Israel bremst sich aus
Kollateralschaden? Die zuletzt boomende Volkswirtschaft leidet unter den wirtschaftlichen Folgen des Gaza-Krieges. Kampf um höheren Mindestlohn
Von Raoul Rigault *
Alles hat seinen Preis. Auch in Israel. Der für die forcierte Kriegs- und Kolonisierungspolitik der Regierung Benjamin Nethanjahu ist nicht nur die Zunahme und Radikalisierung des palästinensischen Widerstands, sondern auch ein markanter Einbruch der Wirtschaft. Im dritten Quartal schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Israels um 0,4 Prozent. Für die auf dem Technologie- und Dienstleistungssektor basierende Ökonomie ist es der erste negative Wert seit einer kurzen Kontraktion vor fünf Jahren infolge der Weltwirtschaftskrise. Danach waren Wachstumsraten von gut drei Prozent die Regel. Die letzte Rezession verzeichnete man am Roten Meer 2001 / 2002 zu Beginn der Zweiten Intifada. Hauptursache für die aktuelle Schwäche war der 50-Tage-Krieg gegen die Bevölkerung des Gazastreifens, der von Juli bis September 2.100 Palästinenser und rund siebzig Israelis das Leben kostete. Es handelte sich um den längsten und härtesten der drei Feldzüge unter Ägide von Nethanjahu und Co. seit 2009 gegen das belagerte Territorium.
Auch der Tourismus brach ein. Infolge des Raketenbeschusses durch Hamas, Islamischen Dschihad und andere Gruppen bis weit in den Norden des Kerngebietes und die Umgebung des Internationalen Flughafens »Ben Gurion« kam es im Juli zu einem Rückgang der Besucherzahlen um 26 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Anders als früher hielt die Verunsicherung der Reisewilligen an. Einen Monat nach Inkrafttreten des Waffenstillstandes betrug das Minus im Oktober noch immer 19 Prozent.
Keine schnelle Erholung
Üblicherweise erholt sich Tel Avivs Volkswirtschaft nach derartigen Kriegen immer wieder rasch. In diesem Fall gehen ausländische Beobachter von einer längerfristigen Abkühlung aus. Nicht nur die Financial Times äußerte sich skeptisch. Die Ratingagentur Fitch stufte den Ausblick für israelische Staatsanleihen vor kurzem von »positiv« auf »stabil« herab. »Der entscheidende Punkt ist der Gaza-Konflikt, der mehr kostet, als wir erwartet haben«, erklärt ihr Direktor Paul Gamble. Die Invasion, das Bombardement sowie die Raketenabwehr des sogenannten Iron Dome (eiserne Kuppel) verschlangen demnach 0,6 Prozent des BIP. Das Budgetdefizit wird von den ursprünglich geplanten 2,8 auf 3,3 Prozent und damit über die in den OECD-Staaten geltende magische Drei-Prozent-Marke steigen. Im kommenden Jahr erweitern die zusätzlichen Militärausgaben das Haushaltsloch sogar auf 3,4 Prozent.
Der seit Ende Juni andauernde Aufstand der Palästinenser gegen die ständigen Provokationen von Regierung und rechtsradikalen Zionistenverbänden im 1967 besetzten Ostjerusalem mit beinahe täglichen Straßenschlachten und Anschlägen, bei denen bislang 17 Araber und 14 Israelis getötet und Hunderte verletzt wurden, belastet die sensible Tourismusbranche weiterhin. Das führt zu geringeren Deviseneinnahmen und spürbaren Einbußen im Hotel- und Gaststättengewerbe. »Veranstalter verschieben geplante Touren, und das betrifft gerade Reisegruppen, die ihren Besuch schon einmal wegen der Operation Protective Edge (Schutzlinie; d. h. den Angriff auf Gaza; jW) verschoben hatten«, sagt Tamar Lurye, Generaldirektor bei Ophir Tours, dem größten Privatunternehmen in diesem Bereich.
Probleme gibt es aber auch an anderen Fronten. Aus Verärgerung über eine neue Abgabe und das Veto von Finanzminister Jair Lapid gegen die geplante Megafusion mit einem kanadischen Konkurrenten beschloss der Großkonzern Israel Chemicals im November, lieber 435 Millionen Dollar in Spanien zu investieren und zu Hause Kostensenkungen um 80 Millionen Dollar vorzunehmen. Auch andere Firmen beklagen sich über zu hohe Steuern und sich ständig ändernde umweltpolitische Regelungen. Die Ausbeutung der reichen Erdgasvorkommen vor der eigenen Küste und in den Seegebieten vor Zypern und dem Libanon, die die Regierung Netanjahu mit Hilfe ihrer überlegenen Kriegsmarine mit Beschlag belegt hat, ist aufgrund der Befürchtungen der beteiligten Gesellschaften über die rechtlichen Unsicherheiten fürs erste zum Stillstand gekommen.
Der Zentralbank bleiben nicht mehr viele Möglichkeiten zur Stimulierung der Konjunktur. Sie hat ihr Pulver mit zwei kurz aufeinander folgenden Senkungen der Leitzinsen im August und September auf nun nur noch ein viertel Prozent bereits weitgehend verschossen. Die Aktion diente vor allem dazu, die Chancen der einheimischen Industrie auf dem Weltmarkt durch einen Wertverlust der Währung Schekel (NIS) zu verbessern. Das in den letzten drei Jahren zwischen 5,2 und 10,0 Milliarden US-Dollar schwankende Außenhandelsdefizit zählt zu den chronischen Schwierigkeiten. Es wird sich 2014 wohl noch vergrößern, da die Einfuhren im dritten Quartal bei schrumpfender Wirtschaft um nicht weniger als 16,2 Prozent zulegten. Gleichzeitig geht der Anteil von Ex- und Importen an der gesamten Wirtschaftsleistung kontinuierlich zurück: von 54,7 Prozent in 2011 auf 47,6 in 2013.
Weniger Auslandskapital
Auch die Boykott- und Desinvestkampagne aus Protest gegen die fortdauernde Besetzung und zunehmende Annektion des Ostteils von Jerusalem und großer Teile der West Bank zeigt offenbar erste Wirkung. Bereits 2012 verringerte sich der Zufluss ausländischer Direktinvestitionen um ein Zehntel auf 10,4 Milliarden Dollar. Unter den verbliebenen Anlegern rangiert inzwischen das Steuerparadies Kaimaninseln mit 11,6 Prozent des Gesamtbestandes hinter den USA (26,5) und weit vor Kanada und den Niederlanden (6,0 bzw. 5,2 Prozent) an zweiter Stelle. Offenbar legt man Wert auf Anonymität.
Neben der Kapitalseite erhält die von ultrarechten Nationalisten und Siedlerparteien beherrschte Exekutive jetzt auch von den Gewerkschaften Druck. Der staatstragende zionistische Dachverband Histadrut hatte unter seinem neuen Boss Avi Nissenkorn sogar mit einem landesweiten Ausstand gedroht, wenn der gesetzliche Mindestlohn nicht von den aktuell 4.300 Schekel (umgerechnet 894,75 Euro) auf 5.300 NIS (1102,83 Euro) angehoben wird. Das Mindestsalär liegt gegenwärtig bei weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Monatslohns von 9.200 NIS und damit noch unter dem in Großbritannien geltenden Betrag. Angesichts der horrenden Kosten eines solchen Streiks, die auf zwei Milliarden Schekel (gut 416 Millionen Euro) pro Tag geschätzt werden, haben sich die zuständigen Ressortchefs Yair Lapid und Naftali Bennett zu Gesprächen bereiterklärt.
Allerdings schwebt ihnen, genau wie bei der letzten Erhöhung im Oktober 2012, nur eine bescheidene Zugabe von 200 NIS (41,62 Euro) vor, die unter Berücksichtigung der Inflation auf eine faktische Stagnation hinauslaufen würde. Das lehnt Nissenkorn entschieden ab: »Ich sehe keine Minister oder Knesset-Abgeordneten, die in der Lage wären von einer solchen Summe zu leben.« Der Präsident des Unternehmerverbandes, Zvika Oren, zeigt sich da etwas offener, allerdings nur, wenn seine Klientel im Gegenzug eine deutliche Senkung der Unternehmenssteuer und flexiblere Arbeitszeitregelungen erhält. Man darf gespannt sein, ob sich die offiziellen Vertreter der abhängig Beschäftigten auf einen solchen Kuhhandel einlassen.
* Aus: junge Welt, Freitag, 5. Dezember 2014
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