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Schlappe für Netanjahu

Starke Verluste für bisher regierendes Rechtsbündnis. Wahlgewinner ist eine erst im April gegründete Partei der Mittelklasse

Von Knut Mellenthin *

Israel hat ein neues Parlament gewählt. Auch nach den starken Verlusten des von ihm geführten Bündnisses Likud Beiteinu heißt der nächste Premierminister höchstwahrscheinlich wieder Benjamin Netanjahu. Eine Koalition unter einem anderen Regierungschef scheint weder vom Wahlergebnis noch von den politischen Voraussetzungen her denkbar. Dennoch wird Netanjahu es schwer haben, eine Mehrheit zusammenzubringen und zusammenzuhalten, die ihn stützt.

Der Chef des rechten Likud hatte sich die Dinge sicher ganz anders vorgestellt, als er am 25. Oktober mit seinem Außenminister Avigdor Lieberman vor die Presse trat, um überraschend die Verschmelzung seiner Partei mit Liebermans noch weiter rechts stehender Jisrael Beiteinu (Unser Heim Israel) bekanntzugeben. Zusammengerechnet 42 Sitze hatten die beiden Parteien bei der Knesset-Wahl vom 10. Februar 2009 gewonnen. Daß sie dies Ergebnis nicht würden halten können, war schon bei Meinungsumfragen im November vorigen Jahres deutlich geworden. Aber kaum jemand hatte ein so starkes Absacken wie jetzt geschehen, nämlich auf nur noch 31 Mandate, prognostiziert.

Die Stimmenverluste der Rechten sind allerdings weniger drastisch als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Insgesamt hat ihr Lager nämlich nur drei Sitze verloren. Denn die im November 2008 gegründete Ultrarechts-Partei Habajit Hajehudi (Das jüdische Heim), die diesmal 11 Mandate erreichte, gewann vor vier Jahren nur drei. Die meisten Wähler, die Netanjahu verloren hat, dürften dort gelandet sein. Parteichef Naftali Bennett spricht sich – als einziger der bedeutenden israelischen Politiker – ganz offen und explizit gegen einen Palästinenserstaat und für die rasche Annektion des besetzten Westjordanlandes aus.

Hauptgewinner der Wahl ist der Journalist Jair Lapid mit seiner erst im April 2012 gegründeten Jesch Atid (Es gibt eine Zukunft): Die neue Partei ist künftig mit 19 Abgeordneten in der Knesset vertreten. Lapid hat damit eine Schlüsselstellung für jede Regierungskonstellation. Im Wahlkampf hat er Jesch Atid als eine Partei der Mitte dargestellt, die insbesondere die Interessen der »Mittelklasse« vertreten soll. Dazu gehört die Forderung nach »gleicher Verteilung der Lasten«. Konkret bezieht sich das vor allem auf die Freistellung der Orthodoxen vom Wehrdienst und die zahlreichen Vergünstigungen, die diese Bevölkerungsgruppe durch den Staat erhält.

Die große Verliererin ist Kadima (Vorwärts). Ariel Scharon hatte sie im November 2005 mit Teilen seiner eigenen Partei, des Likud, und der sozialdemokratischen Arbeitspartei gegründet, um eine Basis für seinen »einseitigen Abzug« aus dem Gaza-Gebiet zu haben. Kadima ist in den letzten Jahren völlig auseinandergefallen. Von 28 Sitzen, die sie vor vier Jahren gewann, sind nur noch zwei übriggeblieben. Sechs Mandate gewann die frühere Kadima-Politikerin Tzipi Livni, die diesmal mit ihrer eigenen Partei Hatnua (Die Bewegung) antrat.

Die Arbeitspartei gewann gegenüber 2009 nur zwei Mandate hinzu und steht jetzt bei 13. Eine hypothetische »Mitte-Links-Koalition« von Arbeitspartei, Jesch Atid und Hatnua könnte es auf eine knappe Mehrheit von 64 der 120 Knesset-Abgeordneten bringen. Aber selbst das nur unter der äußerst unwahrscheinlichen Voraussetzung, daß sie die ultra-orthodoxen Parteien Schas (11 Sitze) und Vereinigtes Torah-Judentum (7 Sitze) einbeziehen könnte. Mit ihnen würde eine Streichung der politischen und sozialen Privilegien für die Ultra-Orthodoxen schwerlich zu verwirklichen sein.

Netanjahu hat angekündigt, daß er eine »möglichst breite Koalition« anstrebt, um sein Hauptziel, der »Verhinderung eines nuklearen Iran«, zu verwirklichen. Eine reine Rechtskoalition (Likud Beiteinu, Habajit Hajehudi, Schas und Vereinigtes Torah-Judentum) brächte es allerdings nur auf 60 Abgeordnete. Weitere Partner wären also auf jeden Fall erforderlich.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 24. Januar 2013

Endergebnis der Knessetwahlen

Die Stimmenauszählung der Wahlen zur 19. Knesset ist abgeschlossen.
Von 5.656.705 Wahlberechtigten haben 3.818.441 ihre Stimme abgegeben, die Wahlbeteiligung lag damit bei 67,52%. 40.464 Stimmen waren ungültig.

Die Stimmen verteilen sich wie folgt auf die 34 angetretenen Parteien (Es gilt eine Zwei-Prozent-Hürde):
  • Likud Beitenu: 23,32%, das entspricht 31 Mandaten
  • Yesh Atid: 14,32%, das entspricht 19 Mandaten
  • Ha-Avoda: 11,39%, das entspricht 15 Mandaten
  • Ha-Bait ha-Yehudi: 9,11%, das entspricht 12 Mandaten
  • Shas: 8,74%, das entspricht 11 Mandaten
  • Yahadut ha-Tora: 5,18%, das entspricht 7 Mandaten
  • Ha-Tnua: 4,99%, das entspricht 6 Mandaten
  • Meretz: 4,54%, das entspricht 6 Mandaten
  • Raam – Ta´al: 3,65%, das entspricht 4 Mandaten
  • Chadash: 3%, das entspricht 4 Mandaten
  • Balad: 2,56%, das entspricht 3 Mandaten
  • Kadima: 2,09%, das entspricht 2 Mandaten
Otzma le-Israel: 1,76%; Am Shalem: 1,2%; Ale Yarok: 1,14%; Koach lehashpia: 0,74%; Eretz Chadasha: 0,74%; Ha-Israelim: 0,5%; Ha-Yerukim ve-ha-Tze´irim: 0,22%; Dor Bonei ha-Aretz: 0,16%; Chayim be-Kavod: 0,1%; Da´am: 0,09%; Achim Anachnu: 0,08%; Tzedek Chevrati: 0,08%; Ha-Piratim: 0,06%; Kulanu Chaverim: 0,06%; Kalkala: 0,05%; Mitkademet Liberalit: 0,04%; Or: 0,03%; Brit Olam: 0,02%; Al-Amal li-Taghaiyur: 0,02%; Moreshet Avot: 0,01%

Quelle: Newsletter der israelischen Botschaft in Berlin, 24. Januar 2013.




"Der Mittelstand will keinen Krieg"

Wahlausgang in Israel zwingt Netanjahu zu Kompromissen. Gespräch mit Moshe Zuckermann **

Prof. Moshe Zuckermann lehrt Geschichte und ­Soziologie an der Universität Tel Aviv.

Benjamin Netanjahu und sein Parteienbündnis Likud-Beitenu haben bei den jüngsten Parlamentswahlen in Israel herbe Stimmverluste hinnehmen müssen. Ist das Ergebnis Ausdruck eines Abrückens der Mehrheitsmeinung vom kompromißlosen Kurs der bisherigen Regierung?

Die Frage läßt sich auf einer praktischen und auf einer tieferliegenden Ebene beantworten. Praktisch ist das Wahlergebnis für meine Begriffe damit erklärbar, daß Netanjahus Bündnis einfach eine hanebüchene Wahlkampagne geführt hat. Es war vollkommen klar, daß Netanjahus Wettstreit mit Naftali Bennetts ultrarechter Partei Das Jüdische Haus zu Verlusten im eigenen Lager führen mußte. Die tiefere Ebene ist vielleicht das, was im Sommer 2011 hier Thema war, nämlich die Frage des Wohlstandes, vor allem dem des Mittelstands. Das Wahlergebnis war somit gleichsam ein Nachhall der großen sozialen Protestaktionen. Netanjahu hat damals im Grunde versucht, diese einfach zu neutralisieren und zu entsorgen.

Was haben die Leute, die die sozialen Proteste getragen haben, gewählt?

Teilweise sind sie zur Arbeitspartei gewandert. Einige wenige vielleicht auch zur linksliberalen Merez-Partei. Aber weil es sich vor allem um den Mittelstand handelt, werden eine ganze Menge zur neu gegründeten Zukunftspartei (Jesch Atid) gegangen sein.

Die Angriffe der israelischen Armee vom November letzten Jahres wurden verschiedentlich als Wahlkampfmanöver Netanjahus interpretiert, als Versuch, sich als starken Mann zu präsentieren. Das scheint nicht aufgegangen zu sein.

Schwer zu sagen, ob solche Überlegungen eine Rolle spielten. Jedenfalls ist klar, daß die Sicherheitsfrage im allgemeinen wie auch dieser Krieg im Wahlkampf so gut wie überhaupt nicht thematisiert worden sind. Die Iran-Frage übrigens auch nicht, obwohl Netanjahu sich durchaus als starken Mann präsentieren wollte.

Exaußenminister Avigdor Lieberman ist im Wahlkampf abgetaucht. War da neben strafrechtlichen Gründen auch wahltaktisches Kalkül im Spiel?

Ich meine, es hat zunächst schon eine juristische Dimension. Vielleicht landet der Mann am Ende sogar im Gefängnis. Falls er belangt wird, dann wird es auch mit der Fusion Likud und Israel Beitenu nicht mehr lange halten. Daß er im Wahlkampf nicht weiter hervorgetreten ist, dürfte auch damit zu tun haben, daß man sich überlegt hat, inwieweit diese Fusion Lieberman-Netanjahu überhaupt funktioniert hat. Auf der einen Ebene hat es funktioniert, weil sie dadurch als stärkste Partei hervorgetreten sind. Auf der anderen Seite hatte Israel Beitenu jetzt herbeste Wahlverluste zu verzeichnen. Möglicherweise hat man sich frühzeitig entschlossen, Lieberman, der auch in Israel nicht unbedingt akzeptiert ist, lieber im Hintergrund zu lassen.

Die Tageszeitung Haaretz kommt zu der Einschätzung, ein Schlag Israels gegen Iran sei nun weniger wahrscheinlich.

Das sieht die Mehrheit der Interpreten des Wahlausgangs so. Es ist ziemlich klar, daß Jair Lapid mit seiner Partei Jesch Atid jetzt in die Regierung reingehen muß. Ich glaube, Netanjahu kann überhaupt nicht auf ihn verzichten. Er kann gar keine regierungsfähige Koalition bilden, ohne daß er ihn mit hereinzieht. Ich glaube aber, daß dieser Jair Lapid den kapitalistischen Mittelstand vertritt.Und der kann im Interesse seines Wohllebens absolut keinen regionalen Krieg wollen.

Jair Lapid will mit seiner Zukunftspartei die orthodoxen Juden aus dem Programm der staatlichen Alimentation herausnehmen. Das wird sicherlich auch eine innenpolitische Debatte anstoßen.

Nein, im Grunde genommen sähen alle säkularen Bürger Israels die orthodoxen Parteien, also die Schas-Partei und die beiden anderen, am liebsten aus dem israelischen parlamentarischen Leben herauskatapultiert. Das Problem besteht nur darin, daß Netanjahu sie, wenn er auf eine gefestigte Regierung aus ist, bei der Stange halten muß. Wie das allerdings in einem Bündnis mit Jair Lapid und dessen antiorthodoxem Kurs funktionieren soll, ist fraglich. Auch bei der Frage der Gleichheit im Wehrdienst wird es sicher Konflikte geben. Aber wir haben hier schon drastischere Kompromisse erlebt, wenn es um Fragen der Machterhaltung und Herrschaftsvergütungen geht.

Der Bau neuer Siedlungen auf palästinensischem Gebiet wurde in den letzten Monaten massiv vorangetrieben, was auch zu Spannungen im Verhältnis Israel–USA geführt hat. Wird es Ihrer Meinung da künftig mehr Zurückhaltung geben?

Ich glaube schon, daß Netanjahu vor allem durch die Wiederwahl ­Obamas sehr geschwächt worden ist. Es ist klar, daß er einen wesentlich härteren Kurs gegenüber Israel einschlagen wird. Schon aus geopolitischen Interessen heraus muß die Region befriedet werden. Israel ist ja nun mal Stein des Anstoßes, was das israelisch-palästinensische Problem angeht. Auch Merkel scheint von Netanjahu die Schnauze voll zu haben. Ob sie sich aber trauen wird, wirklich einen offiziellen Kurs gegen ihn zu fahren, wage ich zu bezweifeln.

Interview: Stefan Huth

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 24. Januar 2013


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