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Das geht selbst den USA zu weit: Israels Militär eskaliert die Gewalt

US-Außenminister Powell pfeift Scharon zurück - doch der pfeift darauf

Der Nahost-Konflikt nimmt von Tag zu Tag schärfere Formen an. Seit der Regierungsübernahme durch Ariel Scharon ist nicht nur der Ton rauer geworden, auch die Militäraktionen der israelischen Armee nehmen an Umfang, geografischem Radius und Intensität zu. Die Regierung in Jerusalem nimmt auch immer weniger Rücksicht auf die öffentliche Meinung außerhalb Israels. Kritisiert werden vor allem die Luftangriffe auf syrische Stellungen im Libanon und die Besetzung palästinensischer Autonomiegebiete im Gaza-Streifen.

Israelische Panzertruppen haben am 17. April erstmals seit der Räumung des Gaza-Streifens im Jahr 1994 eine 800 Meter breite Zone dieses autonomen Palästinensergebietes besetzt. Das im Norden des Gaza-Streifens gelegene Gelände werde so lange von der Armee "kontrolliert", bis die palästinensischen Granatenangriffe auf Israel aufhörten, kündigte ein Sprecher der Armee im Militärrundfunk an. Die Regierung in Jerusalem bezeichnete die Besetzung als Vergeltungsaktion für einen vorangehenden Angriff auf die in der Negev-Wüste gelegene israelische Ortschaft Sderot.

In der Ortschaft Sderot, vier Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt gelegen, waren am Abend des 16. April fünf Mörsergranaten eingeschlagen, ohne allerdings größeren Schaden anzurichten. Zu dem Angriff bekannte sich die radikal-islamische Untergrundorganisation Hamas. Die Ortschaft befindet sich in der Nähe eines Bauernhofs des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon. Israels Außenminister Schimon Peres bezeichnete die palästinensische Attacke als "völlig ungerechtfertigt". Damit sei eine weitere "Linie überschritten". "Es gibt für alles eine Grenze."

Als "Reaktion", wie es in solchen Fällen immer heißt, startete Israels Militär eine nächtliche Offensive (Codename "Heiße Tage"). In mehreren Teilen des Gaza-Streifens wurden Gebäude mit Panzern und Kampfhubschraubern angegriffen, dazu gehörte auch die Zentrale des palästinensischen Polizeichefs Ghasi Dschabali in Gaza. Bewohner von Nachbarhäusern ergriffen die Flucht. In Dir el Balach (in Zentral-Gaza gelegen) wurde ein Gebäude von Arafats Eliteeinheit Force 17 getroffen. In Hanun wurde die Leiche eines Polizisten unter den Trümmern der dortigen Polizeiwache entdeckt. Nach Berichten von Ärzten wurden 36 Menschen verletzt, die meisten von ihnen durch Splitter von Granaten. Unter dem Schutz der vorgestoßenen Panzer zerstörten Bulldozer der Armee Ackerland nahe der Ortschaft Beit Hanun in Nord-Gaza. Nahe der Stadt Tulkarem im Westjordanland erschossen israelische Soldaten einen 17 Jahre alten Palästinenser. Am 19. April wurde aus dem Hauptquartier einer Eliteeinheit der Palästinenserpolizei in Ramallah (Westjordanland) eine Explosion gemeldet, bei der drei Menschen verletzt wurden. Das Gebäude, in dem die Explosion stattfand ("Force 17") war schon wiederholt Ziel israelischer Angriffe gewesen.



Verstoß gegen Autonomieabkommen

Das Autonomieabkommen mit den Palästinensern legt fest, dass nur die jüdischen Siedlungen im Gaza-Streifen unter israelischer Kontrolle stehen. In dem 45 Kilometer langen und bis zu zehn Kilometer breiten Streifen zwischen Ägypten, Israel und dem Mittelmeer leben 1,13 Millionen Palästinenser und 6.500 israelische Siedler. Die palästinensische Autonomiebehörde übt ihre Souveränität über zwei Drittel des Gaza-Streifens aus, das restliche Drittel entfällt auf die jüdischen Siedlungsgebiete, die über den ganzen Gazastreifen verteilt sind. Seit seiner Rückkehr in die Palästinensergebiete 1994 residiert Palästinenserpräsident Yassir Arafat im Hauptort Gaza. Aus dem Gaza-Streifen pendeln täglich bis zu 40.000 Palästinenser über den Grenzübergang Eres nach Israel. Die Hälfte der erwerbsfähigen Bevölkerung ist arbeitslos. In einer ersten Reaktion auf die israelischen Angriffe vom 16. April sprach die Autonomiebehörde von einer "schwer wiegenden Aggression". Planungsminister Nabil Schaath sagte: "Die Israelis haben mit der Wiederbesetzung des Gaza-Streifens begonnen."



Trotz internationaler Kritik, die diesmal auch aus den USA kam (siehe weiter unten die Erklärung von US-Außenminister Powell im Wortlaut) setzte die israelische Armee auch am 18. April ihre Angriffe fort. Zwei israelische Panzer und ein Bulldozer drangen in den südlichen Gazastreifen nahe Rafah, dem Grenzpunkt zu Ägypten, ein. Dabei sei ein palästinensischer Polizeiposten zerstört worden. Laut Israel habe es sich um eine begrenzte und gezielte Aktion gegen ein konkretes Ziel gehandelt. Die israelische Armee behalte sich ähnliche Operationen vor, sollten erneut palästinensische Mörserattacken erfolgen, betonte die Regierung von Premierminister Ariel Scharon.

Dennoch sah sich die Regierung Scharon gezwungen, aus den zuvor besetzten Gebieten in Nordgaza abzuziehen. Nach Meinung internationaler Beobachter eine Reaktion auf die harsche Kritik aus Washington, nach israelischer Darstellung aber, weil die Militäroperation "erfolgreich" beendet worden sei. Zuvor hatte der Befehlshaber der in Gaza eingesetzten Streitkräfte, Jair Naveh, noch davon gesprochen, es lasse sich überhaupt nicht absehen, wie lange die Besetzung im Gazastreifen dauern werde.

Neben den USA übten auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, und die Europäische Union verhältnismäßig scharfe Kritik am Vorgehen Israels. Kofi Annan forderte beide Seiten im Nahostkonflikt zur "Zurückhaltung" auf (FR, 18.04.2001). "Höchste Zurückhaltung" verlangte die EU in einer Erklärung vom 19. April. Das Eindringen der israelischen Armee in Palästinensergebiet sei "illegal" und dürfe sich nicht wiederholen. Die israelischen Militäraktionen seien "exzessiv und unverhältnismäßig" - hier lehnt sich die Erklärung der schwedischen EU-Präsidentschaft in der Wortwahl klar an die Erklärung Powells an.

In der arabischen Welt wurde die Reaktion Powells, der den israelischen Vormarsch in den Gazastreifen als "unangemessen und exzessiv" verurteilte, mit sichtbarer Befriedigung registriert. Eine solche deutliche Reaktion der USA hätte "schon viel früher erfolgen müssen", meinte Nabil Abu Rudeineh, ein Berater von Palästinenserpräsident Yassir Arafat. Ob indessen nun Hoffnung bestehe, dass die USA sich künftig stärker engagieren würden, um die israelische "Eskalation, Aggression und Zerstörung" zu stoppen, ist fraglich. Den USA, die sich seit Bushs Amtsantritt in der Nahostfrage demonstrativ bedeckt gehalten haben, gehen die Militäraktionen Scharons im Moment einfach zu weit. Eine Verletzung des Autonomieabkommens, die Besetzung palästinensischer Gebiete markieren eine gefährliche Rückkehr zum Okkupations- und Kriegszustand vergangener Tage. Ein neuer Regionalkrieg im Nahen Osten, der den Libanon und Syrien miteinbeziehen würde - vom Unsicherheitsfaktor Irak ganz zu schweigen - und arabische Verbündete der USA in arge Nöte bringen würde, ist für Washington viel zu riskant. Die israelischen Militäroperationen stoppten auch die gerade in den letzten Tagen wieder vorsichtig aufgenommenen Vermittlungsversuche von Ägypten und Jordanien.

Aber auch für Scharon könnten sich die Militäraktionen als kontraproduktiv erweisen. Erstmals werden auch in der Regierungskoalition kritische Stimmen laut. So nannte Ben-Elisier die oben erwähnte Äußerung Navehs vom 17. April, wonach die Truppen in Gaza "notfalls für Wochen, wenn nicht Monate" stationiert bleiben sollten, "einen Fehler". Der Knesset-Abgeordnete Ran Cohen von der linken Meretz-Partei verlangte eine Untersuchung der Vorfälle. Naveh diene der Scharon-Regierung nur als "Sündenbock für ihr eigenes Chaos" (FR, 19.04.2001). Laut Zeitungsberichten vom 20. April habe z.B. Verkehrsminister Ephraim Sneh von der linksliberalen Arbeitspartei die Besetzung eines Teils des Gaza-Streifens als "Fehlschlag" bezeichnet. Auch der Minister für Innere Sicherheit, Usi Landau (Likud-Block), kritisierte, dass die Militäraktionen offenbar ihre Ziele zum Teil verfehlt hätten. Vor allem sei eine Beendigung der Palästinenserangriffe nicht erreicht worden. Damit stelle sich die Frage, ob der Kreislauf der Gewalt überhaupt mit militärischen Mitteln allein durchbrochen werden könne - für ein Likud-Mitglied eine bemerkenswerte Feststellung. In der Armee selbst brodelt es auch. Offiziere äußerten sich "wütend" über den militärischen Fehlschlag und die "Feigheit" der Politiker - eine Kritik, die weniger für Zurückhaltung, sondern eher für ein noch energischeres Losschlagen plädiert.
Pst

Im Wortlaut

Washington hat das israelische Vorgehen im Gazastreifen scharf verurteilt und die Regierung aufgefordert, die Truppen schnell wieder abzuziehen. Die USA machten deutlich, dass Militäraktionen keine Lösung bringen könnten. Die am Dienstagabend (17. April 2001) veröffentlichte Erklärung von US-Außenminister Colin Powell, deren Publikation Israel nach Angaben von Diplomaten zu verhindern suchte, hat folgenden von afp übermittelten Wortlaut (im Folgenden zitiert nach der Veröffentlichung in der FR, 19.04.2001):

Die USA sind tief besorgt über die Ereignisse der vergangenen vier Tage im Nahen Osten, einschließlich des Hisbollah-Angriffs auf israelische Truppen, des israelischen Vergeltungsangriffs auf syrische Positionen in Libanon, der anhaltenden palästinensischen Granatenangriffe auf Israel und der israelischen Vergeltung in Gaza. Die Lage droht weiter zu eskalieren, mit der Gefahr einer Ausweitung des Konflikts. Wir fordern alle Seiten auf, größtmögliche Zurückhaltung zu üben, Spannungen zu verringern und Schritte zu unternehmen, um die Gewalt sofort zu beenden. Den Feindseligkeiten der vergangenen Nacht in Gaza gingen provokative palästinensische Granatenangriffe auf Israel voraus. Die israelische Antwort war übertrieben und unverhältnismäßig.

Wir fordern beide Seiten auf, sich an die Abkommen zu halten, die sie unterzeichnet haben. Für die Palästinenser schließt dies die Umsetzung ihrer Verpflichtung ein, Terrorismus und Gewalt von sich zu weisen (. . .). Für die Israeli bedeutet dies, ihrer Verpflichtung zum Rückzug aus Gaza nachzukommen, entsprechend den Bestimmungen der von Israel und den Palästinensern unterzeichneten Vereinbarung. Es kann keine militärische Lösung dieses Konflikts geben.

Wir glauben weiterhin fest daran, dass die Wiederaufnahme der bilateralen Sicherheitszusammenarbeit entscheidend ist, um die Gewalt zu verringern und möglicherweise zu beenden. Wir arbeiten weiter mit den Parteien zusammen, so dass sie so schnell wie möglich die Sicherheitsgespräche wieder aufnehmen können, die sie vor zwei Wochen begonnen haben.

Die Vereinigten Staaten bleiben bereit, die Parteien bei Schritten zu unterstützen, die Gewalt zu reduzieren und Wege zur Wiederherstellung von Vertrauen und Zuversicht zu suchen sowie (beiden Seiten) zu helfen, ihre Differenzen durch Verhandlungen beizulegen.

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