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Flucht nach vorn

Wikileaks-Chefs Julian Assange will Dokumente zur israelischen Politik ins Netz stellen

Von Knut Mellenthin *

Julian Assange hat in einem Interview mit dem arabischen Sender Al-Dschasira die Veröffentlichung aller ihm vorliegenden Depeschen zur Politik Israels versprochen. Die fünf Mainstreamblätter, denen der Wikileaks-Chef die Dokumente aus dem US-Außenministerium zur Auswertung überlassen hatte, haben Israel bisher mit auffallender Schonung behandelt. Das war für einige im Internet aktive Gruppen Grund genug, Gerüchte über einen Deal zwischen Assange und der israelischen Regierung in die Welt zu setzen. Einige behaupteten sogar, den Ort der Vereinbarung zu wissen, nämlich Genf. Andere meldeten unter Berufung auf frühere Wikileaks-Mitarbeiter, daß Assange der einzige sei, der das Paßwort für die Depeschen der amerikanischen Botschaft in Tel Aviv kenne. Das kann indessen nicht stimmen, da zumindest auch den Redaktionen der beteiligten Zeitungen – New York Times, Guardian, Le Monde, Spiegel und El País – das gesamte Material schon vor einem Vierteljahr zugänglich gemacht wurde.

Zahlenabweichungen

Assanges Äußerungen gegenüber dem in Katar ansässigen Sender sind vor diesem Hintergrund auch als Flucht nach vorn zu interpretieren. Die beteiligten Zeitungen hätten bisher nur zwei Prozent der auf Israel bezogenen Dokumente veröffentlicht, sagte der Wikileaks-Chef. Das liege an den »empfindlichen Beziehungen« zwischen ihren Staaten und Israel. In den USA kämen noch »Empfindlichkeiten« in Zusammenhang mit der jüdischen Bevölkerungsgruppe hinzu. WikiLeaks werde nun selbst in den nächsten sechs Monaten die rund 3700 Depeschen der Botschaft in Tel Aviv ins Netz stellen.

Die Zahlenangabe Assanges weicht deutlich von der des Spiegels ab. Das Magazin bietet online einen »interaktiven Atlas«, auf dem zu finden ist, wieviel Wikileaks-Depeschen jeweils bestimmten US-Botschaften zuzuordnen sind. In der Region Nah- und Mittelost liegt Ankara mit 7918 an der Spitze. Es folgen Bagdad mit 6677, Amman mit 4312, Kairo mit 2752 und Beirut mit 2368. Für die US-Botschaft in Israel sind dort lediglich 3194 Depeschen vermerkt. Wie auch immer: Am 26. Dezember waren erst 27 Dokumente aus Tel Aviv auf der Wikileaks-Website zu finden. Unter dem Stichwort »Israel« waren dort 66 Depeschen zu finden. Dagegen standen mehr als 250 Dokumente im Netz, die sich mit dem Iran beschäftigten.

Es muß an dieser Stelle an das bisherige Verfahren von Wikileaks beim Umgang mit den Files aus dem State Department erinnert werden: Anders als bei den Berichten zu den Kriegen in Afghanistan und Irak hat die Gruppe diesmal nicht ihr gesamtes Material mit einem Schlag ins Netz gestellt, sondern den fünf Mainstreammedien zunächst die Auswahl der Dokumente und die Bestimmung des Tempos überlassen. Deren Redaktionen vereinbarten vorab Themenschwerpunkte, zu denen sie an festgelegten Tagen kommentierende Artikel und darin eingebettet einige wenige Dokumente veröffentlichten. Dieser genau abgestimmte Zeitplan begann am 28. November und endete am 10. Dezember. Im Wesentlichen stellte Wikileaks in dieser Zeit nur diejenigen Depeschen auf seine Seiten, die bereits von einer der beteiligten Zeitungen publiziert worden waren. Auch die von den Redakteuren vorgenommenen Eingriffe in die Dokumente, hauptsächlich Unkenntlichmachung von Namen und Funktionen, wurden von Wikileaks nachvollzogen.

Unkontrollierte Verbreitung

Man könnte meinen, daß Wikileaks seit dem Ende des vereinbarten Zeitplanes am 10. Dezember freie Hand zur selbständigen Veröffentlichung des Materials hat. Das scheint aber aus unerklärten Gründen bisher nicht der Fall zu sein. Am 27. Dezember hatte Wikileaks von den insgesamt 251287 Dokumenten aus dem State Department erst 1897 ins Netz gestellt, also weniger als ein Prozent.

Trotzdem hat inzwischen eine anscheinend unkontrollierte Verbreitung von Depeschen eingesetzt. Es ist nicht festzustellen, ob diese von Wikileaks ausgeht oder von Personen aus den fünf Zeitungen. Immerhin sollen an den Arbeiten mit den Dokumenten ungefähr 120 Journalisten beteiligt gewesen sein, von denen viele Zugang zum gesamten Material hatten. Inzwischen hat die norwegische Tageszeitung Aftenposten mitgeteilt, daß auf nicht genanntem Weg sämtliche mehr als 250000 Dokumente in ihren Besitz gelangt sind. Schon Anfang Dezember hatte die libanesische Zeitung Al Ahbar 183 Depeschen von den US-Botschaften im Irak, Ägypten, Libanon, Algerien, Mauretanien, Marokko und Tunesien ins Netz gestellt, ohne deren Herkunft aufzuklären. Auch bei der neuseeländischen Zeitung Herald on Sunday tauchten unveröffentlichte Wikileaks-Dokumente auf. Die meistgelesene israelische Tageszeitung Jedioth Ahronoth konnte am 24. Dezember über eine bisher unbekannte Depesche aus dem State Department berichten. Das damals noch von Concoleezza Rice geleitete Ministerium hatte am 25. April 2008 alle Auslandsvertretungen über die Hintergründe eines israelischen Luftangriffs auf einen angeblichen syrischen Reaktor informiert.

Warum Wikileaks jetzt noch volle sechs Monate braucht, um alle Depeschen der US-Botschaft in Tel Aviv zu veröffentlichen, erläuterte Julian Assange in seinem Gespräch mit Al-Dschasira nicht. Möglicherweise hat es doch etwas mit einer beabsichtigten Auswahl und Bearbeitung der Dokumente zu tun.

* Aus: junge Welt, 28. Dezember 2010

Streichen, kürzen, verschweigen

Bei der »redaktionellen Bearbeitung« der Wikileaks-Dokumente durch die fünf beteiligten Mainstream-Medien hatte die US-Regierung ein gewichtiges Wort mitzureden. Der Journalist David E. Sanger von der New York Times, Autor mehrerer Artikel zu den Diplomatenpapieren, schilderte in einem Interview das Verfahren: »Wir unternahmen sogar den sehr ungewöhnlichen Schritt, die rund 100 Depeschen, über die wir schrieben, der US-Regierung zu zeigen und sie zu fragen, ob sie zusätzliche redaktionelle Eingriffe vorzuschlagen habe. Nun, sie hatten vieles vorzuschlagen, was wir nicht zu tun bereit waren, einschließlich der Unterhaltungen, die zwischen einigen US-Diplomaten und einigen Weltführern stattfanden. (…) Bill Keller, unser Chefredakteur, und eine Anzahl anderer Redakteure trafen am Ende die Entscheidungen, wo sie die Linie ziehen wollten. Ich hörte einige der Bedenken der Regierung zusammen mit mehreren meiner Kollegen und mit Dean Baquet, der unser Bürochef hier in Washington ist. Wir stellten Fragen, um das Wesen der Bedenken des State Department zu verstehen, aber die Entscheidungen trafen nicht wir.«

Sanger bezog sich dabei nur auf die ersten 100 Dokumente, die Ende November ins Netz gestellt wurden. Es ist jedoch unwahrscheinlich, daß bei den folgenden Veröffentlichungen wesentlich anders vorgegangen wurde. Der Journalist erwähnte auch, daß in mindestens einem Fall die Redaktion der New York Times dem »Wunsch« der Regierung folgte, ein bestimmtes Dokument, das einem Artikel zugrunde lag, nicht zu veröffentlichen.

Der Spiegel griff aus einem Bericht des US-Botschafters in Berlin, Philip D. Murphy, über ein ausführliches Hintergrundgespräch mit Gregor Gysi nur einen einzigen Punkt auf, nämlich dessen Argumentation für den Verbleib Deutschlands in der NATO. Das Magazin verzichtete aber, möglicherweise mit Rücksicht auf den Linken-Politiker, darauf, die Depesche zu veröffentlichen. Auch auf der Wikileaks-Webseite ist Murphys Kabel an das State Department nicht zu finden.
(km)

** Aus: junge Welt, 28. Dezember 2010




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