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"Die kolonialistische Landnahme ist immer noch nicht zu Ende"

Gespräch mit Hanin Zoabi. Über die israelische Herrenvolk-Demokratie, die andauernde "Nakba" und eine demokratische Vision *


Hanin Zoabi ist israelische Politikerin arabischer Abstammung und seit 2009 Abgeordnete der Knesset für die Balad-Partei. Sie studierte Psychologie und Philosophie in Haifa und Jerusalem. 2010 nahm sie am Free-Gaza-Konvoi an Bord der Mavi Marmara teil.

Israel ist seinem Selbstverständnis und dem Verständnis des Westens nach die einzige Demokratie in Nahost. Wie demokratisch erscheint Ihnen als israelische Palästinenserin der Staat Israel?

Das Verhalten des israelischen Staates gegenüber den in Israel lebenden palästinensischen Bürgern ist ein Indikator dafür, ob Israel eine Demokratie ist oder nicht, und auch dafür, ob Israel an einer ernsthaften Verständigung interessiert ist. Israel kann in der Westbank und auf dem Gazastreifen sein Terrorregime entfalten und sich dennoch als Demokratie bezeichnen. Auch die europäischen Staaten waren Demokratien, als sie andere Länder unter ihr koloniales Joch gezwungen haben. Israel kann sein brutales Vorgehen in den besetzten Gebieten als Terrorbekämpfung und sich selbst als Terroropfer darstellen. Die Ungleichbehandlung, die es seinen Bürgern palästinensischer Herkunft zukommen läßt, wirft indes Fragen nach seiner demokratischen Verfaßtheit auf. Unser Auftreten als Palästinenser und Bürger Israels stellt für den Staat Israel eine ständige Herausforderung dar.

Ist Israel eine Herrenvolk-Demokratie, ein Apartheidstaat?

In Israel gibt es 31 Gesetze, die auf die Diskriminierung der Palästinenser gerichtet sind, ohne daß im Gesetzestext das Wort Palästinenser oder Araber vorkommt. Vor der Regierung Netanjahu waren es 22, unter ihr sind neun dazugekommen. Diese Gesetze betreffen die Staatsbürgerschaft. Zuerst einmal haben allen Juden auf der Welt Anspruch auf die israelische Staatsbürgerschaft, während außerhalb Israels lebende Palästinenser keinen Anspruch auf Einbürgerung haben. Der neueste Verfassungszusatz besagt, daß ein israelischer Palästinenser im Falle einer Eheschließung mit einer Palästinenserin aus dem Westjordanland oder dem Gazastreifen oder aus Syrien seine Heimat verlassen muß, wenn er mit seiner Partnerin zusammenleben will. Ich könnte einen Deutschen heiraten, aber keinen Palästinenser, der außerhalb der Grenzen Israels lebt. Das ist ein Gesetz, das in unsere privatesten Entscheidungen eingreift.

Der zweite zentrale Bereich einer die Palästinenser diskriminierenden Gesetzgebung betrifft die Landfrage. Seit 1948 hat Israel 82 Prozent unserer Grundstücke konfisziert. Nun haben wir noch zwei Prozent des Landes, das wir vor 1948 besaßen. Israel hat 600 Städte, Dörfer und Siedlungen neu gebaut – ausschließlich für Juden. Viele von uns leben nach 63 Jahren immer noch in den gleichen Wohngebieten, die sie nach 1948 hätten verlassen müssen. Sind also Illegale oder anwesende Abwesende. Es gibt im Süden 40 nicht anerkannte Dörfer, das sind Dörfer, die auf israelischen Landkarten nicht zu finden sind. Es gibt immer noch den Plan, das Land, auf dem diese Dörfer stehen, zu konfiszieren und die arabische Bevölkerung auf einer kleinen Fläche zu konzentrieren. Vor einem Monat wurde in der Knesset ein reines Apartheid-Gesetz verabschiedet. Eine Gemeinde mit bis zu 400 Häusern kann sich weigern, Personen, die sich dort ansiedeln wollen, aufzunehmen. Mit Personen sind Araber gemeint. Nachdem man uns bereits des Landes enteignet hat, beraubt uns der Staat auch noch des Rechtes, in einem bestimmten Dorf zu leben. Das heißt, daß der Staat Israel auch nach 63 Jahren seine Politik der Okkupation fortsetzt. Der Staat tritt gegenüber Bürgern dieses Landes mit der Attitüde des Kolonialisten auf. Das ist der tiefere Sinn dieses Gesetzes. Das zionistische Projekt der Staatsgründung ist immer noch nicht vollendet, es wird tagtäglich fortgesetzt. Der Staat Israel verhält sich nach mehr als sechs Jahrzehnten seiner Existenz noch immer nicht als ein normaler Staat. Die kolonialistische Landnahme ist noch immer nicht zu Ende gebracht worden. Obwohl wir Staatsbürger sind, werden wir nicht als solche behandelt.

Wir, die Enteigneten, werden als Invasoren bekämpft, wenn wir unser Recht auf Land geltend machen wollen. Die Landfrage ist der wichtigste Teil unseres Kampfes. Jeder Palästinenser würde auf die Frage, was an der Spitze der Agenda steht, antworten: das Land, das Land und nochmals das Land.

Gibt es hinsichtlich der Landfrage innerhalb des zionistischen Spektrums unterschiedliche Positionen?

Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß die Politik des Landraubs vor allem von der zionistischen Rechten verfolgt wird. Die Initiatoren aller die Landfrage betreffenden Gesetze waren linke Zionisten. Es stimmt keineswegs, daß innerhalb des Zionismus die Rechten Rassisten und die Linken Antirassisten wären. Es war die Arbeitspartei, welche die meisten Gesetze hinsichtlich der Bodenverteilung eingebracht hat.

Die Regierung Netanjahu legt verstärkt Wert auf das Bekenntnis ihrer Bürger zum jüdischen Charakter des Staates und will diesbezügliche »Illoyalitäten« unter Strafe stellen.

Unter der Regierung Netanjahu wurden die jüdische Identität des Staates betreffende Gesetze, auch Loyalitätsgesetze genannt, verabschiedet. Natürlich geht es nicht darum, unsere Identität als Palästinenser zu schützen. Wir werden arabische Israelis genannt. Oder Nicht-Juden, oder wir werden unter die Minderheiten subsumiert. Aber als Palästinenser werden wir nicht zur Kenntnis genommen. In diesem Zusammenhang sind die Gesetze über die Erziehung von größter Bedeutung. In deren Mittelpunkt steht der Auftrag zur Förderung der jüdischen Identität, der jüdischen Kultur, der Beziehungen zwischen den Juden und dem Land Israel, zwischen den israelischen Juden und den Juden der Welt, zwischen Israel und den arabischen Nachbarstaaten usw. Die Palästinenser aber befinden sich jenseits des israelischen Bildungs-und Erziehungsauftrags. Wir existieren nicht. Es ist eine Art psychologischer ethnischer Säuberung – und das in Permanenz. Wir haben vor 1948 nicht existiert und existieren auch weiterhin nicht. Die Nakba, die palästinensische Katastrophe (Vertreibung von etwa 700000 arabischen Palästinensern aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina, das am 14. Mai 1948 als Staat Israel seine Unabhängigkeit erlangte – d.Red.), hat es nicht gegeben. Das Wort darf nicht verwendet werden – auch nicht in den Schulen mit arabischer Unterrichtssprache. Das Thema hat im gesellschaftlichen Diskurs nicht zu existieren. Doch wenn ein Bulldozer kommt und eines unserer Häuser zerstört, dann lernen unsere Kinder, was die Nakba ist. Und daß die Nakba kein auf 1948 beschränktes Ereignis ist, sondern ein andauernder Prozeß.

Wir fordern nicht nur das Recht zum Studium unserer eigenen Geschichte ein, wir fordern vielmehr, daß die palästinensische Katastrophe auch von den jüdischen Israelis als Teil ihrer Geschichte erforscht wird. Die moderne Version des israelischen Umgangs mit Fragen der Identität kommt in der Obsession des israelischen Außenministers Avigdor Lieberman zum Ausdruck, die Palästinenser zur Loyalität mit dem zionistischen Projekt verpflichten zu wollen.

Die Identitätsgesetze sind innerhalb Israels und auch international umstritten. Doch was die Regierung Netanjahu/Lieberman ihren arabischen Bürgern zumutet, findet auf der internationalen Bühne seine Entsprechung in der kategorischen Forderung nach Anerkennung Israels als jüdischer Staat. Auch die deutsche Linkspartei will sich dieser Verpflichtung nicht entziehen.

Mit der Verpflichtung zur Loyalität mit Israel als jüdischem Staat wird nicht die Loyalität zu einem Staat abverlangt, sondern die Loyalität zu einer Ideologie. Das heißt, daß der Staat Israel von uns verlangt, ihn in seiner rassistischen Existenzweise zu preisen und damit den Landraub und die Leugnung unserer Identität emotional zu akzeptieren. Das ist zuviel verlangt. Und deshalb ist es auch eine dumme Politik. Denn wie kann man von uns Loyalität für eine Politik verlangen, die uns als ein Hindernis für die Umsetzung des zionistischen Projekts betrachtet und uns deshalb beseitigen will. Wir sind in der Tat ein größeres Hindernis für dieses rassistische Projekt als die Palästinenser in Gaza und auf der Westbank. Weil wir ungewollte Bürger eines Staates sind, der sich als ein exklusiv jüdischer verwirklichen will. Doch damit hat man den Bogen eindeutig überspannt. Die Loyalitätsgesetze werden nicht nur von uns, sondern auch von einem beträchtlichen Teil der jüdischen Mehrheitsbevölkerung als rassistisch abgelehnt. 30 Prozent der Knesset-Mitglieder haben sich dagegen ausgesprochen. Diese Gesetze als rassistisch zu erkennen, ist eine Sache. In ihnen aber die logische Konsequenz einer seit Jahrzehnten betriebenen Politik der brachialen Zionisierung zu sehen, eine ganz andere. Die jüngsten Gesetze markieren den Übergang zur offenen Diktatur. In seiner ersten Fassung sah das Gesetz für die Deutung der israelischen Staatsgründung als Katastrophe drei Jahre Gefängnis vor. Da hätte man freilich die gesamte palästinensische Bevölkerung in Israel hinter Schloß und Riegel setzen müssen. In der zweiten Fassung werden allen Einrichtungen, in denen die Vertreibung der Palästinenser thematisiert wird, der Entzug sämtlicher finanzieller Mittel angedroht. Das kann auch israelische Universitätsinstitute treffen. Damit werden alle vom zionistischen Narrativ abweichenden Meinungen kriminalisiert. Und unser politischer Kampf wird kriminalisiert. Das ist eine unverschämte Machtdemonstration, die aber auch deutlich macht, daß die Absicht der Zionisten, sich der palästinensischen Frage in Israel zu entledigen, gescheitert ist. Man hat uns unseres Landes, unserer Geschichte, unserer Identität zu berauben versucht, und nun, da dies mißlungen ist, will man unseren Kampf mittels der Loyalitätsgesetze verbieten.

Dennoch hält sich Israel zugute, eine liberale Gesellschaft zu sein, in der Minderheitenrechte respektiert werden.

Wir sind unserer kollektiven Rechte beraubt worden. Auf der individuellen Ebene ist das nicht im gleichen Maße spürbar. Aber sehen wir uns die Zahlen an. Wir machen achtzehn Prozent der israelischen Gesamtbevölkerung aus, 1,2 Millionen Einwohner von 7,6 Millionen. Im öffentlichen Sektor beträgt unser Anteil zwei Prozent, im privaten weniger als ein Prozent. Es herrscht nicht nur ein vom Staat verantworteter politischer Rassismus, sondern auch ein von der Gesellschaft getragener kultureller Rassismus. Es ist für Araber sogar schwer, einen Job in einem Restaurant zu finden, weil die erste Frage meistens lautet, ob man den Militärdienst absolviert habe. In den Universitäten macht der arabische Anteil acht Prozent aus. 50 Prozent der Palästinenser in Israel leben unter der Armutsgrenze. 2000 waren es nur 38 Prozent. Nur 19 Prozent der palästinensischen Frauen in Israel arbeiten – weniger als in den umliegenden arabischen Ländern. Israel hat sich also nicht einmal bemüht, uns in sein ökonomisches System zu integrieren.

Gibt es Bestrebungen, eine alternative palästinensische Ökonomie zu entwickeln?

Das ist so gut wie unmöglich. Dazu braucht man Land. Und dazu braucht man Geld. Die zionistische Landnahme erfolgte bereits in der Absicht, die strukturellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine eigenständige palästinensische Ökonomie zu zerstören. Die ersten, die von den Israelis vertrieben wurden, waren die Bewohner der palästinensischen Städte. Es waren zumeist Angehörige der Mittel- und Oberklassen. Die Verbliebenen haben nicht vom Nullpunkt aus begonnen, sondern von weit unterhalb des Nullpunkts.

Wie lebt und kämpft man als Fremde in der Heimat?

Am Anfang befanden wir uns in einem Zustand völliger Ohnmacht, verbunden mit individuellen Versuchen, sich zu arrangieren und auch politisch durch die Mitgliedschaft in einer zionistischen Partei ein politisches Mitspracherecht zu erlangen. Eine bevorzugte Anlaufstelle war die Kommunistische Partei, die zum Mainstream-Zionismus zwar in Opposition stand, sein kolonialistisches Konzept aber nicht grundsätzlich ablehnte. Erst in den 1970er Jahren begannen wir, uns verstärkt als Teil des ganzen palästinensischen Volkes zu empfinden und für unsere kollektiven Rechte, das heißt für Gleichberechtigung zu kämpfen. In den 1990er Jahren setzte sich nach und nach die Erkenntnis durch, daß Gleichberechtigung im Rahmen eines jüdischen Staates nicht zu verwirklichen ist. Es war der Verlauf des Oslo-Prozesses, der den Diskurs umgedreht hat. Mit Oslo, mit der Schaffung der Autonomiegebiete wurden wir aus dem gesamtpalästinensischen Zusammenhang gerissen, hörten wir auf, Teil des arabisch-israelischen Konfliktes zu sein und wurden zu einem rein israelischen Faktor. Uns war ein Schicksal als israelische Staatsbürger ohne nationale Identität zugedacht, was wiederum die Erkenntnis förderte, daß es im Rahmen eines jüdischen Staates keine nationale Gleichberechtigung geben könne.

Mit dieser Position befinden Sie sich in einem antagonistischen Widerspruch zur zionistischen Staatsdoktrin.

Die Israelis unterscheiden sehr genau zwischen dem Kampf um Gleichberechtigung, der die zionistische Doktrin von Israel als jüdischem Staat nicht in Frage stellt, und einem Kampf, der auf der Einsicht gründet, daß es einen unlösbaren Widerspruch zwischen Zionismus und Demokratie gibt. Daraus ergibt sich unsere Forderung nach einem Staat, der all seine Bürger repräsentiert. 87 Prozent der in Israel lebenden Palästinenser unterstützen die Forderung nach einem demokratischen Staat mit gleichen Rechten für alle Bürger. In dieser Formel sind nicht nur die Forderungen der Palästinenser nach Anerkennung ihrer nationalen Rechte verdichtet. Sie stellt auch ein Vision für die jüdische Bevölkerung dar. Die Forderung nach einem demokratischen Staat für alle Bürger ist die radikalste Herausforderung des zionistischen Staates, gegen die er sich nur schwer zu wehren weiß, da sie ihn, der vorgibt, die einzige Demokratie in Nahost zu sein, in einen argen Argumentationsnotstand versetzt.

Der palästinensische Widerstand hat durch die arabischen Revolutionen neuen Auftrieb erhalten. Wie stellt sich Israel auf die neue Entwicklung ein?

Natürlich haben die revolutionären Ereignisse in der Region unser Selbstbewußtsein bestärkt. Man kann jedoch nicht sagen, daß Israel große Angst verspürt. Die Netanjahu-Regierung beobachtet die Situation und versucht, sich darauf einzustellen. Zwei Szenarien stehen zur Wahl: Das eine stellt Israel vor die Aufgabe, so schnell wie möglich einen Ausgleich mit den arabischen Ländern zu suchen, bevor die revolutionären Kräfte und damit die propalästinensischen Tendenzen noch stärker geworden sind. Das zweite Szenario ist dem genau entgegengesetzt. Den Umbrüchen in der arabischen Welt soll mit einer Politik der Stärke entgegengetreten werden. Netanjahu und die Seinen haben sich für letzteres entschieden. Sie sind um die Wiederherstellung der Stabilität, worunter sie die uneingeschränkte Vorherrschaft Israels und der USA verstehen, bemüht.

Die Militärintervention gegen Libyen verfolgt genau diesen Zweck. Die westliche Sichtweise dazu besagt indes, man leiste damit einen Beitrag zur arabischen Revolution. Wie sehen Sie das?

Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung. Die Aggression gegen Libyen ist kein revolutionärer Akt, ganz im Gegenteil. Sie ist vielmehr auf die Zurückdrängung des arabischen Revolutionsprozesses gerichtet. Sie konterkariert die Errungenschaften der Volksaufstände in Tunesien und Ägypten.

Interview: Werner Pirker

* Aus: junge Welt, 23. Juli 2011


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