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Jenseits von Scharon die alten Probleme: Die Rechte gestärkt, der Frieden geschwächt

Israel hat gewählt - Ergebnisse und zwei Kommentare

Am 28. Januar 2003 fanden in Israel die Wahlen zur 16. Knesset, dem israelischen Parlament, statt. Hierzu erhielten wir zwei Kommentare, einen aus Israel von Hans Lebrecht, und den anderen von dem Nahost-Experten Reiner Bernstein (München), die wir beide dokumentieren.
Doch zunächst die Ergebnisse in Zahlen:
Die Wahlbeteiligung lag bei 68,5 Prozent der 4,7 Millionen Stimmberechtigten und stellte damit einen historischen Negativrekord dar. Der von Scharon angeführte Likud-Block erhielt 38 von 120 Sitzen im Parlament (1999 waren es 19 Sitze), die Arbeitspartei kam auf 19 (24), die Schinui- ("Änderungs"-)Partei auf 15 Sitze (6). Die orthodox-sephardisch-fundamentalistische Schas-Partei erhielt 11 Mandate (17), die rechtsradikale Nationale Union 7 (6), die zionistische Friedenspartei Meretz 6 (10), die von der KP Israel getragenen Hadasch Front und der Taal Partei (Achmed Tibi) gemeinsam gebildete Liste erhielt 3 Sitze (4), die von Asmi Bischara angeführte Balad 3 (1), die aschkenasische rechtsnationalistische Mafdal 6 (5) und die aschkenasische Thora-Partei 5 (5) Mandate. Die vom Generalsekretär des Histadrúth Gewerkschaftsverbandes Amir Peretz angeführte Eine-Nation-Partei erhielt 3 Sitze (2), die von Nathan Scharanski angeführte GUS Einwanderer Alijah Partei erhielt 2 Sitze (6), die arabische Union, einschließlich der Islampartei erhielt 2 (6) Mandate.


Jenseits von Sharon: Die alten Probleme

Von Reiner Bernstein, München

Auch die Palästinenser wollten in den vergangenen Tagen wählen. Doch nach der Vertagung durch Yasser Arafat blieb es beim Termin in Israel. Ariel Sharons zweiter Triumph war vorhersehbar, trotz anhaltender Gewalt, trotz wirtschaftlicher Talfahrt, trotz hoher Staatsverschuldung, trotz der Korruptionsskandale und trotz der diplomatischen Einsamkeit Israels wie in den Zeiten des Kalten Krieges mit seinen automatischen Mehrheiten in den UN-Gremien. Doch diese Isolation scheint gewollt zu sein, will man den Worten Sharons Glauben schenken, dass internationale Friedensbemühungen nichts wert seien.

Für die Öffentlichkeit zählten allein die Ablehnung von Verhandlungen mit den Palästinensern und die Sicherheit vor ihnen, obwohl die Zahl der Bombenanschläge in den letzten Jahren alle Rekorde brach. Aber die Diskussion über ihre Ursachen, die alltägliche Gewalt der Besatzungspolitik, wird nicht geführt. Will man den Palästinensern keinen genetischen Defekt unterstellen, wäre diese Aufarbeitung dringend erforderlich. Doch so ist fast ein Drittel des Wahlvolkes entweder Sharon gefolgt oder hat sich der Stimme enthalten. Das wird für jede Regierung Folgen haben. Schon jetzt schießen die Spekulationen um den sechsten Wahltermin seit 1992 ins Kraut.

Ob sich die Arbeitspartei nach ihrer Niederlage noch einmal in das Prokrustesbett des "Likud" ("Geschlossenheit") legt, hängt davon ab, ob sie mit Amram Mitzna oder ohne ihn zu einer programmatischen Erneuerung bereit ist, nachdem sie das Vertrauenskapital zwei Jahre lang gründlich verspielt hat. Nur wenn sie sich politisch endgültig diskreditieren und eine Spaltung in Kauf nehmen will, wird sie dem Ruf des "Likud" folgen. Auch der selbstherrliche Yossi Sarid hat "Meretz" ("Energie") ruiniert und daraus die Konsequenz des Rücktritts gezogen; welche Zukunft der Partei beschieden ist, steht dahin. Dem cholerischen "Tommy" Lapid ist mit "Shinui" ("Wandels") zwar das Kunststück gelungen, mit 16 Mandaten in das Parlament einzuziehen, doch wird seine Regierungsfähigkeit höchst skeptisch beurteilt: Ihm fehlt ein Programm jenseits der Trennung von Staat und Religion und sozialpolitischer Wohltaten für den Mittelstand. Auch an einer Unstetigkeit des politischen Urteils entzündet sich die Kritik an ihm. Die nationalistische Partei des ehemaligen "Gefangenen von Zion" in der Sowjetunion, Natan Sharanski, hat eine schwere Verluste hinnehmen müssen. Sein Konkurrenz Avigdor Lieberman hingegen hat zwar sein Stimmenpotential erhalten, dürfte aber aufgrund seiner zahlreichen unappetitlichen Korruptionsaffären kaum als ernsthafter Koalitionspartner in Frage kommen.

Die Friedensszene ist innerlich gelähmt, weil sie der entscheidenden Frage aus dem Wege gegangen ist: Wie verträgt sich die Bereitschaft, den Palästinensern einen Staat zuzugestehen, mit der Verweigerung von politischer Unabhängigkeit und Souveränität? Indem auch die arabischen Parteien rechnerisch kaum profitiert haben, senden ihre Wähler ein doppeltes Signal aus: Sie wenden sich von dem Gemeinwesen ab, in dem sie leben, und solidarisieren sich einmal mehr mit der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Die Zeit ist vorüber, in der sie dem Staat Israel größere Loyalität entgegenbrachten, als dieser ihnen zu geben bereit ist. Die einzigartige Chance ist endgültig vertan, ein Verhältnis der koexistentiellen Gleichberechtigung zu entwickeln, das auf die besetzten Gebiete ausstrahlt.

Die Parteienlandschaft spiegelt die Zerrüttung der israelischen Gesellschaft wider. Dem "Likud" ist es zwar gelungen, das Wählerpotential der Rechtsparteien auf sich zu ziehen, aber Koalitionsverhandlungen werden dadurch nicht leichter. Fest stehen nur die Beschleunigung entdemokratisierender Prozesse, die Legitimierung rechtsfreier Räume, die die rechten Parteien und die Siedler seit langem besetzt haben, der Ausbau des enormen Einflusses der militärischen Führung auf die Politik und die weitere Aushöhlung elementarer Rechtsstaatsprinzipien. Setzt sich der Trend fort, das Oberste Gericht zu marginalisieren, würde Israel seinen Ruf als einzige Demokratie im Nahen Osten endgültig verspielen. Bei der Missachtung der palästinensischen Menschenrechte hält es schon heute einen Rekord, auch jüdische Friedensaktivisten unterliegen mittlerweile der Kriminalisierung.

Die religiösen und nationalistischen Parteien werden für die künftige Politik gegen die Palästinenser nicht mehr gebraucht, weil der "Yeshiva-Nationalismus" - die Symbiose von Religion, Land und Nation - seinen Weg durch alle Teile der Bevölkerung genommen hat. Die Regierungen haben dafür gesorgt, dass gewalttätige Siedler geschützt werden; die Armee ist zur Partei gegen Recht und Gesetz aufgestiegen und rühmt sich dennoch, höchsten Moralansprüchen gerecht zu werden. Außerdem wird der Anspruch auf die Westbank einschließlich des metropolitanen Jerusalem in einer Größenordnung von 950 Quadratkilometern mit einer doppelten Begründung erhoben. Der historisch-mystische Impetus verweist auf "Judäa und Samaria" mit ihren biblischen und spirituellen Ausstrahlung: Kein Jude habe zweitausend Jahre lang um die Rückkehr nach Tel Aviv oder Haifa gebetet. Das zweite aktuell-politische Argument bezieht seine Legitimation aus der systemischen Instabilität der Region: Bedrängte Regimes wie in Jordanien, Saudi-Arabien und Irak rechtfertigen den Drang nach territorialer Tiefe.

In den vergangenen Monaten ist spekuliert worden, welche Schritte die israelische Regierung in der Westbank und im Gazastreifen im Windschatten eines amerikanischen Krieges gegen Saddam Hussein unternimmt. Ob sie der Option folgt, die "palästinensische Frage" mittels eines Massentransfers aus der Welt zu schaffen, erscheint höchst zweifelhaft. Nachdem seit Beginn der zweiten Intifada rund hunderttausend Palästinenser die Westbank "still" verlassen haben sollen, würde eine militärisch organisierte Vertreibung das Problem nur um wenige Kilometer nach Osten oder Süden verschieben und die gesamte Region in einem unvorstellbaren Ausmaß destabilisieren. Ihm gegenüber könnten arabische Proteste gegen den Irak-Krieg geradezu trivial erschienen.

Sharons Wahlsieg soll dazu dienen, die nationalen Hoffnungen der Palästinenser endgültig zu begraben. Insofern war Arafats Absage der Wahlen ein strategischer Fehler, denn ohne Zweifel hätte sich die Mehrheit der Palästinenser unter dem Druck der Besatzung um ihn geschart. So überlässt er es Israel, seine Autorität und sein Ansehen weiter zu zermürben. Darüber hinaus präsentiert, während dort über den "jüdischen Staat" gestritten wird, seine Autonomiebehörde hier einen Verfassungsentwurf mit dem Islam als Staatsreligion und der Sharia als Hauptquelle der Gesetzgebung. Unabhängig von der strukturellen Unebenbürtigkeit zwischen Israel und den Palästinensern werden solche ideologischen Konfusionen dem blutigen Abnutzungskrieg weiteren Auftrieb geben.

Scharons Kriegskurs gestärkt - Friedenslager geschwächt

Von Hans Lebrecht, Kibbutz Beit-Oren

(...) Der Zuwachs der Likud Partei wird hauptsächlich damit erklärt, dass Scharon und seine Kollegen es mit ihrer Gewaltpolitik und der "Sicherheits" Panik-Gehirnwäsche verstanden haben, einen Großteil der jungen Neuwähler irrezuleiten und einzufangen. Ausserdem kamen wohl die meisten, bei den vorigen Knessetwahlen ihre Stimmen der Schass abgebenden ultra-religiösen Likud Anhänger zurück zu ihrer ursprünglichen Partei.

Der Vorsitzende der Hadasch Front, Knessetabgeordnete Mohammed Barake, erklärte Eurem Korrespondenten, er und seine Genossen seien mit dem Ergebnis, was die Front und ihrem Partner betrifft, zufrieden. Die Front habe vor allem ihren jüdisch-arabischen Charakter im Prinzip bewahrt, obzwar nahezu alle Stimmen aus dem arabischen Bevölkerungsteil für die Liste abgegeben wurden. Dies bedeute, dass die Chadasch ihre Vormachtstellung unter diesem Bevölkerungsteil Israels zurück gewonnen habe. Dies habe eine besondere Bedeutung angesichts der für die Sache des Friedens und der Demokratie äußerst gefährlichen Stärkung des arbeiterfeindlichen, auf rassistischen Gewaltkurses gegenüber dem Palästinenservolk und der Einreihung in den aggressiven USA Kriegskurs ausgerichteten rechtsradikalen und faschistischen Lagers einerseits, und andererseits der Niederlage des gesamten Friedenslagers.

In Kreisen der Arbeitspartei Führung wird die Verantwortung für die Wahlniederlage, der Verlust von fünf parlamentarischen Mandaten und den bisherigen Platz der stärksten Knesset Fraktion hauptsächlich mit der Beteiligung der Partei an der Scharon Regierung und deren Kriegskurs gegenüber den Palästinensern und an dem Wirtschaftsdebakel, der schlimmen weiteren Verarmung der werktätigen und notleidenden Bevölkerung. Der Austritt aus dieser antinationalen und antisozialen Regierung, welcher die vorgezogenen Wahlen notwendig gemacht habe, kam viel zu spät, um während der kurzen Zeit der Wahlvorbereitungen den Schaden einigermaßen gut machen zu können und das Vertrauen ihrer Gefolgschaft zurück zu gewinnen.

Mit der Schinui Partei, einem Gewinner bei diesen Wahlen, hat es eine besondere Bewandnis. Diese Partei, angeführt von einem großschreierischen, rechtsradikal eingestellten Journalisten, Josef (Tommy) Lapid, ist hauptsächlich aus unzufriedenen Elementen aus anderen Parteien, der Likud, der Arbeitspartei und der Meretz zusammengewürfelt. Israel hat schon Erfahrung gesammelt mit solchen Parteien, die meistens nach den Wahlen auseinander gefallen sind. So erschien mit großem propagandistischem Aufwand zu den Wahlen von 1977, eine Partei für demokratische Veränderung, Dasch. Ihre Führung war zusammengewürfelt aus enttäuschten Arbeiterpartei Spitzenpolitikern, von der Mahal (Vorgängerpartei der Likud) und anderen, welche eine Alternative zu der damaligen, nicht allzu beliebten Rabin Regierung propagierte. Dasch hatte mit 15 Mandaten einen sensationellen Wahlerfolg. Was dann geschah war, dass nach den Wahlen ein Teil der gewählten Dasch Abgeordenten mit Ministersesseln der Mahal Partei und ihrem Führer, dem traditionellen Haupt der rechtsradikalen Opposition, Menachem Begin, ermöglichten, die Arbeiterpartei als regierungsbildende Mehrheitspartei durch eine rechtsadikale Regierung abzulösen. Die Dasch Partei hat bald danach aufgehört zu existieren. Die abtrünnigen Gefolgsleute der Arbeiterpartei einerseits, und andererseits der Mahal Partei kehrten in die Arme ihre früheren Parteien zurück, oder schieden beschämt aus der politischen Bühne aus. Zwei verübten sogar Selbstmord.

Die mit großem Propaganda Jubel zu den Wahlen von 1999 angetretenen Zentrumspartei, wie der genannte Vorgänger aus enttäuschten Führungskader der Arbeitspartei und dem Likud, sowie ausgeschiedene Armee Generäle ohne jeden ideologischem Kitt zusammengewürfelt, hatte ebenfalls keine lange Lebensdauer, nachdem sie bei den vorigen Knessetwahlen ihren Schaden angerichtet und Likud Chef Benjamin Netanjahu in den Sattel der Regierung gehievt hatte.

Viele sehen für die jetzt zur drittstärksten Knesset Fraktion groß gewordene Schinui Partei eine ähnliche Zukunft voraus. Der Kitt, der diese Partei zusammenhält, ist derweil noch die grundsätzlich sekuläre Plattform und die antiklerikale, gegen den allzu großen Einfluss auf Regierung und Gesetzgebung der ultra-orthodox jüdischen Parteien und ihrer Rabbinatshöfe gerichtete Einstellung. Der verhätnismäßig große Zuwachs der Schinui kam hauptsächlich aus Kreisen von abtrünnigen Arbeistpartei, Meretz und Likud Wählern. Dieser Kitt wird kaum ausreichen dieser Partei eine lange Zukunft zu gewährleisten, wenn sie und ihr Anführer Lapid ihre anti-klerikale Standhaftigkeit unter Beweis werden stellen müssen.


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