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Kritik am Geheimdienst

Offener Brief israelischer Elitesoldaten an Regierungschef Netanjahu

Von Karin Leukefeld *

Angehörige und Ehemalige des israelischen Militärgeheimdienstes haben mit ihrer öffentlichen Kritik am Umgang mit geheimdienstlichen Informationen aus den besetzten palästinensischen Gebieten eine heftige Gegenreaktion ausgelöst.

43 Soldaten und Soldatinnen der militärischen Eliteeinheit 8200 hatten am Donnerstag in einem offenen Brief ausgeführt, daß die von ihnen gesammelten Informationen von anderen Geheimdiensten benutzt würden, um an Gewalttaten unbeteiligte Palästinenser zu nötigen. Der Brief war an Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Armeechef Benny Gantz und an den Chef des Militärgeheimdienstes, Aviv Kochavi, adressiert und wurde lediglich mit Vornamen oder Kürzeln sowie mit dem militärischen Dienstgrad unterzeichnet.

»Informationen, die wir sammeln und archivieren, schaden unschuldigen Menschen«, heißt es in dem Schreiben, das auch in Englisch verbreitet worden war. Die Informationen würden »für politische Verfolgung benutzt und dafür, die palästinensische Gesellschaft zu spalten«, »Kollaborateure zu rekrutieren und Teile der palästinensischen Gesellschaft gegeneinander aufzuwiegeln«. Beispielsweise sollten »sexuelle Neigungen« von Palästinensern ausgespäht werden, um diese Personen zu zwingen, Informanten der israelischen Besatzungstruppen zu werden. Die Unterzeichner bestätigten damit häufige Vorwürfe von Palästinensern, daß die israelische Armee Homosexuelle unter Druck setze, für sie zu arbeiten. Falls sie sich weigern, würde ihre sexuelle Neigung öffentlich gemacht. »Wir können guten Gewissens nicht länger in so einem System arbeiten«, heißt es in dem Brief. »Millionen Menschen werden ihre Rechte verweigert.«

Die Reservisten unter den Unterzeichneten kündigten an, in den besetzten palästinensischen Gebieten »nicht mehr dienen« zu wollen. Alle Soldaten der Geheimdiensteinheiten seien wie alle Bürger Israels »aufgerufen, jetzt und in Zukunft« Ungerechtigkeiten zu benennen und »sich dafür einzusetzen, daß sie aufhören«.

Das englischsprachige israelische Internetportal Ynet veröffentlichte Fotos von einigen der Unterzeichner, auf denen sie der Kamera den Rücken zuwenden oder die Gesichter unkenntlich gemacht worden sind. Die mit Ynet verbundene Tageszeitung Yediot Ahronot zitierte einen der Unterzeichner anonym mit den Worten, alle hätten den Brief unterschrieben, weil wir »nachts nicht mehr ruhig schlafen können«.

Die Eliteeinheit 8200 hört jede elektronische Kommunikation in der Region ab und wird mit der US-amerikanischen Nationalen Sicherheitsagentur (NSA) oder dem britischen GCHQ (Government Communication Headquarter) verglichen.

Geheimdienstminister Juval Steinitz forderte am Sonntag, daß die Unterzeichner des Briefes vor Gereicht gestellt werden müßten. Es handele sich um einen »Akt der Unterwanderung«. Geheimdienstagenten müßten immer in die Privatsphäre von Zielpersonen eindringen, so Steinitz. In Israel sei das »lebensnotwendig«, da es von »besonders feindseligen Nachbarn« umgeben sei. Armeesprecher Moti Almos kündigte rigorose disziplinarische Schritte an. Im Militär gebe es »keinen Platz für Befehlsverweigerung«. Die Unterzeichner des Briefes hätten den Militärdienst »mißbraucht, um politische Ansichten zu vertreten«.

Mitarbeiter von 8200 warfen ihren Kollegen und Kolleginnen »schweren Vertrauensbruch« vor. Der pensionierte Brigadegeneral Hanan Gefen sagte in der Tageszeitung Maariv, er würde für »alle Gefängnisstrafen fordern«. Mehr als 200 Ehemalige der Eliteeinheit äußerten sich »beschämt und abgestoßen« über den offenen Brief, den sie »vollkommen ablehnen«. Der israelische Journalist Gideon Levy sprach hingegen von einer »Meuterei in der israelischen Stasi«. Der Brief habe »den schlimmsten Schmutz der Besatzung« zutage befördert. Er hoffe, daß nun vielleicht auch »einige Veteranen des Geheimdienstes Shin Bet sich trauen, über ihre Arbeit zu sprechen«.

* Aus: junge Welt, Montag 15. September 2014


Sie wollten nicht länger schweigen

Eine israelische Spezialeinheit verabscheut ihren Auftrag zur Spitzeltätigkeit in Palästina

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem **


Die Militäreinheit 8200 ist eine Art israelische NSA. Nun kritisieren 43 Reservisten des Dienstes dessen Methoden: Die Einheit diene vor allem dazu, die Palästinenser auszuspionieren.

Es war vor gut zwei Jahren, als plötzlich zwei Mitarbeiter des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Beth vor dem damals 19-jährigen Ibrahim aus Nablus standen. Man wisse Bescheid, sagten sie und kamen ziemlich schnell zur Sache: »Die wollten, dass ich denen Informationen über einen entfernten Verwandten gebe, sonst hätte man meiner Familie gesagt, dass ich schwul bin«, erinnert sich der junge Mann, der heute in London lebt, notgedrungen: »So oder so – ich könnte zu Hause nicht wieder frei leben, nicht als Schwuler und schon gar nicht als Kollaborateur.«

Lieferant der Details über Ibrahims Privatleben dürfte Israels Militäreinheit 8200 gewesen sein: Die Abteilung des Militärgeheimdienstes Aman hört für die beiden israelischen Geheimdienste Schin Beth (Inland und Palästina) und Mossad (Ausland) Telefongespräche und den Datenverkehr in Palästina und der restlichen muslimischen Welt ab. Außerdem wird vermutet, dass die Einheit auch Angriffe auf Computernetzwerke durchführt.

Details über die Arbeit von 8200 drangen bislang selten nach außen: Die Soldaten werden bereits im Jugendalter sorgsam ausgesucht und durchlaufen dann eine lange, anspruchsvolle Ausbildung. Wer es geschafft hat, darf nicht einmal seinen Angehörigen erzählen, wo er dient. Und so hat es in Israel für einigen Aufruhr gesorgt, dass nun 43 Reservisten des Dienstes dieses Schweigen gebrochen haben, und in einem Brief an Regierungschef Benjamin Netanjahu und einige Mitglieder des Generalstabes harsche Kritik an den Methoden der Einheit üben: Sie sei ein Mechanismus, um ein anderes Volk zu kontrollieren: »Wir können nicht mit gutem Gewissen weiterhin in diesem System dienen und die Rechte von Millionen Menschen verletzen,« heißt es in dem Schreiben.

In Interviews mit der Zeitung »Jedioth Ahronoth« erzählen einige der Unterzeichner, sie seien dazu aufgefordert worden, besonders auf die pikanten Details im Leben der auszukundschaftenden Palästinenser zu achten: Ob jemand an einer schweren Krankheit leidet oder seine Frau betrügt; Informationen also, die dazu genutzt werden können, um die Betroffenen zu erpressen, oder sie über finanzielle Anreize zur Zusammenarbeit zu bewegen. »Wenn du homosexuell bist und über zwei Ecken jemanden kennst, den Israel sucht, dann macht Israel einem das Leben zur Hölle«, wird eine Reservistin zitiert.

Israels Regierung und Militärführung reagierten mit Entrüstung auf den Brief: Man wirft den Reservisten vor, die Einheit für politische Zwecke zu missbrauchen. Jede Form von Geheimdienstarbeit greife bis zu einem gewissen Grad in die Privatsphäre von Menschen ein, sagt Geheimdienstminister Juwal Steinitz: »Um die Sicherheit des Staates zu schützen, ist das aber unumgänglich.«

Und dennoch: In der Öffentlichkeit wird nun auch darüber diskutiert, wie weit ein Geheimdienst dafür gehen dürfen sollte; außerdem steht die Frage im Raum, ob der Dienst möglicherweise auch gegen die eigenen Bürger eingesetzt wird. Denn Privatsphäre und Datenschutz haben in Israel einen hohen Stellenwert: Der Versuch, eine elektronische Gesundheitskarte einzuführen, ging schon auf dem Weg zum Parlament verloren; ein erst kürzlich verabschiedetes Datenschutzgesetz geht weit über die in Europa geltenden Standards hinaus.

Aber: Die Gesetzgebung, die die Arbeit von 8200 regelt, ist auch für Anwälte kaum zu durchschauen; sicher ist dabei vor allem, dass es keine nachhaltigen Kontrollmechanismen gibt. Nur einige nach unklaren Kriterien ausgewählte Juristen des Militärs dürfen Einblick in das Tagesgeschäft der Einheit nehmen. In Gerichtsverfahren gegen Palästinenser wird zudem immer wieder auch Richtern aus Gründen der nationalen Sicherheit die Einsicht in Unterlagen der Geheimdienste verweigert. Zudem dürfen Angeklagte recht häufig ihren Verteidiger nur aus einer kurzen Liste von Anwälten auswählen.

Bemerkenswert bei alledem ist, dass Israels Sicherheitskräfte nicht versucht haben, das Bekanntwerden des Briefes über eine gerichtliche Nachrichtensperre zu unterbinden, auch die Militärzensur beschränkt sich in diesem Fall darauf, zu sichern, dass die Namen der Unterzeichner nicht bekannt werden. Steinitz forderte jedoch am Sonntag, die Verfasser müssten vor Gericht gestellt werden.

** Aus: neues deutschland, Montag 15. September 2014


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