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"Der Verkauf beginnt noch während des Feldzugs"

Vom Gazakrieg profitiert die Rüstungsindustrie – der zivile Sektor in Israel leidet. Ein Gespräch mit Shir Hever *


Shir Hever erforscht als israelischer Ökonom die wirtschaftlichen Aspekten der Besatzungspolitik in Palästina.


Israel ist einer der bedeutendsten Waffenexporteure der Welt. Nach der Militäroperation in Gaza 2012 erreichten die Verkäufe ein Volumen von sieben Milliarden Dollar. Wird das dieses Mal genauso sein?

Die israelische Rüstungsindustrie ist einer der bedeutendsten Sektoren. Ihr Export steuert 3,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Hinzu kommen weitere zwei Prozent für Verkäufe im Inland. Israel ist nicht der größte Waffenexporteur auf der Welt, aber die Nummer 1, was die Anzahl der verkauften Waffen pro Kopf, das heißt je Einwohner, anbelangt. Die Rüstungsbranche hat einen enormen Einfluß auf die Entscheidungen der Regierung.

Nach jedem Angriff auf Gaza veranstalten sie Messen, während der die öffentlichen und die privaten Firmen die eingesetzten und an der Bevölkerung von Gaza getesteten Produkte präsentiert. Die Käufer vertrauen darauf, weil sie ihre Wirkung bewiesen haben. Auch dieser Krieg wird die Profite der Militärindustrie erheblich steigen lassen. Man braucht nur daran zu denken, daß die hiesige Luft- und Raumfahrtindustrie vor wenigen Tagen private Investoren zur Produktion einer neuen Bombe aufgefordert hat. Sie haben 150 Millionen Dollar eingenommen. Hunderttausend für jeden getöteten Palästinenser. Der Verkauf beginnt noch während des Feldzugs.

Währenddessen erleidet aber der zivile Sektor beträchtliche Verluste...

Erstens geht die Aufstockung des Budgets für die Streitkräfte auf Kosten der öffentlichen Dienste. Jeder Angriff sorgt für Einschnitte bei der Bildung, dem Gesundheits- und dem Transportwesen. Bevor diese Runde der Gewalt begann, versuchten politische Fraktionen der Mitte den Militärhaushalt zugunsten der sozialen Dienste zu kürzen. Und siehe da, kurz darauf begann die Operation aufgrund des enormen Einflusses, den das Militärsystem auf die Regierungspolitik hat. Hinzu kommen die direkten und indirekten Belastungen für die Zivilwirtschaft. Die Raketen haben Eigentum beschädigt. Menschen haben Angst, zur Arbeit zu gehen. Zahlreiche Fabriken haben ihre Tätigkeit unterbrochen und auch in der Landwirtschaft herrscht vielerorts Stillstand. Drittens sind da die indirekten Kosten, wie die für die Tourismusbranche. In vielen Hotels haben Delegationen ausländischer Unternehmer ihre Buchungen storniert und sind in andere Länder gereist, um da Geschäfte zu machen.

Gaza ist ein Gefängnismarkt, der zum Kauf israelischer Produkte gezwungen ist. Schadet die Offensive den Lieferanten?

Nicht wirklich. Gaza ist zwar ein Knastmarkt, garantierte aber vor Beginn der Blockade sehr viel höhere Gewinne. Vor dem Embargo war es für die israelischen Gesellschaften sehr viel einfacher ihre Produkte in die dortigen Supermärkte zu bringen und billige Arbeitskräfte auszubeuten. Von einer gelockerten Blockade würde die israelische Wirtschaft profitieren, weil sie 1,8 Millionen Menschen noch stärker ausbeuten könnte. Denn das ist eine Gemeinschaft, die nicht genug produzieren kann, aber konsumiert.

Könnte dieser neuerliche Angriff die Boykottkampagne stärken?

Es gab weltweit eine beachtliche Intensivierung der Kampagne. Das erkennt man auch an den Reaktionen bestimmter Politiker. Der Finanzminister und Siedler Naftali Bennett bemüht sich den Handel mit China, Indien und Japan zu erhöhen und sich von der Abhängigkeit von Europa zu befreien, wo der Boykott stärker Fuß faßt. Und doch hat das Israelische Institut für Statistik vor zwei Tagen einen deutlichen Rückgang des Wertes der Exporte verzeichnet, bevor diese Operation begann. Anfang 2014 sank der Wert um sieben Prozent und in Richtung Asien um 10 Prozent. Viele exportorientierte Unternehmen haben eine Notstandssitzung des Kabinetts verlangt, um diese Krise zu behandeln.

Viele meinen, daß es bei dem Angriff auf Gaza auch um die Kontrolle der Energievorkommen vor der Küste ging. Ist das der Fall?

Ich glaube nicht, daß es da einen direkten Zusammenhang gibt. Israel hat bereits begonnen, die eigenen Lagerstätten auszubeuten und Abkommen über den Verkauf der Energieträger mit der Türkei, Zypern und Griechenland geschlossen. Wenn die Palästinenser eines Tages in der Lage sind, ihr Erdgas zu fördern, werden sie keinen Markt dafür finden, weil Israel sich den Mittelmeerraum geschnappt hat und in der Lage sind wird, zu niedrigeren Preisen anzubieten.

[Dieses Interview erschien zuerst in der linken italienischen Tageszeitung »il manifesto“ vom 2.8.2014. Übersetzung: Andreas Schuchardt.]

* Aus: junge Welt, Donnerstag 14. August 2014


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