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Macht keine Dummheiten

Am 3. Juli 1904 starb Theodor Herzl, der Begründer des politischen Zionismus

Von Knut Mellenthin Von Knut Mellenthin *

Theodor Herzl wurde nur 44 Jahre alt. Rechnet man vom Erscheinen seiner Schrift »Der Judenstaat« im Februar 1896 an, so umfaßte die Zeit seines öffentlichen Wirkens nicht viel mehr als acht Jahre. Nimmt man die vorbereitenden Privatgespräche hinzu, die Herzl mit einflußreichen Persönlichkeiten wie dem Baron Maurice de Hirsch geführt hatte, kommt man auch nur auf neun Jahre. Herzl hatte aufgrund eines Herzleidens schon früh begonnen, mit seinem baldigen Tod zu rechnen, und hatte in diesem Bewußtsein gelebt und gearbeitet. Am 12. Juni 1895 notierte er in seinem Tagebuch die Verse eines Herrn Heyse:

Ich bebe:
Daß ich hinfahren könnte über Nacht,
Hinfahren, ehe ich dies Werk vollbracht.


Am 30. April 1904 bekam Herzl von seinem Arzt die dringende Empfehlung, zu einer sechswöchigen Kur nach Franzensbad – heute Františkovy Lázny in Tschechien – zu fahren. Von dort schrieb er am 16. Mai in einem Brief: »Es wird wohl noch einige Wochen dauern, bis ich mein reparaturbedürftiges Herz hier wieder ein bißchen zusammengeflickt habe.« Am selben Tag stellte er seine Tagebuchaufzeichnungen ein und nahm sie auch nicht wieder auf. Auch seine umfangreiche Korrespondenz in Sachen Zionismus endete mit diesem Tag fast vollständig. Herzl kehrte am 21. Mai vorzeitig nach Wien zurück und fuhr von dort aus einige Tage später mit seiner Frau und den Kindern in das Dorf Edlach beim Luftkurort Reichenau. Ende Juni beschäftigte er sich mit der Suche nach einer Gartenwohnung in Hamburg-Uhlenhorst oder Blankenese. Am 3. Juli 1904 starb Theodor Herzl an den Folgen einer Lungenentzündung.

Siedlungsland »Uganda«

Mit seinem Tod endete im wesentlichen auch der Streit um das »Uganda-Projekt«, der ihn in seinem letzten Lebensjahr beschäftigt und weitgehend seine Arbeitskraft absorbiert hatte. Auslöser war ein nicht sehr verbindlicher Vorschlag des britischen Kolonialministers Joseph Chamberlain, den Zionisten ein Ansiedlungsgebiet in Ostafrika zur Verfügung zu stellen. Man sprach damals von »Uganda«, obwohl das in Frage kommende Gebiet im heutigen Kenia liegt. Es handelte sich um eine große Hochebene um den Distrikt Uasin Gishu. Wegen ihrer Höhenlage – ab 1500 Meter – und des dadurch bedingten angenehmeren Klimas wurde angenommen, daß die Region auch für Nichtafrikaner gut verträglich sei. Mit 13000 Quadratkilometern war das Gebiet etwas mehr als halb so groß wie das heutige Israel ohne die besetzten Gebiete. Herzls Behauptung, es könnten dort eine Million Juden angesiedelt werden, war unter damaligen Verhältnissen mit Sicherheit weit übertrieben. Wie bei vielen Aussagen, mit denen er innerhalb und außerhalb der zionistischen Bewegung operierte, ist nicht klar, ob er selbst daran glaubte.

Aus Herzls Tagebüchern wissen wir, daß Chamberlain – der Vater des späteren britischen Premiers Neville Chamberlain – ihm am 23. April 1903 den Vorschlag, eher scherzhaft als präzis, machte. Kurz zuvor war Herzls Plan gescheitert, von der britischen Regierung die ägyptische Sinai-Halbinsel, das Gebiet um Al-Arisch am Mittelmeer und möglichst auch noch die Insel Zypern zu erhalten. Die »Anregung« des Außenministers stellte vor diesem Hintergrund eine Art Trostpreis dar. Als Alternative zur Erlangung der Herrschaft über Palästina hatte Herzl weder das eine noch das andere Projekt ernstgenommen, zumal den Zionisten nur eine beschränkte »lokale Selbstverwaltung« zugestanden werden sollte.

Dennoch sprachen aus Herzls Sicht mehrere Gründe dafür, Chamberlains Idee nicht zurückzuweisen. Erstens waren damit für die Zionisten weder Kosten noch Nachteile verbunden. Zweitens war es mit Blick auf die Beziehungen zu Chamberlain persönlich und zur britischen Regierung unklug und unnötig, das freundlich vorgebrachte Angebot auszuschlagen. Drittens verwandelte sich »Uganda« in Herzls Phantasie sofort in ein Tauschobjekt, für das man später andere Territorien, beispielsweise in der portugiesischen Kolonie Moçambique, erwerben könnte, die man dann wiederum vorteilhaft weiterveräußern könnte. Viertens hätte »Uganda«, falls sich die Gewinnung Palästinas vorerst nicht realisieren ließ, als eine Art Übungs- und Ausbildungsgebiet für einige zehntausend Siedler dienen können.

Kurzlebiger Kompromiß

Auf dem Sechsten Zionistenkongreß (23.–28.8.1903) gab es erbitterte Debatten um den »Uganda-Plan«, der auch »Nairobi-Plan« genannt wurde. Dazu trug wesentlich bei, daß die meisten Delegierten mit dem Projekt völlig überrumpelt wurden und daß Herzl seine wichtigsten taktischen Überlegungen nicht öffentlich zur Diskus­sion stellen konnte. Vielen Teilnehmern erschien es deshalb so, als wolle der anerkannte Führer der zionistischen Bewegung das gemeinsame Ziel, den Judenstaat in Palästina, preisgeben. Es kam zu einem dramatischen Auszug der russischen Delegierten und zu Herzls Schwur aus dem 137. Psalm: »Wenn ich dich vergesse, Jerusalem, so möge meine rechte Hand (ihre Bewegungsfähigkeit) vergessen.«

Herzl setzte sich durch. In der entscheidenden Abstimmung votierten 295 Delegierte dafür, einen Ausschuß einzusetzen, der die Möglichkeit einer jüdischen Siedlungstätigkeit in Ostafrika »prüfen« sollte. Es gab 178 Gegenstimmen und 98 Enthaltungen. Der Kongreß hatte sich damit für ein Verfahren entschieden, das auch später – beispielsweise gegenüber dem britischen Vorschlag von 1937 zur Teilung Palästinas – mehrfach angewendet wurde: Die Zionisten vermieden ein klares »Nein«, das sie in ein schlechtes Licht gesetzt hätte, ohne sich aber auf ein »Ja« festzulegen, und gewannen dadurch vor allem Zeit.

Der Kompromiß überlebte Herzl jedoch nicht lange. Die ein Jahr zuvor gebildete Kommission kam im Sommer 1995 zur Schlußfolgerung, daß »Uganda« nicht für eine Besiedlung im zionistischen Sinn in Frage komme. Der Siebte Zionistenkongreß (27.7.–2.8.1905) sprach Großbritannien zwar nochmals seinen Dank für das Angebot aus, verbunden mit der »Hoffnung«, die »guten Dienste der britischen Regierung auch weiterhin in Anspruch nehmen zu können«, beschloß aber zugleich, »sich mit dem Vorschlag nicht weiter zu befassen«. Darüber hinaus lehnte der Kongreß »jede Siedlungstätigkeit außerhalb Palästinas und der angrenzenden Gebiete, gleich ob als Ziel oder Mittel«, ab.

Die erste Phase der zionistischen Bewegung, die ganz stark von der Person und Persönlichkeit Herzls geprägt worden war, fand damit ihren Abschluß. Das kam auch in der Entscheidung des Siebten Kongresses zum Ausdruck, die Zentrale von Wien nach Köln zu verlegen. Herzl hatte diese Entwicklung vielleicht vorausgesehen, als er am 6. Mai 1904 aus Franzensbad an seinen Nachfolger David Wolffsohn schrieb: »Macht keine Dummheiten, während ich todt bin.«

Herzl hatte in seinem letzten Willen verfügt, daß es bei seinem Begräbnis auf dem Friedhof Döbling weder Reden noch Blumen geben solle. »Ich wünsche, in einem Metallsarge in der Gruft neben meinem Vater beigesetzt zu werden und dort zu liegen, bis das jüdische Volk meine Leiche nach Palästina überführt.« Das geschah 45 Jahre nach seinem Tod.

Quellentext. Vorweggenommener Abschied

Ich will euch jetzt meine Rede vom VII. Congress – wenn ich ihn erlebe – sagen. Ich werde bis dahin entweder Palästina haben oder die vollkommene Aussichtslosigkeit jeder weiteren Bemühung eingesehen haben. Im letzteren Falle wird meine Rede lauten:

Es war nicht möglich. Das Endziel ist nicht erreicht und wird in absehbarer Zeit nicht erreicht werden. (…) Aber ein Zwischenresultat (gemeint ist der »Uganda-Plan«; jW) liegt vor: dieses Land, in welchem wir unsere leidenden Massen auf nationaler Grundlage mit Selbstverwaltung ansiedeln können. Ich glaube nicht, daß wir um eines schönen Traumes oder um einer legitimistischen Fahne willen den Unglücklichen diese Erleichterung vorenthalten dürfen.

Ich verstehe, daß in unserer Bewegung hiermit eine entscheidende Spaltung eingetreten ist und dieser Riß geht mitten durch meine Person hindurch. (…) Palästina ist das einzige Land, wo unser Volk zur Ruhe kommen kann. Aber sofortige Hilfe tut Hunderttausenden Not. Um diesen Zwiespalt zu lösen, gibt es nur Eins: ich muß von der Leitung zurücktreten. (…) Aber ich werde denjenigen, die sich der Arbeit widmen, meinen Rat nie vorenthalten, wenn sie ihn verlangen. Und ich werde diejenigen, die sich dem schönen Traum hingeben, mit meinen Wünschen begleiten.

Durch das, was ich getan, habe ich den Zionismus nicht ärmer, aber das Judentum reicher gemacht. – Adieu!

Theodor Herzls Eintrag in sein Tagebuch, 31. August 1903



* Aus: junge Welt, Samstag 28. Juni 2014


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