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Die Hälfte der Wahrheit: der Winograd-Bericht

Von Norman Paech

Am 30. Januar erschien in Israel der sog. Winograd-Bericht. Er wurde im Auftrag der israelischen Regierung von einer Kommission unter Leitung des ehemaligen Richters Eliyahu Winograd erarbeitet. In dem Bericht werden Israels politischer und militärischer Führung schwere Versäumnisse während des Libanon-Kriegs im Sommer 2006 vorgeworfen. Der Hamburger Völkerrechtler und Bundestagsabgeordnete Prof. Dr. Norman Paech setzt sich kritisch mit den Ergebnissen des Berichts auseinander.

Das wichtigste Ergebnis des gerade veröffentlichten Berichts über den Libanonkrieg ist die Entlastung von Regierungschef Ehud Olmert. Er wird alle Rücktrittsforderungen überstehen, denn der Bericht der Kommission unter Leitung des ehemaligen Richters Eliyahu Winograd fand Olmerts Entscheidung vom 12. Juli 2006, israelische Truppen in den Libanon zu schicken, „beinahe unvermeidlich“ und die angestrebten Ziele des militärischen Schrittes legitim. Auch Verteidigungsminister Ehud Barak wird seinen angekündigten Rücktritt widerrufen und von seiner Forderung nach Neuwahlen Abstand nehmen, denn vor den Türen des Regierungssitzes wartet bereits Benjamin Netanjahu. Der Winograd-Bericht lässt allerdings außer Zweifel, dass der Libanonkrieg ein politisches und militärisches Desaster war, der keine seiner Ziele erreichte. "Dieser Krieg war ein großes und schwerwiegendes Scheitern", "gravierende Fehler auf höchster politischer und militärischer Ebene" seien gemacht worden, heißt es im Bericht. Man wird eine Reorganisation der Armee und eine bessere Vorbereitung auf künftige Militäreinsätze fordern, man wird den Mut loben, überhaupt eine Untersuchungskommission eingerichtet zu haben und zur ohnehin schwierigen palästinensischen Tagesordnung übergehen.

Der Winograd-Bericht erwähnt allerdings mit keinem Wort, dass es sich um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gehandelt hat, in dessen Verlauf zudem schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts begangen worden sind. Auch die internationale Presse schweigt dazu. Aber die Kommission sollte sich von Anfang an ja nur auf die Gründe für das militärische Versagen der stärksten Armee im Nahen Osten gegen eine „quasimilitärische Organisation“ konzentrieren. Die beiden immer noch in den Händen der Hisbollah gefangenen Soldaten wiegen dabei politisch offenbar schwerer als die Toten des 34 Tage dauernden Krieges: 1.184 Libanesen und 118 Israelis.

Für die völkerrechtliche Beurteilung des Konfliktes ist entscheidend, wer der Angreifer, der Aggressor, gewesen ist. Die Entführung der beiden israelischen Soldaten und die Tötung drei weiterer Soldaten am 12. Juli 2006 war zweifelsfrei ein völkerrechtswidriger Akt, der die Bestrafung der Verantwortlichen nach sich ziehen musste. Die Entführung war aber nichts anderes als einer der zahlreichen Zwischenfälle, wie sie sich seit Mai von beiden Seiten an dieser Grenze ereignet hatten. Sie wog nicht so schwer, dass sie den Tatbestand eines bewaffneten Angriffs i.S. des Artikels 51 UN-Charta erfüllte. Ein derartiger Grenzzwischenfall löst allenfalls das Recht auf eine unmittelbare und verhältnismäßige Abwehrmaßnahme aus, wie z.B. die Verfolgung der Täter, um sie zu ergreifen und weiteren Zwischenfällen vorzubeugen. Ein umfassendes Selbstverteidigungsrecht folgt aus einem derartigen Zwischenfall jedoch nicht. Erst die am 13. Juli begonnene Bombardierung des Flughafens und eines Vororts von Beirut sowie die Seeblockade erreichten einen derartigen Umfang und Schwere, dass sie den Tatbestand der Aggression nach Art. 51 UN-Charta erfüllten. Nicht Israel sondern Libanon stand nach der eindeutigen Aggressionsdefinition der UN-Generalversammlung von 1974 das Recht auf Selbstverteidigung zu.

Die israelische Luftwaffe bombardierte Wohnhäuser und ganze Wohnsiedlungen mit Schulen und Moscheen, etwa 1800 Gebäude bis weit in den Norden über Beirut hinaus. Über 600 km Straßen, 78 Brücken, die Autobahn Damaskus – Beirut wurden bombardiert. Am 14. Juli wurde ein Elektrizitätswerk nahe der Küste zerstört, 12.000 Tonnen Öl ergossen sich nach Angaben des World Wildlife Fund (WWF) ins Meer. Ein UN-Beobachtungsposten wurde „offensichtlich gezielt“ angegriffen, wie UN-Generalsekretär Kofi Annan vor der Presse erklärte. Zwei Blauhelmsoldaten kamen ums Leben. Das humanitäre Völkerrecht, wie es in der Haager Landkriegsordnung von 1907, den Genfer Abkommen von 1949 und den Zusatzabkommen von 1976 kodifiziert ist, verbietet eindeutig eine solche Kriegsführung, wo es keine Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Objekten als Ziel der Angriffe gibt. Die Berufung auf die sog. Kollateralschäden zur Rechtfertigung wirkt wie Hohn angesichts der Äußerung des israelischen Generalstabschefs Dan Halutz, „die Uhr im Libanon um 20 Jahre zurückzudrehen“, falls die entführten Soldaten nicht freigelassen würden.

Allerdings hat auch die Hisbollah, die ebenso wie die israelische Armee an das Völkerrecht gebunden ist, mit ihrem wahllosen Raketenbeschuss der nordisraelischen Städte gegen die Konventionen verstoßen. 55 Tote und an die 2000 Verletzte hatten die Israelis zu beklagen. Diese Kriegsführung ist nicht durch das Selbstverteidigungsrecht gedeckt. Ein besonderes Problem stellte die Taktik der Hisbollah dar, ihre Raketenstellungen vielfach in Wohngebieten unterzubringen. Dies verstößt ganz eindeutig gegen das Gebot des Kriegsvölkerrechts, militärische und zivile Ziele voneinander zu trennen und die Zivilbevölkerung nicht für ihre militärischen Aktionen zu benutzen. Dennoch gab dieser Völkerrechtsverstoß den Israelis nicht das Recht, ganze Wohnviertel zu bombardieren.

Schließlich stellt der Abwurf von Streubomben auf libanesischen Boden in den letzten Tagen des Krieges eine schwere Verletzung des humanitären Völkerrechts dar. Israel rechtfertigt den Abwurf zwar damit, dass diese Waffen bis jetzt nicht ausdrücklich geächtet seien. Nach den allgemeinen Regeln der Haager und Genfer Konventionen handelt es sich jedoch um verbotene Waffen, da sie unnötige Leiden an Zivilisten auch nach den Kriegshandlungen verursachen. Hisbollah soll nach Angaben von Human Rights Watch ebenfalls Streubomben eingesetzt haben.

Es gibt keine Kriege, in denen die Regeln des humanitären Völkerrechts vollständig beachtet werden. Das erlaubt jedoch nicht die Haltung, diese Regeln auszublenden oder zu übersehen. Die Winograd-Kommission war auf dem rechtlichen Auge blind. Ein Phänomen, das wir bedauerlicherweise vom Umgang mit Palästina in der Nahost-Debatte kennen. Doch sollten wir uns nicht mit der Hälfte der Wahrheit begnügen. Zudem haben wir bei unserem „ceterum censeo“ zu bleiben, dass nur der Rückzug aus den besetzten Gebieten, die Vereinbarung sicherer Grenzen zwischen Israel und einem palästinensischen Staat sowie eine Regelung für die Geflüchteten und Vertriebenen dem Frieden in dieser Region eine Chance geben.

31. Januar 2008


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