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"Israel nicht Fanatikern überlassen"

Zentralrat der Juden geht auf Distanz *

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat sich klar von der Politik der israelischen Regierung abgegrenzt. Israel drohe sich zu einem Staat zu entwickeln, »in dem ultraorthodoxe und ultranationalistische Kräfte immer mehr an Einfluss gewinnen», erklärte der Generalsekretär des Dachverbandes, Stephan Kramer, in einem in der Berliner »Tageszeitung« abgedruckten Streitgespräch mit der deutsch-israelischen Publizistin Iris Hefets. Der jüdische Staat Israel dürfe nicht »Fanatikern und Fundamentalisten« überlassen werden.

Kramer kritisierte auch ausdrücklich die Erstürmung von Schiffen der Gaza-Hilfsflotte durch die israelische Armee. Bei der Militäraktion waren vor einem Monat neun Aktivisten getötet worden. »Den Soldaten kann ich da nach meinem heutigen Kenntnisstand keinen Vorwurf machen«, so der Generalsekretär des Zentralrates. »Aber diejenigen, die sie trotz Kenntnis der Bedrohungslage dorthin geschickt haben, die müssen zur Verantwortung gezogen werden.« Die Soldaten hätten niemals eingesetzt werden dürfen.

Kramer rief ferner die jüdischen Gemeinden dazu auf, auf einen »Juden-Holocaust-Bonus« zu verzichten. »Wir kommen als jüdische Gemeinschaft in Deutschland langfristig nur weiter, wenn wir aus dieser Opferecke rauskommen - und zwar selbstbewusst«, erklärte der Generalsekretär des Zentralrates. Zugleich warb er um Verständnis für Hemmungen von Juden, bei aller Solidarität zu Israel auch Kritik an der Politik der dortigen Regierung zu üben: »Für manche ist Israel sicher eine Ersatzidentifikation, weil sie in Deutschland trotz aller Bemühungen das Gefühl haben, fremd zu sein.«

Hefets hatte Anfang März in der taz scharf die Ritualisierung des Holocaust-Gedenkens in Israel kritisiert. Die Berliner Jüdische Gemeinde lud daraufhin Ende April zu einer Diskussion mit Chefredakteuren über Antisemitismus in deutschen Medien ein. Die Veranstaltung führte zu einem Eklat, da Unterstützer von Hefets für sie ein Rederecht einforderten, dies aber von den Veranstaltern abgelehnt wurde.

* Aus: Neues Deutschland, 5. Juli 2010


Schulterschluss gelöst

Von Roland Etzel ** Es ist vielen Mitgliedern von Jüdischen Gemeinden in Deutschland nach eigenen Aussagen nicht wohl dabei gewesen, wenn ihr Zentralrat jede, aber auch jede mit Tod und Verderben verbundene Aktion des israelischen Staates gegen Palästinenser guthieß. Ob bei der ökonomischen Strangulierung des Gaza-Streifens oder der wortwörtlichen eines Hamas-Funktionärs auf einem Hotelzimmer in Dubai - was nicht einfach für unwahr erklärt wurde, hat man im Rat stets offensiv verteidigt.

Die Zahl der jüdischen Bürger hierzulande, die sich nicht von der Rhetorik Broders oder Friedmans vertreten fühlen, hat seitdem eher zu- als abgenommen. Auch weil teils weltbekannte Prominente - von Jimmy Carter über Henning Mankell bis Rupert Neudeck - auf ihre Art sehr glaubhaft vermittelten, warum das amokartige Politikverständnis Israels nicht toleriert werden sollte. Gegen sie die Antisemitismuskeule in Anschlag zu bringen, wie das teilweise geschah, wirkte da einfach nur lächerlich. Gleichzeitig zeigt sich die intellektuelle Elite in Israel selbst zunehmend ernüchtert davon, dass Netanjahu und seine Ultrarechten dem Lande offenbar jede Friedensvision mit seinen Nachbarn zu verbauen gedenken.

Wie schon für große Teile der westlichen Öffentlichkeit wurde der Überfall auf die Gaza-Flotille wohl zu einem neuralgischen Punkt. Seit dem Wochenende verweigert nun auch der Zentralrat der Juden in Deutschland den Schulterschluss mit den »ultranationalistischen Kräften« in Israel und kritisiert auch die Erstürmung der Schiffe. Er steht damit gewiss auch nicht hinter der Weigerung Netanjahus vom Freitag, sich für die neun auf dem Schiff Getöteten wenigstens zu entschuldigen.

** Aus: Neues Deutschland, 5. Juli 2010 (Kommentar)

Zitate aus dem taz-Interview

Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einem Gespräch in der taz mit Stephan Kramer, seit 2004 Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, und mit Iris Hefets, Vorstandsmitglied der "Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden". Hefets hat Israel vor acht Jahren aus politischen Gründen verlassen und lebt in Berlin.

Iris Hefets hat in einem Artikel, der in der taz erschien, die Instrumentalisierung des Holocaust durch die israelische Politik angeprangert. Ist das für Sie ein Beispiel für Antisemitismus in der deutschen Presse?

Kramer: Nein. Mir gefällt ihre polemische Art nicht. Aber ich gebe ihr zumindest dahin gehend recht, dass der Holocaust von einzelnen Mitgliedern der israelischen Regierung und Teilen der israelischen Gesellschaft für politische Zwecke benutzt wird. In der Debatte über die atomare Bedrohung durch den Iran gab es Plakate, die Ahmadinedschad vor dem Tor von Auschwitz zeigten. Das geht nicht. Es gibt eine reale Bedrohung durch den Iran. Aber es ist falsch, diese als zweiten Holocaust darzustellen. Ahmadinedschad ist nicht Hitler.

Was stört Sie denn am Zentralrat der Juden?

Hefets: Der Zentralrat wird vom deutschen Staat finanziert, um das religiöse und kulturelle Leben der Juden in Deutschland zu organisieren. Nicht um als verlängerter Arm der israelischen Botschaft aufzutreten.

Kramer: Das tun wir auch nicht. Wir haben als Zentralrat zum Beispiel sehr deutlich gesagt, dass wir die Siedlungspolitik nicht unterstützen können, weil sie nichts zur Sicherheit des Staates Israel beiträgt - im Gegenteil.

Hefets: Aber wenn Sie als Zentralrat der Juden Zeitungsanzeigen veröffentlichen, die den Angriff auf Gaza verteidigen, dann geht das schon in diese Richtung. (...)

Warum ist Israel vielen Juden in Deutschland so heilig?

Kramer: Es gibt diese universelle Sehnsucht nach Zugehörigkeit, bei Juden wie allen anderen Menschen auch - das ist nichts spezifisch Jüdisches. Für manche ist Israel sicher eine Ersatzidentifikation, weil sie in Deutschland trotz aller Bemühungen das Gefühl haben, fremd zu sein. Ich finde, das Judentum sollte wie eine Familie sein. Da zofft man sich gelegentlich - aber die Familie verlässt und verstößt man auch nicht.

Hefets: Das klingt zwar sehr schön, und da steckt auch viel Jiddischkeit drin. Aber ich finde dieses Bild auch gefährlich: Israel ist ein Staat, und es geht hier um Politik und um Menschenrechte. Da kann es nicht sein, dass man sagt: Okay, mein Sohn hat zwar jemanden ermordet - aber ich bin dagegen, dass er ins Gefängnis geht, weil er einfach mein Sohn ist und wir eine Familie sind, egal was passiert.

Kramer: Das habe ich auch nicht gesagt.

Hefets: Aber wie können Sie das, was in Gaza passiert, als israelische Selbstverteidigung bezeichnen?

Kramer: Wir äußern uns doch wesentlich differenzierter. Nehmen Sie das Beispiel der Gaza-Flottille: Man kann den israelischen Soldaten dort nicht einfach pure Mordlust vorwerfen. Sie waren einem Mob ausgesetzt, der, mit Eisenstangen und Messern bewaffnet, versucht hat, sie zu lynchen. Den Soldaten kann ich da nach meinem heutigen Kenntnisstand keinen Vorwurf machen. Aber diejenigen, die sie trotz Kenntnis der Bedrohungslage dorthin geschickt haben, die müssen zur Verantwortung gezogen werden. Ziemlich klar scheint mir, dass die Soldaten niemals hätten an dieser Stelle eingesetzt werden dürfen.

(...)

Kramer: Israel wurde aufgrund eines Beschlusses der Vereinten Nationen ausdrücklich als ein jüdischer Staat aufgebaut. Aber wir dürfen Israel nicht den Fanatikern und Fundamentalisten überlassen - das ist, glaube ich, unsere Verpflichtung. Und wir müssen uns die Frage stellen: Was heißt "jüdischer Staat"? Jüdisch im religiösen oder im ethnischen Sinne? Ich glaube, wir sind alle aufgerufen, zu hinterfragen, neu zu definieren und um all die anderen Aspekte zu bereichern, die Judentum und Jüdischkeit ausmachen. Sodass sich auch nichtjüdische Bürger zu diesem jüdischen Staat zugehörig fühlen können.

Auszüge aus: taz, 3. Juli 2010




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