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Bilanz der Unruhen: 52 Tote und mehr als 1.000 Verletzte

Waffenruhe vereinbart - Sicherheitsrat tagte - Die Lage bleibt gespannt - Pressestimmen

Aktuelles: 3. Oktober 2000

Israel hat am Montag, den 2. Oktober, in den palästinensischen Gebieten demonstrativ Panzer rollen und in Stellung gehen lassen. Kampfhubschrauber stiegen auf. Dessen ungeachtet weiteten sich die blutigen Auseinandersetzungen auf praktisch alle Orte mit einer palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland und in Israel selbst aus. 52 Menschen wurden innerhalb von fünf Tagen getötet.

Zu den vielleicht heftigsten Auseinandersetzungen kam es im Gazastreifen, wo Palästinenser einen Posten der Armee in der Nähe der jüdischen Siedlung Netzarim angriffen. Sie bestiegen einen leer stehenden Turm und feuerten von dort in den Armeeposten. Die israelischen Soldaten feuerten eine Panzerabwehrrakete und setzten Kampfhubschrauber ein. Mindestens zwei Palästinenser wurden getötet und 35 verletzt. Insgesamt sollen bis Montag mehr als 1.000 Palästinenser verletzt worden sein.

Auch in Israel griff die Gewalt in Orten mit einer größeren palästinensischen Bevölkerung um sich. Dort wurden am Montag mindestens fünf Palästinenser getötet. Selbst Städte mit einer langen und friedlichen Koexistenz von Israelis und Arabern wie Akko, Nazareth und Haifa blieben nicht verschont. Für Israelis galt ein Reiseverbot für das Westjordanland und den Gazastreifen. Etliche jüdische Siedlungen waren dadurch abgeschnitten.

"Es herrscht eine Atmosphäre wie im Krieg"

Sowohl Israelis als auch Palästinenser sahen Anzeichen für eine weitere Eskalation der Gewalt. "Es herrscht eine Atmosphäre wie im Krieg," sagte ein Sprecher der jüdischen Siedlung Nezarim im Gazastreifen. Der Kommandeur einer palästinensischen Einsatztruppe, Hussein Ascheich, bezeichnete die wachsende Zahl von Todesopfern als Zeichen dafür, "dass wir auf dem Weg in den Krieg sind, um uns und unseren palästinensischen Staat zu verteidigen". In der Nähe von Kusra, einem Dorf im Westjordanland, starb ein zweijähriges palästinensisches Mädchen im Kugelhagel.

EU-Präsidentschaft fordert Ende der Kämpfe

Die französische EU-Präsidentschaft forderte beide Seiten auf, die Kämpfe zu beenden. Der Besuch des israelischen Oppositionspolitikers Ariel Sharon auf dem Tempelberg in Jerusalem, der die Unruhen ausgelöst hatte, wurde als Provokation der Palästinenser kritisiert.

Waffenruhe vereinbart

Israel und die Palästinenser haben sich auf eine Waffenruhe zur Beendigung der blutigen Unruhen geeinigt. Ein entsprechendes Abkommen sei in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober mit Israel geschlossen worden, teilten die palästinensischen Sicherheitskräfte mit. Ein israelischer Militärsprecher bestätigte die Angaben und erklärte, die Lage sei seit dem Abkommen ruhig. In dem Abkommen verständigten sich palästinensischen Angaben zufolge beide Seiten außerdem auf einen Abzug der israelischen Truppen aus den Palästinensergebieten. Im Gegenzug sollten die Palästinenser für die Sicherheit in den von ihnen beanspruchten Gebieten sorgen.

Unterdessen unterbrach in New York der UNO-Sicherheitsrat seine Nahost-Dringlichkeitssitzung ohne Einigung. US-Außenministerin Madeleine Albright kündigte für Mittwoch in Paris Gespräche mit dem israelischen Regierungschef Ehud Barak und Palästinenserpräsident Yasser Arafat an. Die französische EU-Ratspräsidentschaft erklärte, die Europäische Union unterstütze die Bildung einer internationalen Untersuchungskommission zu der jüngsten Gewalt in Nahost.

Internationale Truppe gefordert

Der palästinensische Minister für internationale Zusammenarbeit, Nabil Shaath, hat eine internationale Truppe zum Schutz der Palästinenser gefordert. Bei einem Besuch in Paris rief er am Montag die Europäische Union auf, sich an einer solchen Truppe zu beteiligen. Sie soll nach Shaaths Vorstellungen in Jerusalem und überall dort stationiert sein, wo die Palästinenser israelischen Angriff ausgesetzt seien. Shaath, der auch Unterhändler bei den Friedensverhandlungen mit Israel ist, traf sich in Paris mit dem französischen Außenminister Hubert Vedrine und Staatspräsident Jacques Chirac. Frankreich hat derzeit die Ratspräsident in der EU inne.

Pressestimmen

Die auflagenstärkste israelische Zeitung "Yedioth Ahronoth" schreibt am Montag zu den blutigen israelisch-palästinensischen Unruhen: "Nach dem optimistischen Szenario werden die Unruhen eine Woche andauern und dann aufhören: Vielleicht war alles nur der blutige Abschlusskampf vor dem großen Waffenstillstand. ... Wenn die Konfrontationen jedoch weitergehen und sich ausweiten, dann wird es viele Begräbnisse geben. Jedes von ihnen wird neuen Zorn im jeweiligen Lager säen. ... Ins Zentrum des Geschehens wird der Mann (Benjamin Netanyahu) zurückkehren, der (1996) mit der Eröffnung des Tempelberg-Tunnels schwere Unruhen auslöste. Dann werden der Zündstoff, der Hass und die Munition den 'Anzündern' näher stehen denn je. Mit einem lauten Knall wird sich das Gelegenheitsfenster schließen und wir werden für immer dazu verurteilt sein, auf diesem albtraumartigen Weg weiter zu gehen ..."

Für die spanische Zeitung "ABC" ist der Frieden in weite Ferne gerückt. "ABC" (Madrid) schreibt: "Angesichts der Panzer, der Kampfhubschrauber, der Soldaten und der Feuergefechte scheint der Frieden im Nahen Osten wieder in weite Ferne gerückt zu sein. Trotz aller Friedensverhandlungen sitzt der Hass auf beiden Seiten tief. Ein Funken genügt, um einen Flächenbrand ausbrechen zu lassen. Der Nahe Osten benötigt keine Pyromanen wie Ariel Sharon, sondern Feuerwehrleute. Ehud Barak und Yasser Arafat sollten so rasch wie möglich diese Aufgabe übernehmen. Aber keiner von beiden ist bereit, auch nur eine Handbreit von seinen Forderungen abzurücken. Sie müssen dies aber tun. Und vor allem sollten sie sofort dafür sorgen, dass die außer Kontrolle geratenen Gewalttätigkeiten aufhören."

Der konservative französische "Le Figaro" (Paris) kommentiert die Unruhen folgendermaßen: "Es ist zu spät, um umzukehren; doch man muss nun die Gefahr abwägen. Die vom Vorplatz der Moschee ausgegangene Schockwelle droht klug ausgehandelte Arrangements hinwegzufegen. Aus gutem Grund: Yasser Arafat kann nicht mehr die Wut der Seinen darüber zügeln, dass Ehud Barak einen Abgeordneten der Knesset nicht daran hindern konnte, Feuer an die Lunte zu legen. Diese simple Feststellung dürfte sich all jenen aufdrängen, die den Frieden im Nahen Osten begünstigen wollen. Israel und den Palästinensern wird es niemals gelingen, allein die schwierige Jerusalem-Frage zu lösen... Um zu vermeiden, dass die Schlacht um Jerusalem zum offenen Krieg verkommt, damit Israelis und Palästinenser ihre Leidenschaften zügeln können, wird es höchste Zeit, dass irgendwer, irgendwas ein Initiative ergreift. Denn bald wird es zu spät sein."

Die römische Zeitung "Il Messaggero" schreibt am Montag zur Lage in Israel und den Palästinensergebieten: "Seit Sonntag besteht in Israel und den Palästinensergebieten die konkrete Gefahr, dass zwischen Israelis und Palästinenser ein echter Krieg beginnen kann. Es handelt sich um eine dramatische Eskalation, die sich innerhalb eines gefährlichen politischen und diplomatischen Vakuums vollzieht. Das Scheitern der jüngsten Verhandlungen von Camp David hat den Extremisten aus beiden Lagern neue Kraft gegeben. Der israelische Ministerpräsident Barak und Palästinenserführer Arafat haben es nicht gewollt und oder nicht verstanden, diese Kräfte rechtzeitig zu stoppen."

Die "Basler Zeitung" schreibt am Montag: "Der israelische Oppositionsführer Sharon provozierte die blutigen Konfrontationen bewusst mit seinem Gang auf den Tempelberg: Er will den Friedensprozess verzögern oder gar stoppen. Arafat wartete nur auf einen passenden Anlass, um mit den Ausschreitungen klar zu machen, dass es ohne weitere Konzessionen israelischerseits kein Abkommen mit ihm gebe und ständige Unruhen die Folge wären. ... Beide Seiten scheinen gewillt, wenn die Waffen niedergelegt sind, sich wieder um eine vertragliche Lösung des Konflikts zu bemühen - mit dringender denn je benötigter Hilfe der USA. Insofern dürfte Sharon sein Ziel, den Friedensprozess ŕ la Oslo endgültig zu begraben, nicht erreichen."

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