern als politische Menschenrechtsorganisation. Cohen, Alicia und all die anderen, die hier helfen, wissen, dass das Problem nur politisch und grundsätzlich gelöst werden kann und muss – durch die Gewährung sozialer Menschenrechte auf das Notwendigste, Existenzielle, unabhängig vom jeweiligen politischen Status. Sie klären auf, machen Druck, fordern Veränderung. Sie waren es, die die Foltermethoden der Menschenhändler in der Wüste Sinai aufgedeckt haben, von denen sie aus den Erzählungen erfuhren, die Hilfe anboten, wenn Abtreibungen vorgenommen, Schusswunden, Brüche und andere Verletzungen behandelt werden mussten.

Sie helfen den Gepeinigten, Sprachbarrieren zu überwinden, und geben ihnen eine Stimme und die Kraft, sich selbst zu organisieren und füreinander einzustehen. Doch was PHR leisten kann, ist zumeist eine symbolische Hilfe. Für eine umfassende medizinische Betreuung fehlen die Möglichkeiten. So bleibt an manchen Tagen nur die Schließung der Klinik, der Transport der Menschen in Notfallstationen – auch zur Skandalisierung der Defizite.

Verdrängung aus Jaffa hat längst begonnen

PHR steht unter starkem Druck. Seit Jahren nimmt der Rassismus zu, der von den herrschenden Eliten ausgeht. Es gibt öffentliche Aufrufe aus der Mitte der Gesellschaft, nicht mehr an arabische oder afrikanische Menschen zu vermieten. Im Umfeld der Klinik in Jaffa ist die Verdrängung in vollem Gange. Der Charakter des Ortes als vormals arabisch bewohntes und geprägtes Quartier hat sich deutlich verändert. Die urbane Mittelklasse kommt, Aufwertung geht mit Ausgrenzung einher.

Die neuen Nachbarn fühlen sich durch die Klinik gestört, wo vor einem großen Tor oft viele Menschen darauf warten, behandelt zu werden. Es wird schwerer für die Klinik und für PHR, die für ihre Arbeit 2010 den Alternativen Nobelpreis erhalten haben.

* Klaus Lederer ist Vorsitzender des Berliner Landesverbands DIE LINKE. Er besuchte Tel Aviv im Rahmen eines metropolenpolitischen Austauschprojekts der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Aus: Neues Deutschland, 17. Juni 2011



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