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Noch zögert Netanjahu mit dem Marschbefehl

Die weitgehende Erfolglosigkeit der Gaza-Operation und die palästinensischen Toten bringen Israel in Bedrängnis

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv *

Von Süd-Libanon aus sind am Freitag erstmals seit Langem wieder Raketen auf den Norden Israels abgefeuert worden. Im Gaza-Streifen geht der Militäreinsatz derweil unvermindert weiter.

In den frühen Morgenstunden dringt ein verzweifelter Schrei durch die kleine Pension außerhalb vom Migdal HaEmek: »Um Himmels Willen, nicht auch noch hier«, klagt Avigail, die Besitzerin, »ich halt’ das Ganze nicht noch einmal aus.«

Kurz zuvor hatte man im Radio gemeldet, dass außerhalb von Kiyat Schmonah weiter nördlich eine oder mehrere Raketen, so genau wusste man das nicht, eingeschlagen sind, abgefeuert vom nahen Libanon aus. Bei vielen ließ dies Erinnerungen an den Libanon-Krieg 2006 aufkommen, als die Region hier oben wochenlang unter intensivem Raketenbeschuss lag. Die UNO-Resolutionen, die Waffenstillstände, die dem Krieg damals ein Ende bereiteten, haben seitdem gehalten. Was, wenn nun jemand aus Richtung Norden der Hamas zu Hilfe käme?

Der Raketenabschuss, sagen Israelis, Libanesen, Hisbollah und Vereinte Nationen übereinstimmend, sei die Tat einer kleinen radikalen Gruppe gewesen; es habe Festnahmen gegeben, berichtet die libanesische Regierung. Doch eine wirkliche Entwarnung ist es nicht: Selbst wenn die Hisbollah außen vor bleibt – in Libanon gibt es auch eine Vielzahl von kleinen militanten palästinensischen Gruppen. Und der Vorfall am Freitag hat gezeigt, dass nicht nur die Hisbollah über Raketen verfügt.

Doch der Zwischenfall hat auch in Erinnerung zurückgerufen, dass bewaffnete Konflikte durchaus nachhaltig durch diplomatische Lösungen beendet werden können. »Terrorismus kann nicht durch Luftangriffe beendet werden«, erklärt Zehawa Gal-On, Vorsitzende der linksliberalen Meretz-Partei. »Für jeden Terroristen, der getötet wird, rücken vier oder fünf Kinder nach, die Vergeltung wollen. Wir brauchen einen Waffenstillstand mit internationaler Unterstützung.«

Doch aktuell stecken solche Bemühungen noch in ihren Kinderschuhen. Zwar versuchen die Vereinigten Staaten im Hintergrund, beide Seiten zu einer Waffenruhe zu überreden. Aber der Einfluss Washingtons ist auf der palästinensischen Seite mittlerweile jenseits der Nachweisbarkeitsgrenze. Ähnlich ergeht es Kairo, wo in der Vergangenheit erfolgreich Waffenstillstände vermittelt wurden.

Doch Ägyptens neue Regierung hatte im Frühjahr die Hamas zur Terrororganisation erklärt, ihre Finanzflüsse blockiert und sie damit in die schwerste Krise seit ihrer Gründung Ende der 80er Jahre befördert.

Eine Sitzung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen verlief am Donnerstag unterdessen weitgehend ergebnislos: Es wurde zwar ein Ende der militärischen Eskalation angemahnt; konkrete Schritte wurden aber nicht vereinbart.

Israels Regierung und Militärführung sind sich indes einig, dass der Raketenbeschuss ziemlich bald beendet werden muss.

Denn abgesehen von den extrem hohen Kosten der Luftangriffe und den finanziellen Einbußen für die Wirtschaft, ist die Häufigkeit der Raketenangriffe für die Öffentlichkeit ein Gradmesser für den Erfolg des Militäreinsatzes. Und der pegelt ziemlich schnell nach unten. Zudem besteht auch die Möglichkeit, dass der internationale Druck höher wird: Die Zahl der palästinensischen Todesopfer steigt ständig. Mittlerweile liegt sie bei über 100.

Die Entscheidung über das weitere Vorgehen stehe kurz bevor, sagen Mitarbeiter von Regierungschef Benjamin Netanjahu. Am Freitagmittag hatte die Militärführung öffentlich bekannt gegeben, an der Grenze stünden nun drei Brigaden bereit, die für den Kampf im Gaza-Streifen ausgebildet sind.

Dass Netanjahu noch zögert, den Einsatzbefehl zu geben, liegt daran, dass unklar ist, welchen Umfang eine Bodenoffensive haben sollte. Vor allem die Rechte drängt darauf, das Gebiet komplett wieder zu besetzen. Die Regierungsparteien aus dem Zentrum stellen sich eine zeitlich begrenzte Offensive vor, die darauf abzielt, die Raketenlager auszuheben, und Hamas-Funktionäre festzusetzen. Im Anschluss daran solle die palästinensische Autonomiebehörde dort die Kontrolle zu übernehmen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 12. Juli 2014


Mehr als 100 Tote durch Luftangriffe

Israel zieht mit Unterstützung der USA Bodentruppen an der Grenze zum Gazastreifen zusammen **

Die Zahl der Toten bei den israelischen Luftangriffen im Gazastreifen ist nach jüngsten palästinensischen Angaben auf mindestens 100 gestiegen. Seit Beginn der israelischen Offensive seien zudem 680 Palästinenser verletzt worden, teilte der Sprecher der Rettungsdienste im Gazastreifen, Aschraf Al-Kidra, am Freitag mit. Es mehrten sich Berichte über zivile Opfer, darunter Frauen und Kinder.

Die israelische Luftwaffe fliegt seit Dienstag massive Einsätze im Gazastreifen, wo seitdem nach Armeeangaben mehr als 800 Tonnen Raketen und Bomben eingeschlagen sind. Das israelische Sicherheitskabinett hatte am Donnerstag abend beschlossen, die Luftangriffe auf den Gazastreifen weiter auszudehnen. Außerdem wurden drei Infanteriebrigaden an die Grenze verlegt – für eine mögliche Bodenoffensive. Ein oder zwei weitere Brigaden sollten in den kommenden Tagen zur Verstärkung anrücken, sagte der israelische Armeesprecher Peter Lerner. US-Botschafter Dan Shapiro sicherte Israel die volle Rückendeckung Washingtons auch im Fall einer Bodenoffensive im Gazastreifen zu.

Binnen drei Tagen beschoß die Luftwaffe nach israelischen Angaben 1100 Ziele im Gazastreifen, unter dem Vorwand sich gegen selbstgebaute Raketen der Hamas schützen zu müssen. Palästinenser hätten 550 Raketen auf Israel abgefeuert, erklärte Lerner. Die Raketenabwehr habe etwa 120 weitere Geschosse in der Luft abgefangen.

Wie die Armee am Freitag mitteilte, sollen Palästinenser erstmals auf den Flughafen Ben Gurion geschossen haben, drei Raketen seien über dem Großraum von Tel Aviv abgefangen worden. Der Nachrichtenagentur Reuters zufolge gab es auf dem Flughafen aber trotz Angriffsdrohungen der Hamas bis zum Nachmittag keine besonderen Vorkommnisse. Die Weltgesundheitsorganisation warnte vor einem Kollaps der medizinischen Versorgung im Gazastreifen und im Westjordanland aus Mangel an Medikamenten und Treibstoff für die Generatoren der Krankenhäuser.

** Aus: junge Welt, Samstag, 12. Juli 2014


Behandlungen im Schutzraum

Israelische und palästinensische Ärzte warnen vor weiterer Eskalation

Von Riad Othman ***


Die Geschichte wiederholt sich nur noch als Tragödie. Die aktuellen Bilder der Gewalt und der Krieg der Bilder erinnern in trauriger Weise an den Gaza-Krieg um die Jahreswende 2008/09. Ran Cohen von der Organisation »Ärzte für Menschenrechte – Israel« (PHR-IL) in Tel Aviv-Jaffa schildert, unter welchen Bedingungen seine Kollegen und Kolleginnen schon jetzt zum Teil im Süden Israels arbeiten müssen: »Krankenhäuser dort haben bestimmte Abteilungen in Schutzräume verlegt, um essentielle medizinische Dienste auch unter Beschuß sicher zu stellen.« Er selbst erlebte in den Tagen seit Anfang der Woche schon mehrere Male Bombenalarm in Tel Aviv. Er weiß aber, daß die Geschosse aus Gaza in der Regel in ihrer Präzision nicht mit der Waffentechnologie der israelischen Armee zu vergleichen sind. Diese stellte zufrieden fest, daß 90 Prozent der Geschosse, die es aus dem Gazastreifen überhaupt über die Grüne Linie (zwischen Israel und den besetzten Gebieten) schaffen, vom Raketenabwehrsystem »Iron Dome« abgefangen werden. Das ändert nichts daran, daß jeder Alarm die Menschen in fürchterliche Angst versetzt. Die übrigen zehn Prozent der Raketen hatten in der Vergangenheit eine so geringe Treffsicherheit, daß hohe Opferzahlen ausblieben. Bei der jüngsten Eskalation kamen die meisten Betroffenen in Israel bisher wörtlich mit dem Schrecken davon. 59 wurden wegen Schocks behandelt, und neun Menschen wurden glücklicherweise nur leicht verletzt.

Im Gazastreifen sieht das anders aus. Wenn die israelische Armee Raketen abfeuert, treffen diese meistens auch ihr Ziel. »Wir haben hier keine Schutzräume oder Bunker, auch kein Raketenabwehrsystem. Wir können nichts tun im Moment. Die Straßen sind, im Vergleich zu sonst, wie leergefegt. Die Raketen schlagen mit einer unglaublichen Häufigkeit ein«, sagt Dr. Aed Yaghi, Leiter der »Palestinian Medical Relief So­ciety« (PMRS) im Gazastreifen. Bis Freitag morgen kosteten die Luftschläge mehr als 80 Menschen im Gazastreifen das Leben, darunter viele Zivilisten und Kinder. Hunderte sind verletzt. Auch ein Gesundheitszentrum von PMRS in Ezbat Beit Hanoun, das erst kürzlich mit Mitteln der deutschen Bundesregierung ausgebaut und renoviert worden war, wurde bei einem heftigen Bombardement der Nachbarschaft beschädigt.

Die derzeitige Stimmung in Israel sei brandgefährlich, sagt Ran Cohen von PHR-IL: »Nach der Entführung und Ermordung der drei israelischen Jugendlichen auf der Westbank wollen viele Rache. Ich denke, Israel leidet an einer emotionalen Blockade. Wenn man sich ansieht, was Leute z.B. in den sozialen Medien posten, dann ist da kaum noch eine Spur von Mitgefühl. Es gibt so unglaublich viele haßerfüllte Kommentare. Leute verlangen danach, ›den Job dieses Mal endlich zu Ende zu machen‹. Netanjahu steht unter Druck.« Manche fühlen sich an das Gesellschaftsklima kurz vor der Ermordung Yitzhak Rabins erinnert, als eine beispiellose Hetzkampagne gegen ihn veranstaltet worden war.

Die Ärzte für Menschenrechte haben unterdessen auch Kontakt zu palästinensischen Kollegen und Patienten im Gazastreifen aufgenommen und prüfen Möglichkeiten der gegenseitigen solidarischen Hilfe.

*** Riad Othman ist Leiter des Büros von medico international in Ramallah (www.medico.de).

Aus: junge Welt, Samstag, 12. Juli 2014


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