Jenseits der "unbestreitbaren" Wahrheit
Yoni Ben-Artzi, Wehrdienstverweigerer in Israel, über eine Entscheidung zwischen Gefolgschaft und Gewissen, Armee und Arrest
Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das die Wochenzeitung "Freitag" mit einem prominenten israelischen Kriegsdienstverweigerer geführt hat: Yoni Ben-Artzi ist ein Neffe des rechtskonservativen ehemaligen Premiers Benjamin Netanyahu.
Israelische Soldaten diverser Kampfeinheiten haben zuletzt für
Schlagzeilen gesorgt, als sie den Dienst in den
Palästinenser-Gebieten verweigerten - keineswegs die einzigen
Israelis, die Dasein und Vorgehen der Armee in Frage stellen. Vor
zwei Jahren hatte eine Gruppe von High-School-Absolventen in
einem Offenen Brief erklärt, den Wehrdienst ablehnen zu wollen,
solange die israelische Besatzung über die Palästinenser anhalte.
Nach über einem Jahr in Haft sind fünf dieser einstigen Schüler
Anfang Januar von einem Militärgericht zu einem weiteren Jahr
Gefängnis verurteilt worden. Begründung: die Sicherheit des
Staates wiege schwerer als das politische oder moralische
Bedenken des Einzelnen. Der Prozess gegen einen sechsten
Verweigerer, den 21-jährigen Yoni Ben-Artzi, ist dagegen noch nicht
beendet (s. auch Freitag 34/03). Der Neffe des ehemaligen Premiers
Benjamin Netanyahu ist im November 2003 vom Militärgericht als
Pazifist anerkannt worden - eine in Israel bislang einmalige
Entscheidung. Die Wehrdienstverweigerung Ben-Artzis wird damit
jedoch nicht toleriert: allein das Gewissenskomitee der Armee
könne entscheiden, hieß es, ob ein Wehrpflichtiger vom
Militärdienst suspendiert werde. Dieses Komitee hat bereits zweimal
den Antrag verworfen, Yoni eine pazifistische Gesinnung
zuzugestehen. Bei der anstehenden dritten Entscheidung gibt es die
Alternative, entweder die bisherige eigene Entscheidung zu
revidieren oder gegen das erwähnte Urteil des Militärgerichtes zu
votieren. Bis zu diesem Spruch ist Yoni Ben-Artzi seit Anfang Januar
auf freiem Fuß - nach genau 17 Monaten in Haft.
FREITAG: Wann genau fiel Ihre Entscheidung, den Wehrdienst in der
israelischen Armee zu verweigern?
YONI BEN-ARTZI: An einen bestimmten Augenblick, in dem ich gesagt
habe: ab heute bin ich Pazifist, kann ich mich nicht erinnern. Das heißt,
ein wichtiges Ereignis war vielleicht die Reise mit meinen Eltern nach
Verdun. Wir haben dort die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges
besucht: dort liegen fast eine Million Tote - Franzosen und Deutsche. Ein
ganzes Jahr lang hat sich damals im Gebiet von Verdun die Front kaum
bewegt. Heute sagt jeder, diese Schlacht sei verrückt gewesen. Aber ich
bin mir sicher, dass damals jeder Soldat gedacht hat, er kämpfe für ein
hehres nationales Ziel. Dabei war es ganz egal, wer Franzose und wer
Deutscher war. Sie sind alle umsonst gestorben, und ich glaube fest daran,
dass es in 99 Prozent aller Kriege so ist.
Die gängige Auffassung in Israel lautet: Wir waren immer bedroht.
Im einem Krieg behauptet jede Seite stets, dieser Krieg sei unvermeidbar
gewesen - die Schuld trage die andere Seite. Meistens finden die
Regierungen einen Weg, ihre Völker von der Notwendigkeit eines Krieges
zu überzeugen. Bei uns auch: Die meisten Israelis halten den Krieg in den
Palästinenser-Gebieten für notwendig. Ich halte ihn für falsch.
Ich glaube, dass wir die meisten Konflikte friedlich lösen könnten, indem
wir miteinander reden und verhandeln. Außerdem muss man sich doch nur
einmal anschauen, wer in Israel die politischen Entscheidungen traf und
trifft.
Fast ausnahmslos ehemalige hohe Militärs ...
... wie etwa der frühere Premierminister Ehud Barak, der noch als
sogenannter Linker galt. Bei den Rechten ist es noch schlimmer: für sie ist
Krieg das Normale, und um den Kriegszustand aufrecht zu erhalten, jagen
sie der Bevölkerung Angst ein, nach dem Motto: "Wir haben viele Feinde.
Um uns gegen sie zu wehren, müssen wir alle zusammenhalten".
Aber ist die Bedrohung Israels durch die arabischen Staaten wirklich nur
eingeredet - besonders wenn man im Hintergrund die Shoa berücksichtigt?
60 Jahre nach der Shoa haben wir gute Beziehungen zu den Deutschen
und anderen europäischen Völkern. Warum sollten wir also mit den
Palästinensern keinen Frieden schließen können? In der arabischen Welt
haben immer Juden gelebt, und es hat dort keine Pogrome wie etwa in
Russland gegeben - erst recht keine Shoa. Die Aussage, dass "die Araber"
oder "die Muslime" etwas gegen "die Juden" haben, ist einfach haltlos.
Zumindest haben sie nicht mehr gegen Juden als andere Völker.
Außerdem sollten wir aus dem Zweiten Weltkrieg doch eines gelernt
haben: jeder Mensch hat ein Recht auf Bewegungsfreiheit, auf
medizinische Versorgung und ein Leben in Würde. Das sind Rechte und
keine Privilegien! Und wir können den Palästinensern ihre Rechte nicht
verweigern, nur weil wir in einem starken Staat leben wollen oder Angst vor
einer Wiederholung der Geschichte haben. Wir haben kein Recht, auf
Kosten eines anderen Volkes zu leben.
Sie argumentieren sehr politisch. Genau das hat Ihnen der
Militärstaatsanwalt vorgeworfen, als er meinte: Ihre Verweigerung basiere
nicht auf Gewissensgründen.
Das lässt sich doch nicht trennen. Wenn ich in Island aufgewachsen wäre,
wäre ich vielleicht kein Pazifist, weil es dort keinen Krieg gibt. Aber ich
lebe nun einmal in Israel, und hier hat sich auch mein Gewissen
entwickelt. Man kann das Gewissen doch nicht von der Realität trennen ...
... was heißt Gewissen für Sie genau?
Es ist eine Art Gefühl, das mich leitet und mir sagt, was moralisch ist und
was nicht. Du kannst deinem Gewissen eigentlich nicht zuwider handeln.
Wenn du es dennoch tust, beginnst du, dich unwohl zu fühlen. Und
manchmal fühlst du dich dann so schlecht, dass es besser ist, 17 Monate
im Gefängnis zu sitzen, als mit dem Gefühl zu leben, deinem Gewissen
nicht gefolgt zu sein.
Warum gehen in Israel dennoch fast alle zur Armee?
Die Rechten oder die Siedler und viele Religiöse gehen aus ideologischen
Gründen. Aber die meisten anderen - auch meine Freunde - gehen, weil es
für sie nach wie vor unvorstellbar ist, nicht zu gehen.
Halten Sie die Wehrpflicht für notwendig?
Ich bin zwar kein Psychologe, aber ich glaube, die meisten Israelis denken
in folgenden Kategorien: erstens brauchen wir eine Armee, zweitens würde
ich selbst nicht zur Armee gehen, wenn ich wählen könnte, und weil das
so ist, dürfen wir drittens die Leute nicht frei entscheiden lassen, sondern
müssen sie zwingen.
Sind Wehrpflicht und Verweigerung denn überhaupt ein Thema unter
jungen Israelis?
Nein, die meisten interessieren sich überhaupt nicht für Politik. Als Ende
Dezember einige Elitesoldaten ihren Dienst in den besetzten Gebieten
verweigert haben, wurde im Fernsehen natürlich darüber geredet. Ich hätte
mir das gern angesehen und deswegen habe ich abends in der
Militärbasis, in der ich inhaftiert war, die Soldaten gefragt, ob wir nicht auf
dieses Programm umschalten könnten. "Ihr braucht ja nicht meiner
Meinung zu sein", habe ich ihnen gesagt, "aber ihr seid ein Teil dieser
Armee und müsstet euch doch dafür interessieren, was in diesem Land
passiert, und warum andere ihren Dienst verweigern?" Aber niemand hatte
Lust, sich damit zu beschäftigen. Alle wollten lieber irgendeine blödsinnige
Show sehen.
Oder ich erinnere mich: Vergangenen Sommer gab es in Tel Aviv eine Love
Parade - mit 200.000 Teilnehmern. Und damit auf dieser Parade nichts
passierte, wurden überall in den besetzten Gebieten Ausgangssperren
verhängt. Das heißt, damit die 200.000 in Tel Aviv ihren Spaß haben
konnten, wurden eine Million Palästinenser eingesperrt. Ich kann damit
nicht leben.
17 Monate Haft haben Sie hinter sich: Gab es Momente, in denen Sie
gedacht haben: der Preis ist zu hoch?
Nein, was wäre die Alternative gewesen? Doch zur Armee zu gehen? Ich
lehne jede Armee ab und vor allem eine, die so furchtbare Dinge tut wie
unsere. Wie würde ich mir noch selbst ins Gesicht sehen können? Und
außerdem, was ist wirklich schlimmer: 17 Monate im Gefängnis sitzen
oder drei Jahre in einer solchen Armee zu dienen? Für mich wären drei
Jahre in einer Besatzungsarmee, die anderen Menschen elementare
Grundrechte verweigert, schlimmer als 17 Monate oder drei Jahre im
Gefängnis.
Die Debatte in Israel ist eine Sache, Kritik aus dem Ausland etwas
anderes. Befürchten Sie nicht, dass bei dieser Kritik an Ihrem Staat
manchmal auch ganz andere Motive eine Rolle spielen?
Es gibt interne Angelegenheiten, die sollte man einem Land selbst
überlassen. Aber wenn es um die Menschenrechtsverletzungen geht, dann
ist das keine innerisraelische Angelegenheit mehr. Jeder hat das Recht,
darüber zu reden, und wenn jemand daraus eine anti-israelische Position
ableitet, kann ich nur sagen: Dann habe ich auch eine anti-israelische
Position. Und die ist genauso berechtigt wie eine Anti-Südafrika-Position
zu Zeiten der Apartheid. Denn es geht darum, was Israel als Staat tut. Und
wenn unsere Regierung ihre Politik mit dem Verweis auf die Shoa
rechtfertigt und Kritiker als Antisemiten bezeichnet, dann sehe ich darin
den Versuch, diese Kritiker mundtot zu machen. Natürlich: Da keiner als
Antisemit gelten will, halten viele lieber den Mund.
Was glauben Sie, wie wird das endgültige Urteil gegen Sie ausfallen?
Schwer zu sagen, weil mich das Militärgericht einerseits als Pazifist
anerkannt hat, andererseits hat man mich für schuldig erklärt, weil ich mich
weigere, Soldat zu werden. Das ist höchst widersprüchlich, und ich weiß
wirklich nicht, was jetzt noch kommt. Aber für die Armee und die
Regierung ist es auf alle Fälle ein Problem - und ich bin gespannt, wie sie
es lösen werden.
Das Gespräch führte Matthias Bertsch
Aus: Freitag 06, 30. Januar 2004
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