Israels Regierung entgleitet zunehmend die Kontrolle
Die "Fronten" in Syrien und im Westjordanland machen dem Kabinett Netanjahu schwer zu schaffen
Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv *
Israels Luftwaffe hat Ziele in Syrien bombardiert; der Militäreinsatz im Westjordanland geht derweil unvermindert weiter. Insgesamt kamen mindestens 15 Menschen ums Leben.
Dies sind die Bilder, die Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu am liebsten sieht: Er selbst in der Dauerkonferenz mit seinem Sicherheitskabinett, im Gespräch mit Militärs und Geheimdienstchefs, bevor er dann einen Luftangriff, eine Militäroperation anordnet. »Netanjahu liebt es, sich als präsidialer Oberbefehlshaber zu präsentieren«, fasst ein Kommentator des Militärrundfunks zusammen.
Doch diese Bilder verblassen; immer häufiger gelangt an die Öffentlichkeit, was die Experten dem Politiker sagen, wenn die Kameras aus-, die Mikrofone stummgeschaltet sind. »Die Politik bereitet eine Situation vor, die nur schwer kontrollierbar sein wird«, sagt Giora Eiland, der bis zu Jahr 2006 dem Nationalen Sicherheitsrat vorsaß.
Elf Tage dauert der Militäreinsatz im Westjordanland, der umfangreichste seit zwölf Jahren in dem Gebiet, nun schon an, und mittlerweile kommt es dabei täglich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Soldaten. Zudem ließ die Regierung in der Nacht zum Montag Luftangriffe gegen Stellungen der syrischen Armee fliegen, nachdem auf den israelisch besetzten Golanhöhen ein 13-Jähriger durch ein Geschoss getötet wurde. Mindestens zehn syrische Soldaten sollen bei den Luftangriffen ums Leben gekommen sein. Bestätigen lässt sich diese Angabe allerdings nicht. Auch im Westjordanland hat es mittlerweile Todesopfer gegeben: Fünf Palästinenser sind bei Auseinandersetzungen mit der Armee getötet worden. Die Militärführung mahnt nun offen, die Operation müsse bald zu einem Ende kommen. Denn in wenigen Tagen beginne der Ramadan, es drohe eine Welle der Gewalt im Westjordanland.
Und in der Syrien-Frage fiel man der Politik in den Rücken: Während Regierungssprecher erklärten, das Geschoss sei von einem Gebiet unter Kontrolle der syrischen Armee abgefeuert worden, hielten die Presseleute des Militärs dagegen, die Region befinde sich in der Hand von Rebellen. Die Militärführung ist der Ansicht, dass es für Israel besser ist, wenn die Regierung in Damaskus die Oberhand behält, und fordert, alles zu unterlassen, was Präsident Baschar al-Asssad schwächen könnte.
Doch Israels Regierung wehrt die Kritik ab. »Wir werden immer dann zurückschlagen, wenn unser Leben bedroht wird«, heißt es. Und auch: Der Einsatz im Westjordanland werde so lange weiter gehen, bis die drei Jugendlichen gefunden worden sind. In den kommenden Tagen werde man Beweise dafür veröffentlichen, dass die Hamas hinter dem Verschwinden der drei steckt – eine Aussage, die mittlerweile auch von Sicherheitsexperten angezweifelt wird: Es müsse zu denken geben, dass auch elf Tage später »Funkstille« herrscht, sagt Avi Dichter, der einst Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth war.
Mit der Veröffentlichung von Beweisen will man aber nicht nur den Kritikern entgegenkommen, sondern auch und vor allem ein juristisches Problem wenigstens hinauszögern. Staatsanwälte sagten der Zeitung »HaAretz«, dass die allermeisten der mittlerweile weit über 300 gefangen genommenen Palästinenser wohl demnächst wieder freigelassen werden müssen, weil schlicht die Belege dafür fehlen, dass gegen Gesetze verstoßen wurde. Mit einem Beleg für die Beteiligung der Hamas könnte man zumindest die Funktionäre der Organisation in sogenannter Verwaltungshaft festhalten: Dabei können die Betroffenen ohne Urteil arretiert werden, wenn die Behörden dies mit der Frage der nationalen Sicherheit begründen.
Schon am Montag ließ man bekannt geben, dass einer jener Gefangenen, der im Jahr 2011 für den in Gaza gefangen gehaltenen Soldaten Gilad Schalit frei gelassen worden war, später am Mord an einem israelischen Polizeioffizier beteiligt gewesen sei. Bislang hatte diese Mitteilung einer Nachrichtensperre unterlegen.
* Aus: neues deutschland, Dienstag 24. Juni 2014
Angriff bei Nacht
Israelische Luftwaffe attackiert syrische Armeeposten
Von Karin Leukefeld **
Die israelische Luftwaffe hat in der Nacht zum Montag Stellungen der syrischen Armee in der westsyrischen Provinz Kuneitra bombardiert. Wie ein Armeesprecher mitteilte, wurden neun Ziele in Syrien mit Kampfjets und Lenkraketen angegriffen. Es habe sich um eine »entschlossene Antwort auf grenzübergreifenden Beschuß« gehandelt, um »die Bürger von Israel zu schützen«. Die Angriffe der israelischen Luftwaffe fanden »kurz nach Mitternacht« statt, wie die israelische Tageszeitung Haaretz berichtete. Nach Militärangaben sei auch ein Hauptquartier der syrischen Streitkräfte bombardiert worden.
Bei dem »grenzübergreifenden Beschuß« war am Sonntag morgen ein Fahrzeug des israelischen Verteidigungsministeriums getroffen worden, in dem sich offiziellen Angaben zufolge Techniker befanden, die den Grenzzaun reparieren sollten. Die Berufsbezeichnung der Techniker wird mit »zivilen Vertragspartnern des Verteidigungsministeriums« angegeben. Möglich ist auch, daß die Insassen eine andere Aufgabe in der gefährlichen Zone hatten. Das Fahrzeug war auf den von Israel 1967 besetzten und später völkerrechtswidrig annektieren Golanhöhen unmittelbar an der Grenze zu Syrien unterwegs. Einer der Techniker hatte seinen 15jährigen Sohn zu dem gefährlichen Einsatz mitgenommen, der bei dem Angriff getötet wurde. Die anderen Insassen im Fahrzeug wurden teilweise schwer verletzt. Wer die Raketen abgeschossen hat, sei unklar, sagte Militärsprecher Oberstleutnant Peter Lerner der Nachrichtenagentur AP. Doch der Angriff sei absichtlich geschehen und »eine ernste Provokation« gewesen. Man habe unmittelbar darauf syrische Stellungen mit Artillerie beschossen. Die Luftangriffe erfolgten später – wie schon einige Male zuvor – im Schutz der Nacht. Von Seiten der syrischen Streitkräfte lag bis Redaktionsschluß keine Erklärung vor.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nutzte den Angriff, um von der zunehmend tödlichen Militäroperation »Hüter der Brüder« der israelischen Streitkräfte gegen die Palästinenser im Westjordanland abzulenken. Die »Feinde Israels machen vor nichts halt«, sagte er in einem Telefonat mit dem verletzten Vater des Jugendlichen. »Sie schrecken nicht davor zurück, Zivilisten anzugreifen oder Kinder zu töten.« Und sie unterschieden nicht »zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bürgern des Staates Israel«. Das Todesopfer entstammt einer arabischen Familie auf dem von Israel besetzten Golan.
Das Grenzgebiet zu Syrien auf dem Golan ist seit 1973 als »militärische UN-Pufferzone« ausgewiesen, in der weder Israel noch Syrien militärisch agieren und nur eine begrenzte Zahl an Soldaten und schweren Geschützen stationieren dürfen. Die Pufferzone wird von UN-Friedenstruppen (UN Disengagement Observer Force, UNDOF) kontrolliert. Das Gebiet zieht sich über etwa 70 Kilometer vom Dreiländereck Jordanien-Israel-Syrien im Süden bis zum Dreiländereck Libanon-Israel-Syrien im Norden und ist an seiner breitesten Stelle nur 10 Kilometer breit.
Seit Ende 2012 konnten immer wieder bewaffnete Gruppen aus Jordanien durch die entmilitarisierte Pufferzone auf dem Golan nach Norden vorrücken, um von Kuneitra aus das nur 40 Kilometer entfernte Damaskus anzugreifen. Tausende von Zivilisten, die in Dörfern in der Pufferzone gelebt haben, sind vor den Kämpfern geflohen, die von Israel unterstützt werden. Das israelische Fernsehen und die ARD berichteten von verletzten Kämpfern, die in Krankenhäusern auf dem israelisch besetzten Golan versorgt werden. Im Februar 2014 hatte Ministerpräsident Netanjahu einige der Verletzten besucht, die sich bei ihm bedankten. Anonymen Berichten aus Kreisen der österreichischen UNDOF-Soldaten auf dem Golan zufolge werden die Kämpfer über eine »Einsatzzentrale« auf dem israelisch besetzten Golan mit Aufklärungsinformationen versorgt. Weil die Lage immer unübersichtlicher wurde, zogen sich die österreichischen UNDOF-Soldaten im Sommer 2013 zurück. Heute werden die Kämpfe in der Pufferzone von 1250 Soldaten aus sechs Staaten beobachtet und die Berichte nach New York an den UN-Sicherheitsrat geschickt. Der schweigt.
Die Außenminister von 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben unterdessen bei ihrem Treffen in Luxemburg ein weiteres Mal ihre Sanktionen gegen die syrische Regierung verschärft. Erst Ende Mai hatte die EU die bisher ergriffenen Strafmaßnahmen um ein weiteres Jahr verlängert. Von Einreiseverboten, Kontensperrungen und dem Verbot wirtschaftlichen Handels sind nunmehr 53 Institutionen und Unternehmen sowie 191 Einzelpersonen in Syrien betroffen. Für EU-Mitgliedsstaaten ist ausdrücklich jede Art der bisherigen Kooperation im Energiesektor verboten. Explizit ausgenommen von den Sanktionen ist die oppositionelle Nationale Koalition (Etilaf), die vom Westen als »legitime Vertretung Syriens« anerkannt wurde.
** Aus: junge Welt, Dienstag 24. Juni 2014
Der Golan und die Täter
Roland Etzel zum Zwischenfall auf den Golanhöhen ***
So tragisch der Tod eines israelischen Jugendlichen ist, er rechtfertigt keine Luftangriffe. Die auf dem Golan stationierte UNO-Truppe hat niemand nach Erkenntnissen gefragt, und die israelische Armee hat nicht einmal versucht, einen Nachweis der Schuld zu führen. Doch selbst wenn es Beweise zur Täterschaft gäbe, sollte eine Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt werden.
Es spricht im Übrigen nicht sehr viel dafür, dass die Verantwortung für die tödlichen Schüsse zuerst bei der syrischen Armee zu suchen sein sollte. Darf man nicht mehr nach dem Motiv fragen? Vorausgesetzt, es handelte sich nicht um die spontane Tat subalterner Abenteurer – und das glaubt ja auch Israel offensichtlich nicht – weist wenig auf die syrische Militärführung. Man mag ihr ja unterstellen, dass nach drei Jahren barbarischen Krieges von allen Seiten Skrupellosigkeit bei ihr zum Alltag gehört. Aber warum – salopp ausgedrückt – Blödheit? Warum sollte die bedrängte Assad-Truppe darauf erpicht sein, aus einem Drei-Fronten-Krieg einen mit vieren zu machen? Daran kann sie kein Interesse haben, ihre militärischen Gegner schon eher.
Befremdlich ist auch, und dies betrifft jene, die Israels Schritt als legitim tolerieren, wenn dabei nicht erwähnt wird, dass israelische Präsenz auf den Golanhöhen keine Rechtsgrundlage hat. Die Annexion der Golanhöhen durch Israel aber verstößt gegen gültige UN-Beschlüsse, und das seit 33 Jahren.
*** Aus: neues deutschland, Dienstag 24. Juni 2014 (Kommentar)
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