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Wieder Streit am Tempelberg

Muslime und orthodoxe Juden demonstrierten gegen Behördenentscheid

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem *

Israels Behörden haben es erstmals Frauen erlaubt, an der Klagemauer mit Gebetsschal und -riemen zu beten. Zudem dürfen seit einer Woche Juden auch oben auf dem Tempelberg beten – ein Schritt zu mehr Religionsfreiheit an Jerusalems heiligen Stätten, aber auch eine Gefahr. Denn jedes Rütteln am Status quo birgt das Risiko weiterer Gewalt in sich.

Sie hatten lange dafür gekämpft. Ließen sich dafür sogar immer wieder festnehmen. Bis es – plötzlich – auch für die »Frauen der Mauer« so weit war: Zuerst entschied ein Distriktgericht, dass es nicht mit der Religionsfreiheit vereinbar sei, Menschen das Beten nach ihren eigenen Regeln zu verbieten. Und die Staatsanwaltschaft legte keine Revision vor dem Obersten Gerichtshof ein. So durften am vergangenen Freitag Frauen das erste Mal an der Klagemauer wie die Männer Gebetsschals und Gebetsriemen anlegen. Nur eine Tora-Rolle durften sie nicht mitbringen.

Angesichts des öffentlichkeitswirksamen Ereignisses ist in den Hintergrund getreten, dass die juristischen Entwicklungen auch Auswirkungen auf den Tempelberg haben. Bereits seit der vergangenen Woche dürfen dort nun männliche Juden offen beten – eine Handlung, die zuvor ebenfalls die Gefahr der Festnahme mit sich brachte. Und die nun ebenso wie die Erlaubnis für Frauen am Fuße des Areals, das Juden, Muslimen und Christen heilig ist, für Demonstrationen und Ausschreitungen von Muslimen und orthodoxen Juden sorgt.

Beides sei keinesfalls als politische Provokation zu werten, sagte ein Sprecher der israelischen Regierung; es gehe nur um Religionsfreiheit. Doch die Islamische Wakf, die den Haram al Scharif (Tempelberg) verwaltet, die jordanische Regierung, die die Wakf unterstützt, und das Rabbinat der Klagemauer kritisieren die plötzliche Kehrtwende: Ein Status quo, der sich über Jahrzehnte gefestigt hat, könne nicht problemlos von einer Seite verändert werden, heißt es im jordanischen Außenministerium, das dem israelischen Botschafter eine Protestnote übergab: Man bekenne sich zur Religionsfreiheit, verbitte sich aber einseitige Schritte.

Die Wakf verweist zudem darauf, dass es nicht die Muslime gewesen seien, die Juden bisher das Beten auf dem Gelände verboten hat. Vielmehr seien es ultraorthodoxe Rabbiner, die gegen das Betreten des Areals sind, weil die Möglichkeit bestehe, dass Unbefugte jenen Ort betreten, an dem sich zu Zeiten des jüdischen Tempels das Allerheiligste befand. Aus Sicht der Muslime ist das Gebet daher ein Vorwand für rechtsextreme Israelis, einen Anspruch auf die drittheiligste Stätte des Islam zu erheben – ein Vorwurf, der bereits in der Vergangenheit für Ausschreitungen, teils auch mit Todesopfern gesorgt hat.

So starben Ende der 90er Jahre mehr als 40 Menschen, die meisten Araber, nachdem Israel einen Fußgängertunnel unter dem Tempelberg / Haram al Scharif geöffnet hatte. Und als vor einigen Jahren versucht wurde, die Mugrabi-Treppe – den Zugang für Touristen und Polizei zum Areal – abzureißen und neu zu bauen, sorgte das für monatelange Demonstrationen, die teils ebenfalls gewalttätig wurden. Politische Motive werden auch den »Frauen der Mauer« vorgeworfen: Sie wollten provozieren, sagt Rabbiner Schmuel Rabinowitsch, dem die Polizei allerdings vorwirft, die Übergriffe auf die Frauen am Freitag selbst mit geschürt zu haben. Spätestens in einigen Monaten soll ein eigener Bereich für religiöse Praktiken geschaffen sein, die mit der streng orthodoxen Auslegung der religiösen Vorschriften nicht vereinbar sind. »Warum konnte man nicht so lange warten?«, fragte der Rabbiner

Weil man eben nicht ins stille Eckchen wolle, sagt Oschrat Ben Schimschon, die Sprecherin der Bewegung: Es gehe um Gleichbehandlung und Toleranz, darum, dass niemand anderen vorschreiben dürfe, wie und wo sie zu beten haben. Aus ihrer Sicht gehe es den Gegnern gar nicht um Religion, sondern um die Bewahrung eines gesellschaftlichen Status quo, in dem die Frau dem Mann untergeordnet ist: »Selbst ultraorthodoxe Rabbiner haben entschieden, dass es nicht verboten ist, dass Frauen den Gebetsschal umlegen und aus der Tora lesen.«

* Aus: neues deutschland, Montag, 13. Mai 2013


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