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Amnesty wirft Israel Kriegsverbrechen vor

Menschenrechtsorganisation dokumentiert Tötung von Palästinensern und spricht von "schrecklichem Muster" *

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft Israel Kriegsverbrechen und andere schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Palästinenser vor. Es gebe Beweise für absichtliche Tötungen durch israelische Sicherheitskräfte, heißt es in einem am Donnerstag veröffentlichten Bericht mit dem Titel »Schießwütig: Israels übermäßige Gewaltanwendung im Westjordanland«. Amnesty forderte, alle Waffenlieferungen an Israel auszusetzen.

Der Direktor des Nahost- und Nord­afrika-Programms von Amnesty, Philip Luther, erklärte: »Der Bericht enthält Beweise für ein schreckliches Muster ungesetzlicher Tötungen und ungerechtfertigter Verletzungen palästinensischer Zivilisten durch israelische Einheiten im Westjordanland.« In dem 74 Seiten langen Papier listet Amnesty die Tötung von 45 Palästinensern durch israelische Truppen seit 2011 auf. Vier der Opfer seien Minderjährige gewesen. Mindestens 261 Palästinenser seien durch scharfe Munition schwer verletzt worden, mehr als 8000 Menschen durch Stahlgeschosse mit Hartgummimantel sowie Tränengas und andere Einsatzmittel.

Der Sprecher des israelischen Außenministeriums, Jigal Palmor, bezichtigte Amnesty, »durch Auslassungen und auf andere Weise« zu lügen. Die Organisation spreche Israel das Recht auf Selbstverteidigung ab. Der Bericht sei von »Einseitigkeit, Diskriminierung und Rassismus« geprägt.

Kurz nach der Veröffentlichung des Berichts wurde im Westjordanland erneut ein Palästinenser erschossen. Israelische Soldaten hätten versucht, in der Stadt Bir Zayt einen wegen Beteiligung an Terroranschlägen gesuchten Palästinenser festzunehmen, behauptete eine Armeesprecherin. Als er trotz Aufforderungen nicht aus dem Haus gekommen sei, hätten die Soldaten das Feuer eröffnet. Augenzeugen berichteten dagegen, ein Bulldozer habe das Haus zerstört und es seien Schüsse gefallen. Nach dem Abzug der Israelis sei die Leiche des Mannes mit Schußwunden außerhalb der Ruine gefunden worden.

* Aus: junge Welt, Freitag, 28. Februar 2014


Optimierte Kriegsverbrechen

Fabian Köhler über israelisches Unrecht jenseits der Empörungsschwelle **

Von welchem Unrechtsregime ist da nur die Rede. Mali? Ein »grauenvolles Muster ungesetzlicher Tötungen« hat Amnesty International ausgemacht. Zentralafrika? Von der systematischen »Geringschätzung menschlichen Lebens« ist die Rede. Nein! Es ist Israel, welchem die Menschenrechtsorganisation »Kriegsverbrechen« im Westjordanland vorwirft. Das Ausmaß: 22 tote Palästinenser im vergangenen Jahr. Schlimm. Ungefähr genauso viele wie in Syrien an einem gewöhnlichen Vormittag.

Doch der Bericht zeigt nur eine Dimension des israelischen Unterdrückungssystems, welches in seiner Perfektion unübertroffen ist. Dass die Zahl der Toten im Westjordanland seit Jahren zurückgeht, zeugt nicht vom Ende der Besatzung. Es ist Ergebnis ihrer Optimierung. Die Kampfflugzeuge und Panzer sind nicht um des Frieden willens verschwunden, sondern weil ihre Aufgabe nun Betonmauern und ein korrumpiertes palästinensisches Vasallenregime übernehmen. Der palästinensische Widerstand verschwand nicht in Friedensverhandlungen, sondern in den Kerkern Israels und seiner »Autonomiebehörde«. Israel zeigt heute seinen Nachbarländern, wie man wirtschaftliche und politische Lebensgrundlage zerstört; wie man ein Besatzungsregime über Millionen Menschen aufrecht erhält, dessen einzige Folge 22 Tote zu sein scheinen.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 28. Februar 2014 (Kommentar)


Israels Armee und Polizei gehen im Westjordanland mit rücksichtsloser Gewalt vor

Pressemitteilung von amnesty international

27. Februar 2014 - Israelische Sicherheitskräfte lassen bei ihren Einsätzen im besetzten Westjordanland jeglichen Respekt vor menschlichem Leben vermissen. In den vergangenen drei Jahren haben sie im Westjordanland Dutzende palästinensische Zivilpersonen getötet, darunter auch Kinder. Für diese Taten wurden die Verantwortlichen so gut wie nie zur Rechenschaft gezogen. Das belegt Amnesty International in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der Bericht "Trigger-happy: Israel's use of excessive force in the West Bank" dokumentiert, dass die israelischen Sicherheitskräfte seit Januar 2011 mit unnötiger, willkürlicher und brutaler Gewalt gegen Palästinenser vorgehen. Das hat dazu geführt, dass Blutvergiessen und Menschenrechtsverletzungen in den besetzten palästinensischen Gebieten stetig zunehmen.

In allen von Amnesty untersuchten Fällen stellten die von den israelischen Soldaten getöteten Palästinenser offenbar keine direkte und unmittelbare Bedrohung für die Sicherheitskräfte dar. In manchen Fällen gibt es Hinweise darauf, dass es sich um bewusste Tötungen handelt, was den Tatbestand eines Kriegsverbrechens erfüllen würde.

"Unser Bericht liefert den Beweis, dass die rechtswidrigen Tötungen und ungerechtfertigten Verletzungen palästinensischer Zivilpersonen durch israelische Sicherheitskräfte im Westjordanland ein erschütterndes Muster bilden", sagte Philip Luther, Direktor der Abteilung Mittlerer Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

"Die Häufigkeit und die Beständigkeit, mit der israelische Soldaten und Polizisten mit roher Gewalt gegen friedliche Demonstrierende im Westjordanland vorgehen und dafür nicht zur Rechenschaft gezogen werden, legen den Verdacht nahe, dass dieses Vorgehen von der Politik gewollt ist."

Tote und Verletzte

Amnesty International hat dokumentiert, dass allein im vergangenen Jahr 22 palästinensische Zivilisten im Westjordanland getötet wurden, 14 von ihnen im Kontext von Protesten. Die meisten waren junge Erwachsene unter 25 Jahren. Mindestens vier Todesopfer waren Kinder.

Zahlen der Vereinten Nationen zufolge haben israelische Sicherheitskräfte 2013 mehr palästinensische Zivilpersonen im Westjordanland getötet, als in den Jahren 2011 und 2012 zusammengenommen. Insgesamt wurden in den vergangenen drei Jahren 45 Menschen getötet.

Unter den Getöteten und Verletzten befinden sich friedliche Demonstranten, Zuschauer, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. In den vergangenen drei Jahren sind durch den Einsatz von scharfer Munition durch israelische Sicherheitskräfte mindestens 261 Palästinenser schwer verletzt worden, darunter 67 Kinder.

Eine erschreckend hohe Zahl von Zivilpersonen im Westjordanland - mehr als 8.000 (darunter 1.500 Kinder) - sind durch den Einsatz von Plastikgeschossen und Tränengas schwer verletzt worden. Einige von ihnen sind den Folgen dieser Verletzungen erlegen. "Diese erschütternde Zahl von Verletzten zeigt, wie gefährlich das tägliche Leben für palästinensische Zivilpersonen im besetzten Westjordanland ist", erklärte Philip Luther.

Mehreren Opfern wurde in den Rücken geschossen. Das legt die Vermutung nahe, dass sie vor den Sicherheitskräften fliehen wollten und somit keine unmittelbare Gefahr für israelische Soldaten oder Polizisten darstellten. In einigen Fällen griffen gut bewaffnete israelische Sicherheitskräfte auf tödliche Mittel zurück, um gegen Steine werfende Protestierende vorzugehen und verursachten dadurch unnötige Verluste an Menschenleben.

Untersuchungen

Auch nach einem Jahr, nachdem die israelischen Behörden in einer Anzahl von mutmaßlich ungesetzlichen Tötungen Untersuchungen eingeleitet haben, steht die Veröffentlichung der Ergebnisse noch aus.

"Das gegenwärtige israelische System zur Aufklärung solcher Verstöße hat sich bislang als völlig unzureichend erwiesen. Es ist weder unabhängig noch unparteiisch, und es entbehrt jeder Transparenz. Die israelischen Behörden müssen unverzüglich gründliche und unabhängige Untersuchungen zu allen Vorgängen durchführen, bei denen Gewalt in mutmaßlich willkürlicher und missbräuchlicher Weise eingesetzt wurde. Dies gilt insbesondere, wenn das Vorgehen der Sicherheitskräfte zu Verlusten von Menschenleben oder zu schweren Verletzungen geführt hat", forderte Philip Luther. "Den israelischen Soldaten und Polizeikräften muss klar gemacht werden, dass exzessive Gewalt gegen Zivilpersonen nicht ungestraft bleibt. Wenn man diejenigen, die solche Menschenrechtsverletzungen begehen, nicht zur Rechenschaft zieht, werden die ungesetzliche Tötungen und Verletzungen mit Sicherheit immer weiter gehen."

Proteste

In den letzten Jahren kam es in der Westbank immer wieder zu Protesten gegen die seit Langem andauernde Besatzung und zu einer ganzen Reihe von damit zusammenhängenden repressiven Strategien und Praktiken. Zu den repressiven Praktiken zählen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Palästinensern bspw. durch die 800 Kilometer lange Sperranlage (der Zaun/die Mauer), durch israelische Militärkontrollpunkte, durch Straßen, deren Nutzung nur für israelische Siedler reserviert sind und die Palästinenser nicht nutzen dürfen. Weitere repressive Praktiken sind zwangsweise Häuserzerstörungen sowie rechtswidrige Zwangsvertreibungen.

Proteste der palästinensischen Bevölkerung richten sich gegen die immer weiter expandierenden rechtswidrigen israelischen Siedlungen, gegen die Inhaftierung Tausender Palästinenser oder gegen israelische Militärschläge im Gazastreifen sowie gegen Vorfälle, bei denen Palästinenser bei Protesten oder im Verlauf von Verhaftungskampagnen getötet oder verletzt werden.

Forderungen

Amnesty International fordert die israelischen Behörden auf, sofort alle Fälle von willkürlicher und missbräuchlicher Gewalt seitens der Sicherheitskräfte gründlich von einer unabhängigen Stelle untersuchen zu lassen, besonders wenn Menschen gestorben sind.

Amnesty International fordert die israelischen Behörden außerdem auf, ihren Sicherheitskräften den Einsatz von tödlicher Gewalt zu untersagen, dazu gehört die Verwendung scharfer Munition und Plastikgeschossen. Ausgenommen sind nur Situationen, in denen das Leben der Soldaten und Polizisten in unmittelbarer Gefahr ist. Die israelischen Behörden müssen das Recht der palästinensischen Bevölkerung auf Versammlungsfreiheit gewährleisten.

"Es ist schon zu viel Blut von Zivilpersonen geflossen. Dieses Muster von Gewaltmissbrauch muss durchbrochen werden. Wenn die israelischen Behörden der Welt zeigen wollen, dass sie demokratische Prinzipien und internationale Menschenrechtsstandards ernst nehmen, müssen die rechtswidrigen Tötungen und der unnötige Einsatz von Gewalt gestoppt werden", forderte Philip Luther.

Hier können Sie den aktuellen Bericht lesen (englisch):
TRIGGER-HAPPY. ISRAEL’S USE OF EXCESSIVE FORCE IN THE WEST BANK [externer Link; pdf]




Israelisches Außenministerium: ein "obsessiver, ungeheuerlicher Bericht"

Kein gutes Haar lässt das israelische Außenministerium am amnesty-Bericht. Wir dokumentieren im Folgenden die harsche Zurückweisung aus Tel Aviv im Wortlaut:

Amnesty verzerrt die Realität und verbreitet palästinensische Propaganda

Der Bericht, den Amnesty International am Donnerstag veröffentlichte, klingt mehr nach einer PR-Aktion als nach einem ernstzunehmenden Bericht einer Menschenrechtsorganisation. Der Bericht bezieht sich auf sorgfältig ausgewählte, unbestätigte und sich oft widersprechende Aussagen einzelner offensichtlich politisch-motivierter Personen, die dann als unbestrittene Fakten wiedergegeben werden.

Entsprechend der verdrehten Logik des Berichts stellen Steinwürfe, oftmals mit Schleudern, sowie die Verwendung von Molotov-Cocktails und sogar scharfer Munition gegen Soldaten der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (ZAHAL) durch Palästinenser „wenig oder keine Gefahr“ für deren Leben dar. Dem gegenüber wird jegliche Gewaltanwendung der ZAHAL gegen diese Angriffe als „mutwillige Tötung“ oder sogar Kriegsverbrechen angesehen. Obwohl die Beweislage eindeutig zeigt, dass Soldaten in Zusammenstößen durch scharfe Munition verletzt wurden, wird deren Reaktion von Amnesty auf skandalöse Art als exzessiv kritisiert.

Amnesty sollte sich dringend die Realität vor Augen führen: Im Jahr 2013 gab es 5000 Angriffe durch Steinwürfe – von denen sich ungefähr die Hälfte gegen Zivilisten richtete. Im Jahr 2011 wurden 44 Menschen durch Steinwürfe verletzt, im Jahr 2012 stieg diese Zahl auf 71 und im Jahr 2013 nochmals auf 132 Opfer, was einen dramatischen Anstieg dieser beunruhigenden Angriffe zeigt. Im gleichen Zeitraum wurde eine große Anzahl von Israelis Opfer von Beschuss, Messerangriffen und anderen Formen des Terrors. Keine davon ist Amnesty in dem Bericht eine Erwähnung wert.

Obwohl einschlägige palästinensische Gruppen bewusst gewalttätige Zusammenstöße provozieren – eine Praxis, die von anderen Beobachterorganisationen ausführlich dokumentiert wurde – besteht Amnesty darauf, dass alle beteiligten Palästinenser „friedliche Demonstranten“ oder „Menschenrechtsaktivisten“ seien.

Die zwanghafte Fokussierung von Amnesty auf Israel, die in keinem Verhältnis zu den gewaltigen Gräueltaten in der Region steht, weist auf eine besorgniserregende politische Agenda hin. Dies wird durch die unerhörten Empfehlungen des Berichts unterstrichen, zu dem auch ein Waffenembargo gegen Israel gehört, aber (natürlich) kein Hinweis an die palästinensischen Behörden, diese sollten gegen unrechtmäßige Gewalt oder die tägliche Verherrlichung von Terrorismus und Mord in Schulen und Moscheen vorgehen, durch die fortwährend die nächste Generation vergiftet wird.

Dieser obsessive, ungeheuerliche Bericht leistet nichts für die ernsthafte und wichtige Debatte darüber, wie Strafverfolgungsbehörden mit den komplexen Herausforderungen durch teilweise gewalttätige und potentiell tödliche Demonstrationen umgehen sollen. Das einzige schießwütige und rücksichtslose Element im Zusammenhang mit diesem Bericht ist Amnesty International selbst.

(Außenministerium des Staates Israel, 26.2.14)


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