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Schönes demokratisches Israel – War da nicht noch etwas?

Ein Schülerwettbewerb in Hessen soll helfen, "das Land und die Menschen besser kennen zu lernen" – Eine kritische Stellungnahme


“Israel heute - Menschen, Staat, Geschichte“ ist das Thema des Schülerwettbewerbs 2013/2014 der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung (HLZ) und des Hessischen Landtags. Mit dem Begleitheft (www.hlz.hessen.de), das 2013 an den hessischen Schulen verteilt wurde, setzt sich eine Stellungnahme der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft–RG Kassel, der Gruppe Handala e.V. – Marburg und des „Forums Gewerkschaften“ kritisch auseinander. Es erschien uns im Interesse der Ausgewogenheit notwendig, der sehr einseitigen und parteiischen Darstellung der HLZ eine kritische Sichtweise gegenüberzustellen. Sie ist im Folgenden dokumentiert. Die kritisierte Hochglanzbroschüre kann auf der Website der HLZ heruntergeladen werden: ISRAEL HEUTE [externer Link].

Stellungnahme

„Wenn die Klischees und die falschen Mythen ihren Platz im Denken behaupten, ist die Katastrophe unausweichlich.“ (Simcha Flapan, israelischer Historiker)

Nach Durchsicht der Materialien zum Schülerwettbewerb „Israel Heute“ sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass diese ungeeignet für den Schulunterricht sind, da sie in ihrer manipulativen Einseitigkeit sowohl den hessischen Lehrplänen für das Fach „Politik und Wirtschaft“ als auch dem eigenen Selbstverständnis der HLZ widersprechen, zu dem gehört, dass politische Bildung „pluralistisch, überparteilich und unabhängig“ sein müsse.

Im hessischen Lehrplan „Politik und Wirtschaft“ für den gymnasialen Bildungsgang der Jahrgangsstufen 7 bis 13 ist davon die Rede, dass Positionen, die in der öffentlichen Diskussion kontrovers sind , auch im Unterricht kontrovers angelegt sein müssen.

Eindeutig heißt es: „Sachverhalte, Fragen und Lösungsvorschläge, die in der öffentlichen Debatte kontrovers diskutiert werden, werden mit den unterschiedlichen Positionen in den Unterricht eingebracht.“

Dass die Broschüre „Israel heute“ das Gebot eines kontroversen Unterrichts in keiner Weise einlöst, wird allein daran deutlich, dass die israelische Besatzungspolitik und ihre Folgen für die palästinensische Bevölkerung nicht erwähnt werden.

So erfahren die Schüler nichts über die Annektierung Ostjerusalems und die andauernde Vertreibung der Palästinenser, nichts über den Bau der Mauer, nichts über die demütigende Behandlung der palästinensischen Bevölkerung an den Checkpoints, die ihre Bewegungsfreiheit einschränkt, nichts über den Ausbau der Siedlungen und der damit verbundenen Zerstörung palästinensischer Dörfer und landwirtschaftlich genutzter Flächen, nichts über die verheerenden humanitären Folgen der Abriegelung des Gazastreifens und der israelischen Bombardierungen für die Zivilbevölkerung.

Banalisierend wird der Nahostkonflikt als Dilemma bezeichnet; die Mitverantwortung der israelischen Politik für das Scheitern einer Friedenslösung durch die anhaltende Ausgrenzung und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung wird nicht erwähnt, stattdessen entsteht der Eindruck, dass ausschließlich der palästinensischen Seite die Schuld für „Eskalationen“ zugewiesen wird, israelische Militäraktionen sind laut Materialien nur „Vergeltungsschläge“: „Die wirtschaftliche Situation auf palästinensischer Seite, vor allem hohe Arbeitslosigkeit und bittere Armut, nutzen radikale Kräfte aus. Vor allem in dem von der religiös orientierten Hamas beherrschten Gazastreifen eskalieren die Ereignisse immer wieder.“ (S. 6)

Wäre es an dieser Stelle nicht eine sinnvolle Aufgabe für Schüler gewesen, den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Situation in den Palästinensergebieten und anhaltender Besatzungspolitik darzustellen?

Warum finden wir in diesem Zusammenhang keine Hinweise auf die völlige Zersplitterung der Westbank in verschiedene Zonen, wobei nur in einigen größeren palästinensischen Städten die Zivilverwaltung und die Kontrolle der Sicherheit auf die Palästinenser überging und sich das israelische Militär zurückzog. In der sogenannten Zone B, die circa 420 Dörfer und Kleinstädte umfasst, bekamen die Palästinenser nur begrenzte zivile Aufgaben übertragen, während 400 km Straßennetz und Siedlungen de facto zu israelischem Staatsland (73 Prozent der Westbank!) erklärt wurden, umgeben von Checkpoints und Mauern, die die palästinensischen Gebiete voneinander trennen und aus ihnen „Bantustans“ machen. Warum finden wir in den Materialien keine Landkarten, die diese Zersplitterung zeigt? (Eine solche Karte findet sich z.B. in der Broschüre „Kommt und seht“, Berichte aus Palästina und Israel des Evangelischen Missionswerkes in Deutschland e. V., Hamburg 2012)

Die „bittere Armut“ ist also nicht vom Himmel gefallen oder Ausdruck der palästinensischen Unfähigkeit, wie die Broschüre suggeriert, sondern Folge der israelischen Politik, denn wie kann unter solchen Bedingungen eine eigenständige Wirtschaft gedeihen? Es ist die Besatzungspolitik, die jeden wirtschaftlichen Aufschwung der Palästinensergebiete verhindert!

Wir fragen auch, warum die Broschüre kein einziges Bild der inzwischen fast 700 km langen Mauer enthält, die teilweise bis zu 22 km tief in extra zu diesem Zweck enteignetes palästinensisches Land hineinragt und den Palästinensern große Demütigungen und unerträgliche Beschränkungen im Alltag auferlegt?

Kann es sein, dass hier in Deutschland dank der eigenen Erfahrungen mit einer militärischen Sperrmauer, solche Bilder nicht als positive zu vermitteln wären? Würden Bilder, die die im Zusammenhang mit dem Mauerbau zerstörten palästinensischen Dörfer, Olivenhaine, Orangenbäume, Zisternen und vor allem die verzweifelten Menschen zeigen, den Werbecharakter Ihrer Broschüre stören?

Ausgeklammert werden auch die Auswirkungen, die die jüdisch-zionistische Einwanderung bis hin zur israelischen Staatsgründung auf die palästinensische Bevölkerung hatte.

Kein einziges Zitat, keine einzige Quellenangabe, keine einzige Frage drückt das aus, was die Palästinenser als „Katastrophe“ (Nakba) erfahren haben. Die Schüler erfahren nur, dass die „Ablehnung in der arabischen Bevölkerung“ wuchs und dass die arabischen Staaten den Teilungsplan der UN-Vollversammlung ablehnten. Die Ursachen für die Ablehnung und die Vorgeschichte werden verschwiegen. Damit wird die Information sehr einseitig:

Schon vor der israelischen Staatsgründung war das zionistische Kolonialprojekt verbunden mit der erbarmungslosen Ausgrenzung der arabischen Bevölkerung, die von ihrem gepachteten Land vertrieben wurde. Zu diesem Thema mangelt es nicht an Quellen, unter anderem von führenden Zionisten, die diese Tatsachen nie bestritten haben.

Eine historische Quelle sei hier zitiert, weil sie in ihrer Anschaulichkeit deutlich macht, was die zionistische Besiedelung für die palästinensische Bevölkerung bedeutete. Sie stammt von einem Führer der zionistischen Arbeiterbewegung, David Hacohen, der in der Hà aretz vom 15.11.1968 beschrieb, welche Folgen das zionistische Selbstverständnis hatte:

„Ich mußte mit meinen Freunden viel über den jüdischen Sozialismus streiten; mußte die Tatsache verteidigen, daß ich keine Araber in meiner Gewerkschaft akzeptierte; daß wir Hausfrauen predigten, nicht in arabischen Geschäften zu kaufen, daß wir an Obstplantagen Wache hielten, um arabische Arbeiter daran zu hindern, dort Arbeit zu finden, daß wir Benzin auf arabische Tomaten schütteten, daß wir jüdische Frauen attackierten und die arabischen Eier, die sie gekauft hatten, vernichteten, daß wir den „Jüdischen Nationalfonds“ hochpriesen, der Hankin nach Beirut schickte, um Land von abwesenden Großgrundbesitzern zu kaufen und die arabischen Fellachen vertrieb, daß es verboten ist einen einzigen jüdischen Dunam an einen Araber zu verkaufen ….All das zu erklären war nicht leicht.“

Ist es angesichts solcher „Werte“ des Zionismus nicht nachvollziehbar, dass es zu einer wachsenden Ablehnung der arabischen Bevölkerung kam?

1882 war der jüdische Bevölkerungsanteil erst 5% gewesen, 1945 war er als Folge der faschistischen Vertreibungs- und Vernichtungspolitik schon auf 30% gewachsen, besaß aber erst 6% des Bodens nach Eigentumstiteln. Dass der Teilungsplan der Vereinten Nationen von der palästinensischen Bevölkerung als zutiefst ungerecht empfunden wurde, ist mehr als verständlich, wenn man bedenkt, dass für die jüdische Bevölkerung, die 33% zu diesem Zeitpunkt ausmachte, 56,4% des Landes vorgesehen waren, für die 66% der palästinensischen Bevölkerung jedoch nur 43,6%. Da die in der Broschüre dargestellte Statistik zur jüdischen Einwanderung nicht in Relation zur palästinensischen Bevölkerung gesetzt wird (S.5) werden solche Zusammenhänge gar nicht deutlich, bzw. wird suggeriert, dass die Einwanderung in ein „leeres“ Land stattgefunden habe. Dass dieser Mythos von einem unbewohnten Land, einer Wüste, die erst durch die jüdische Einwanderung kultiviert wurde, auch in das Materialheft Eingang findet, zeigt sich schon , wenn in einem einleitenden Zitat von Ephraim Kishon behauptet wird, „dass Menschen aus aller Welt im Sand zusammenkommen und einen demokratischen Staat gründen.“

Wir bezweifeln nicht, dass der israelische Staat eine parlamentarische Demokratie darstellt, allerdings eine Demokratie, die nicht allen Bürgern die gleichen Rechte gewährt, denn da sich Israel als jüdischen Staat begreift, werden faktisch alle Nicht-Juden zu Bürgern zweiter Klasse.

Ein Beispiel dafür ist die Tatsache, dass palästinensische Israelis auch nach der Eheschließung mit Partnern aus den besetzten Gebieten erst nach jahrelangen Genehmigungsverfahren zusammenleben dürfen. Oft wird eine Genehmigung gar nicht erteilt. Aber selbst wenn eine solche erfolgt, bleiben die Partner ein angebliches „Sicherheitsrisiko“, deshalb erhalten sie weder Arbeitserlaubnis noch Sozialversicherung und können jeder Zeit wieder ausgewiesen werden. Palästinenser aus dem Gazastreifen, aus Syrien, dem Libanon, dem Irak und dem Iran erhalten überhaupt kein Recht auf Familienzusammenführung.

Solche „Ausnahmeregelungen“, die der palästinensischen Minderheit in Israel, die aber immerhin 20% der Bevölkerung ausmacht, Rechte vorenthalten, sind zahlreich: Sie betreffen die Möglichkeit eine Baugenehmigung zu erhalten, Land zu kaufen, einen Betrieb zu eröffnen, die Reisefreiheit, Familienangehörige im Westjordanland zu besuchen, usw.

Ganz zu schweigen davon, dass in den besetzten Gebieten eine Militärgesetzgebung zur Anwendung kommt, die jeden internationalen Rechtsnormen widerspricht (z.B. die Administrativhaft).

Am 1. Januar 2013 waren 4.743 politische Gefangene in israelischen Gefängnissen, unter ihnen 178 Gefangene in Verwaltungshaft, 10 Frauen und 193 Kinder. In den Jahren 2000 – 2009 wurden über 8000 Kinder (Viele davon erst 12 Jahre alt!) gefangen genommen. Die Form der Verhaftungen –nächtliches Eindringen mit Verwüstungen in den Häusern – hat nachweislich weitreichende traumatische Folgen für die Kinder und ihre Familien.

Da also auch bei der Darstellung des politischen Systems „Israel“ die „dunklen Seiten“ ausgeklammert bleiben, wird auch an dieser Stelle deutlich, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der Politik Israels nicht ermöglicht wird.

Nur die zionistische Sichtweise ist erlaubt, der Blick auf die „Opfer“ dieser Politik wird durch eine stark idealisierende Darstellung verhindert.

Wenn es in der Einleitung heißt, dass der Wettbewerb es den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern ermöglichen soll, das Land und die Menschen besser zu verstehen, sind damit nur die jüdischen Menschen in Israel gemeint – alle anderen werden negiert, verschwiegen, ihre Darstellung der Geschichte kommt schlichtweg nicht vor.

Das aber ist das Gegenteil von Friedenserziehung und bewirkt das Gegenteil von dem, was wir durch politische Bildung erreichen wollen: einen mündigen Bürger, der kritische Urteilskraft besitzt und sich aufgrund kontroverser Positionen einen eigenen Standpunkt erarbeiten kann.

Deutsch-Palästinensische Gesellschaft–RG-Kassel
Gruppe Handala e.V. – Marburg
Forum Gewerkschaften



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