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Die Globalisierung von Gaza

"Lawfare" – Juristische Kriegführung: Wie Israel das internationale Recht unterminiert

Von Jeff Halper *

Die Operation „Schützende Schwelle“ (Protective Edge) war nicht lediglich ein militärischer Angriff auf eine überwiegend zivile Bevölkerung. Wie in den ihr vorausgegangenen „Operationen“ (Gegossenes Blei in 2008-9, Säule der Verteidigung in 2012) war sie auch Teil eines andauernden Angriffs auf das Humanitäre Völkerrecht (HVR)[1] durch ein eng koordiniertes Team israelischer Anwälte, Offiziere, PR-Arbeiter und Politiker, angeführt (sogar) von einen Philosophen für Ethik. Es handelt sich dabei um das Bemühen, Israel nicht bloß vom Vorwurf der massiven Verletzungen der Menschenrechte und des Kriegsvölkerrechts zu befreien, sondern auch anderen Regierungen zu helfen, ähnliche Einschränkungen zu überwinden, wenn sie ebenfalls damit beginnen, „asymmetrische Kriegführung“, „Aufstandsbekämpfung“ und „Terrorismusbekämpfung“ gegen sich einer Unterwerfung widersetzende Völker zu führen. Es handelt sich um eine Kampagne, die Israel „Lawfare“ [2] nennt, und die von uns auf jeden Fall sehr ernst genommen werden sollte.

Die Dringlichkeit dieser Kampagne ist unterstrichen worden durch eine Serie bemerkenswerter juristischer Rückschläge und Herausforderungen, die Israel etwa im Verlauf des letzten Jahrzehnts erfahren musste, beginnend mit der Anklage gegen Ariel Sharon in 2001 durch ein belgisches Gericht wegen seiner Beteiligung an dem Massaker von Sabra und Shatila, wobei er aber einem Gerichtsverfahren entging. In der Folge der Operation „Schutzschild“ in 2002, als Sharons Regierung die Zerstörung hunderter palästinensischer Häuser in der Westbank veranlasste, die völlige Zerstörung von praktisch der gesamten Infrastruktur palästinensischer Städte, den Tod von 497 Palästinensern und die Verhaftung von 7000 Menschen, wurde Israel zwar wegen Kriegsverbrechen angeklagt, konnte aber eine UN-Untersuchung verhindern.

In 2004 entschied - auf Anforderung der UN-Vollversammlung - der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, dass Israels Errichtung der Mauer innerhalb des palästinensischen Territoriums „internationales Recht verletze“ und sie daher abgebaut werden müsse. Die Entscheidung wurde nahezu einstimmig von der UN-Vollversammlung gebilligt, bei Gegenstimmen lediglich von Israel, den USA, Australien und einigen pazifischen Atollen – allerdings mangelte es ihr an jeglichem Mittel zur Durchsetzung. Im zweiten Libanonkrieg 2006, nach der Zerstörung des Bezirks Dahiya in Beirut, der Hisbollah-Hochburg, verkündete Israel seine „Dahiya-Doktrin“. Gadi Eisenkott, Kommandeur des Nordkommandos der israelischen Streitkräfte verkündete:

„Was 2006 in dem Dahiya-Viertel von Beirut passierte „wird in jedem Dorf aus dem auf Israel gefeuert wird passieren… Wir werden unverhältnismäßig stärkere Gewalt einsetzen und massiven Schaden und Zerstörungen dort anrichten. Aus unserer Sicht handelt es hier nicht um zivile Ortschaften sondern um militärische Stützpunkte…. Hierbei handelt es sich nicht lediglich um eine Empfehlung, sondern um einen Plan. Und der ist bereits genehmigt.“

Und der wurde auch erneut angewandt. Der „Goldstone-Bericht über die Operation Gegossenes Blei“ kam zu dem Schluss, dass

„die Taktik der israelischen Streitkräfte in der Gaza-Offensive (von 2008-2009) mit den vorhergegangenen Praktiken übereinstimmt, zuletzt während des Libanonkriegs 2006. Ein als die Dahiya-Doktrin bekanntes Konzept tauchte dort auf, das die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt und das Anrichten großer Schäden und Zerstörungen an zivilem Eigentum und Infrastruktur und Leid gegenüber der zivilen Bevölkerung beinhaltete.“

Die Dahiya-Doktrin verletzt zwei Kardinal-Prinzipien des HVR: Das Prinzip der Unterscheidung (Distinction) und das Prinzip der Unverhältnismäßigkeit. Das Prinzip der Unterscheidung, formuliert in den vier Genfer Konventionen von 1949 und ihren Zusatzprotokollen von 1977, legt als verbindliche Regel fest: Zivilisten dürfen nicht von einer Armee angegriffen werden. Im Gegenteil, sind müssen geschützt werden; Gewalt gegen Personen ist streng verboten, wie auch „Schandtaten gegen die persönliche Würde“ („outrages upon personal dignity“). Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, ebenfalls in den Protokollen zu den Vier Genfer Konventionen formuliert, betrachtet es als ein Kriegsverbrechen, absichtlich ein militärisches Ziel anzugreifen mit dem Wissen, dass die sich dabei ergebenden zivilen Verletzungen in Relation zu dem antizipierten militärischen Vorteil eindeutig exzessiv sein würden. „Die Anwesenheit von Personen innerhalb der zivilen Bevölkerung, die nicht unter die Definition Zivilist fallen“, so das Protokoll I Artikel 50 (3), „nimmt dieser Population nicht ihren zivilen Charakter.“

Nicht nur wurden diese Prinzipien erneut verletzt in den gegenwärtigen Kämpfen – und die israelische Regierung hat, im vollen Bewusstsein dieses Sachverhalts, ihre Verteidigung vor dem internationalen Untersuchungsausschuss des UN-Menschenrechtsrats wie auch dem Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC) sorgfältig vorbereitet, falls die Palästinensische Regierung sich an diese wenden sollte –, sondern es wurde darüber hinaus auch eine zusätzliche Doktrin intendierter Unverhältnismäßigkeit erklärt und durchgeführt: die sog. Hannibal-Doktrin. Diese besagt, dass, wenn ein israelischer Soldat gefangen genommen wird, seine Rettung zur Haupt-Mission wird, unabhängig davon, wie viele Zivilisten dabei getötet oder verwundet werden durch versehentliches Feuer (friendly fire). Als dann – fälschlich, wie sich herausstellte - angenommen wurde, dass ein israelischer Soldat von der Hamas im Gebiet von Rafah gefangen genommen worden war, kam das gesamte Gebiet unter massives israelisches Artilleriefeuer und Luftschläge, in denen Hunderte von Gebäuden zerstört und mindestens 130 Menschen getötet wurden.

Die Verletzungen der Prinzipien der Unterscheidung und der Verhältnismäßigkeit stellen schwerwiegende Brüche des internationalen Rechts dar – und wir können uns unschwer vorstellen, was Staaten tun würden, wenn diese aus dem Rechtssystem eliminiert oder signifikant verwässert würden. Aber dies ist genau das, worauf Israel abzielt. Man benutzt die Palästinenser als Versuchskaninchen in einer kühnen und aggressiven Strategie, das internationale Recht „instand zu setzen“, man möchte neue Kategorien von Kombattanten erschaffen – „nicht-legitime Akteure“, wie z.B. „Terroristen“, „Aufständische“ und „nicht-staatliche Akteure“, zusammen mit der diese unterstützenden zivilen Bevölkerung –, sodass jeder, der sich staatlicher Repression widersetzt, nicht länger Schutz für sich reklamieren kann. Dies ist von besonderer Relevanz, wenn, wie der britische General Rupert Smith uns gegenüber erwähnt, die moderne Kriegführung sich von dem traditionellen zwischenstaatlichen Modell entfernt hin zu dem, was er ein „neues Paradigma“ nennt: „Krieg innerhalb der Bevölkerung“, in dem „wir mitten unter der Bevölkerung und nicht auf dem Schlachtfeld kämpfen.“ Ein populärerer Begriff, den Militärs verwenden, die „asymmetrische Kriegsführung“, ist vielleicht ehrlicher und enthüllender, da er auf den gewaltigen Unterschied zwischen den Machtmitteln von Staaten und ihrem Militär und der relativen Schwäche der ihnen entgegen tretenden nicht-staatlichen Akteure hinweist.

Aber „das Volk“, diese lästigen „nicht-staatlichen Akteure“, hat ebenfalls Rechte. Bereits 1960 billigte die Erklärung der UN-Vollversammlung zur Gewährung der Unabhängigkeit für koloniale Länder und Bevölkerungen das Recht der Völker auf Selbstbestimmung und, im Anschluss daran, deren Recht auf Widersand - selbst mit bewaffneten Kräften - gegen „fremde Unterjochung, Beherrschung und Ausbeutung.“ Das Ziel des über die Jahre – und sicherlich seit dem 11. September – dagegen erfolgten Widerstands seitens der Regierungen, geführt von den USA und Israel, ist dabei die De-Legitimierung des Rechts der nicht-staatlichen Akteure, Widerstand gegen Unterdrückung leisten zu dürfen. Wenn also Obama oder die EU auf Israels Recht auf Selbstverteidigung bestehen, betrachten sie das Recht eines besetzten Volkes, sich selbst zu verteidigen, nicht als Bestandteil eben dieses Rechts. Stattdessen werden nicht-staatliche Akteure als „Terroristen“ klassifiziert, (die Kategorie, unter der Israel alle Aufständischen, Revolutionäre und in der Folge alle gegen die bestehenden Mächte Protestierenden fasst), wodurch diesen jegliche Legitimität als an einem Konflikt Beteiligte, mit denen Verhandlungen möglich sind, abgesprochen wird. Wenn sie den Schutz des internationalen Rechts suchen, wie es die Bevölkerung Gazas tat, und Schritte unternehmen, um staatliche Akteure für deren illegale Handlungen zur Verantwortung zu ziehen, dann unternehmen sie etwas, das Israel als „juristische Kriegführung“ („lawfare“) bezeichnet: Terroristen setzen das internationale Recht ein als Waffe gegen Demokratien. Israels Kampagne gegen „Lawfare“ versucht natürlich, nicht-staatliche Akteure als Schurken darzustellen, aber der Begriff beschreibt am treffendsten Israels eigenes Bemühen, das HVR seinen Bedürfnissen entsprechend zu verbiegen – eine Art asymmetrische „juristische Kriegführung“ zur Beseitigung aller Einschränkungen für Staaten bei der Kriegführung gegen Bevölkerungen.

Israels Lawfare-Kampagne wird angeführt von zwei Israelis. Einer ist Asa Kasher, ein Professor der Philosophie und angewandter Ethik an der Tel Aviv University, der Autor des Verhaltenskodexes für die israelische Armee. In der Tat liefert die Eingliederung eines professionellen Ethikers in die israelischen Streitkräfte die Grundlage für Israels oft verkündeten Anspruch auf die „moralischste Armee der Welt“. Die zweite Person ist Generalmajor Amos Yadlin, ehemaliger Leiter des National Defense College der israelischen Streitkräfte, unter dessen Schirmherrschaft Kasher und sein „Team“ den Verhaltenskodex formulierten, und heute der Leiter der militärischen Aufklärung.

Laut Kashers resolut vorgetragener Behauptung ist es vollständig angemessen und verständlich, dass Israel die Kampagne zur Beseitigung der Schutzrechte von nicht-kämpfenden Zivilisten anführt. Er sagt:

„Die entscheidende Frage ist, wie aufgeklärte Länder sich aufführen. Wir in Israel befinden uns in einer Schlüsselposition bei der Entwicklung des Rechts in diesem Bereich, weil wir an vorderster Front im Kampf gegen den Terrorismus stehen. Dies wird allmählich anerkannt, sowohl innerhalb des israelischen Rechtssystems wie auch außerhalb…Was wir machen ist dabei Gesetz zu werden. Dies sind Konzepte, die nicht rein legal sind, aber doch starke ethische Elemente enthalten.

Die Genfer Konventionen basieren auf hunderten von Jahren der Tradition fairer Regeln für einen Kampf. Sie waren angemessen für die klassische Kriegführung, in der eine Armee eine andere bekämpfte. Aber in unseren Zeiten sind all diese Regeln für einen fairen Kampf verdrängt worden. Es sind internationale Bestrebungen im Gange, diese Regeln zu revidieren und dem Kampf gegen den Terrorismus anzupassen. Gemäß der neuen Bedingungen gibt es immer noch eine Unterscheidung, wer angegriffen werden kann und wer nicht, aber nicht länger in der marktschreierischen Herangehensweise, die in der Vergangenheit existierte. Das Konzept der Verhältnismäßigkeit ist ebenfalls geändert worden …

Ich bin nicht optimistisch genug um anzunehmen, dass die Welt sehr bald Israels Führung bei der Entwicklung des herkömmlichen internationalen Rechts anerkennen wird. Meine Hoffnung ist, dass unsere Doktrin, mit mehr oder weniger Änderungen, in ihrer Art in das herkömmliche internationale recht eingegliedert wird, um die Kriegführung zu regulieren und ihre Schäden zu begrenzen.“


Um eine philosophische Basis für die Unterminierung der Prinzipien der Unterscheidung und der Verhältnismäßigkeit zu liefern, präsentieren Kasher und Yadlin eine „neue Doktrin militärischer Ethik“, die auf ihrer Version einer „Doktrin des gerechten Kriegs im Kampf gegen Terror“ basiert. Im Grunde privilegieren sie Staaten in deren Konflikten mit nicht-staatlichen Akteuren, indem sie ersteren die Autorität zugestehen, einen Gegner zum „Terroristen“ zu erklären, ein Begriff, dem es an jedweder anerkannter Definition im HVR mangelt, wodurch er jegliche rechtliche Schutzfunktion verliert. Die beiden definieren „einen terroristischen Akt“

„als einen Akt, ausgeführt von Individuen oder Organisationen, nicht im Auftrag irgendeines Staates, zum Zwecke der Tötung oder sonstigen Verwundung von Personen, insoweit diese Mitglieder einer spezifischen Bevölkerung sind, um Furcht unter den Mitgliedern dieser Bevölkerung zu erzeugen (sie zu ‚terrorisieren‘) , um sie dadurch zu veranlassen, die Beschaffenheit des entsprechenden Regimes oder der entsprechenden Regierung oder die von den entsprechenden Institutionen veranlassten Maßnahmen, sei es aus politischen oder ideologischen (inklusive religiösen) Gründen, zu ändern.“

Wenn wir die Worte „nicht im Auftrag eines Staates“ entfernen, entspricht diese Definition eines Terroristen genau der Dahiya Doktrin Israels. Laut Generalmajor Giora Eiland werden Angriffe auf Israel abgeschreckt durch Schädigung „der Zivilbevölkerung in einem derartigen Ausmaß, dass dadurch Druck auf die feindlichen Kämpfer ausgeübt wird.“ Wenn man den Volksaufstand auf eine Serie einzelner Handlungen reduziert, wird es schließlich möglich, eine ganze Widerstandsbewegung als „terroristisch“ zu bezeichnen, gestützt lediglich auf eine oder mehrere individuelle Handlungen, ohne Bezugnahme auf deren Situation oder die Berechtigung ihres Anliegens. Ist dies erst einmal geschafft, fällt es leicht nicht-staatlichen Widerstand zu kriminalisieren, da Terrorismus, in Kashers Worten, „vollständig unmoralisch“ ist.

Israels Versuche, die iranischen Revolutionsgarden zu einer „terroristischen Organisation“ zu erklären, obwohl es sich dabei um eine staatliche Organisation handelt, zeigt, wie tendenziös Kashers und Yadlins philosophische Definitionen sind, da sie nicht in ihre ur-eigene „staatlich/nicht-staatlich“ Dichotomie passen. Was sollte denn z.B., die internationale Gemeinschaft davon abhalten, die Israelischen Streitkräfte und verschiedene verdeckte israelischen Institutionen wie den Mossad oder Shin Bet (der israelische Verfassungsschutz) als „terroristische Organisationen“ zu bezeichnen? Der Goldstone-Bericht selbst schlussfolgerte, dass Israels Offensive gegen Gaza während der Operation Gegossenes Blei „einen absichtlich unverhältnismäßigen Angriff zum Zweck der Bestrafung, Demütigung und Terrorisierung einer zivilen Population“ darstellte.

Nachdem sie staatlich definierte „terroristische Handlungen“ de-legitimiert haben, gehen Kasher und Yadlin weiter und legitimieren staatliche Maßnahmen, wie die von Israel gegen die Hisbollah, Hamas oder praktisch den gesamte palästinensische Widerstand durchgeführten, indem sie sich auf „Selbstverteidigung“ berufen – wiederum eine Forderung, die, gemäß der Theorie des Gerechten Kriegs und Artikel 51 der UN-Charta, nur ein Staat erheben kann. Zu diesem Zweck beginnen sie die Erzählung der Ereignisse, die zu den Angriffen auf Gaza führten, mit spezifischen Handlungen, die „terroristische“ Organisationen begangen hatten durch das Abfeuern von Raketen auf Israel, aber ohne überhaupt Bezug zu nehmen auf 47 Jahre Besatzung, 25 Jahre Abriegelung, sieben Jahre eines - in eigenen Worten - Regimes des Teil-Aushungerns und der Attacken auf Hamas, die dem Raketenbeschuss vorausgingen , oder dem Recht der Palästinenser sich „fremder Unterjochung, Beherrschung und Ausbeutung“ zu widersetzen.

Kasher und Yadlin implizieren ferner, dass Staaten keinen Terrorismus begehen können – lediglich weil sie Staaten sind, die über ein „legitimes Gewalt-Monopol“ verfügen. Allerdings verblasst der nicht-staatliche „Terrorismus von unten“, der sie so besorgt macht, fast vollständig, wenn man ihn mit dem „Terrorismus von oben“ vergleicht, dem Staats-Terrorismus. In seinem Buch „Tod durch die Regierung“ weist R.J. Rummels darauf hin, dass in Verlauf des 20. Jahrhunderts ungefähr 170.000 unschuldige Zivilisten durch nicht-staatliche Täter getötet wurden, sicherlich eine beträchtliche Anzahl. Aber er fügt hinzu:

„Während der ersten achtundachtzig Jahre dieses (20.) Jahrhunderts wurden beinahe 170 Millionen Männer, Frauen und Kinder erschossen, geschlagen, gefoltert, erstochen, verbrannt, verhungert, erfroren, zerschmettert, durch Arbeit getötet, lebendig begraben, ertränkt, aufgehängt, bombardiert oder auf irgendeine andere der Myriaden von Arten getötet, in denen Regierungen den Tod herbeigeführt haben von unbewaffneten, hilflosen Bürgern und Ausländern. Es könnte sich dabei um beinahe 360 Millionen Tote handeln.“

Und das erfasst noch nicht einmal Zaire, Bosnien, Somalia, Sudan, Ruanda, Saddam Husseins Regime, die Auswirkungen der UN-Sanktionen auf die irakische Zivilbevölkerung, und andere staatlich geförderte Morde, die erst passierten, nachdem Rummels seine Zahlen zusammengestellt hatte (das Buch erschien 1994!). Auch nicht berücksichtigt sind all die Formen des Staats-Terrorismus, die nicht zum Tod führen: Folter, Haft, Unterdrückung, Hauszerstörungen, gezieltes Aushungern, Einschüchterungen und der ganze Rest.

„Wir bestreiten nicht“, so räumt Kasher ein, „dass ein Staat Handlungen mit dem Ziel der Tötung von Personen durchführen kann, um auf diese Weise eine Bevölkerung zu terrorisieren zum Erreichens eines politischen oder ideologischen Ziels.“ Allerdings fügt er hinzu:

„Wenn solche Handlungen im Auftrag eines Staates ausgeführt werden, oder durch eine seiner öffentlichen oder geheimen Institutionen oder Bevollmächtigten, wenden wir bei dem sich ergebenden Konfliktfall moralische, ethische und rechtliche Prinzipen an, die gemeinhin bei gewöhnlichen internationalen Konflikten zwischen Staaten oder vergleichbaren politischen Einheiten akzeptiert sind. In einem derartigen Kontext würde ein Staat, der zahlreiche Bürger eines anderen Staates zum Zweck der Terrorisierung von dessen Bevölkerung tötet, sich dessen schuldig machen, was gewöhnlich als Kriegsverbrechen bezeichnet wird.“ (Hervorhebung d. den Autor.)

Kashers Vorbehalt – „ein Staat der zahlreiche Bürger eines anderen Staates zum Zweck der Terrorisierung von dessen Bevölkerung tötet“ – vermeidet jeden Bezug auf einen Staat, der seine eigenen Bürger terrorisiert, und entlässt damit Israel aus der Verantwortung , da es sich bei der terrorisierten Bevölkerung von Gaza nicht um Bürger eines anderen Staates handelt.

Israels Strategie der juristischen Kriegführung (lawfare) basiert auf dem Wiederholen illegaler Handlungen, während diese gleichzeitig mit einer „neuen militärischen Ethik“ gerechtfertigt werden.

„Wenn man etwas lange genug durchführt“, so der Oberst (d. R.) Daniel Reisner, ehemaliger Leiter der Rechtsabteilung der israelischen Streitkräfte, „wird es die Welt akzeptieren. Das gesamte internationale Recht basiert mittlerweile auf der Vorstellung, dass eine Handlung, die heute verboten ist, erlaubt wird, wenn sie von genügend anderen Staaten durchgeführt wird … Das internationale Recht schreitet durch solche Verletzungen voran. Wir erfanden die These der gezielten Tötungen [dass außergerichtliche Tötungen erlaubt sind, wenn dies zum Stoppen einer bestimmten Operation gegen die Bürger des Staates Israel erforderlich und die Rolle des Getöteten entscheidend für das Gelingen dieser Operation ist] und wir mussten das durchdrücken. Acht Jahre später ist diese These voll innerhalb des rechtlichen Rahmens.“

„Je öfter die westlichen Staaten Prinzipien anwenden, die aus Israel stammen, in ihren eigenen nicht-traditionellen Konflikten in Orten wie z.B. Afghanistan und Irak“, sagt Kasher, „desto größer ist die Chance, dass diese Prinzipien ein wertvoller Teil des internationalen Rechts werden.“

Vor ein paar Jahren (2005) veröffentlichte die Jerusalem Post ein aufschlussreiches Interview mit einem israelischen „Experten für internationales Recht“, der es vorzog anonym zu bleiben. Er erklärte:

„Internationales Recht ist die Sprache der Welt und mehr oder weniger der Maßstab, an dem wir uns heute messen. Es ist die lingua franca der internationalen Organisationen. Also muss man das Spiel mitspielen, wenn man ein Mitglied der Weltgemeinschaft sein will. Und das Spiel funktioniert folgendermaßen. So lange wie man behauptet, dass man innerhalb des internationalen Rechts vorgeht und man ein vernünftiges Argument, warum das, was man tut, innerhalb des Kontextes des internationalen Rechts liegt, parat hat, so lang hat man keine Probleme. So funktioniert das. Das ist eine sehr zynische Ansicht darüber, wie es in der Welt zugeht. Also, sogar wenn man erfinderisch tätig ist, oder sogar wenn man ein bisschen radikal tätig ist, so lange man es in diesem Kontext erklären kann, werden die meisten Länder nicht sagen, man sei ein Kriegsverbrecher.“

Das ist nun erneut starker Tobak. Genauso wie Israel seine Besatzung exportiert – seine Waffen und Taktiken der Unterdrückung – an willige Kunden wie US- und europäische Militärs, Sicherheits-Agenturen und Polizeikräfte, so exportiert es seine juristische Fachkenntnis beim Manipulieren des HVR und seine effektiven hasbara-Techniken [3]. Gaza selbst stellt wenig mehr dar als ein Testgebiet für diese verschiedenen Instrumente zur Unterdrückung Gazas. Die Globalisierung von Gaza bildet den entscheidenden israelischen Export. Exportprodukte benötigen nun allerdings Handelnde vor Ort zur Verpackung des Produkts und zur Schaffung eines Markts in der jeweiligen Wirtschaft vor Ort. So verbreitete B’nai Brith [4] in den USA „Lawfare-Projekt“ unter dem Slogan „Schutz vor der Politisierung der Menschenrechte“, dessen Hauptstrategie darin besteht, prominente Rechtsexperten zu gewinnen für die De-Legitimierung von Bestrebungen, Israel für seine Verbrechen nach dem HVR zur Verantwortung zu ziehen.

Die Globalisierung von Gaza macht sowohl in militärischer als auch in rechtlicher Hinsicht, den Slogan „Wir sind alle Palästinenser“, einem Appell der politischen Solidarität, zu einer Aussage, die im Wortsinn zutrifft. Ihre logische Konsequenz weist darüber hinaus auf ein Schlüsselelement der internationalen Politik hin, dessen wir uns genau bewusst sein müssen: Unsere Regierungen sind alle Israel.

[Übersetzung aus dem Englischen: Eckart Fooken]

Anmerkungen (AGF):
  1. Das Humanitäre (Kriegs-)Völkerrecht handelt vom ius in bello, das heißt von den verbindlichen rechtlichen Regeln der Kriegführung. Sie sind in der Haager Landkriegsordnung sowie in den verschiedenen Genfer Konventionen (Rotkreuz-Abkommen) enthalten.
  2. Lawfare wurde in bewusster Anlehnung an den Begriff „warfare“ (Kriegführung) kreiert und bedeutet so etwas wie Rechtsanwendung. Der Begriff wird im vorliegenden Text entweder mit „juristische Kriegsführung“ übersetzt oder einfach beibehalten.
  3. Das hebräische Wort hasbara (deutsch etwa: „Erklärung“, „Begründung“) bezeichnet in etwa das, was gemeinhin unter Public Relations oder staatlicher Propaganda verstanden wird. Es geht also um die Vermittlung eines positiven Bildes Israels im Ausland.
  4. B’nai B’rith (Hebräisch בני ברית; deutsch „Söhne des Bundes“) ist eine jüdische Organisation mit rund 500.000 Mitgliedern in 60 Staaten. Sie geht auf eine im Jahre 1843 in New York als geheime Loge von zwölf jüdischen Einwanderern aus Deutschland gegründete geheime Loge zurück. Laut Selbstdarstellung widmet sie sich der Förderung von Toleranz, Humanität und Wohlfahrt. Zentraler Sitz ist Washington.
* Jeff Halper ist Vorsitzender des Israelischen Komitees gegen Hauszerstörungen (Israeli Committee Against House Demolitions-ICAHD.

Originalartikel: Globalizing Gaza. How Israel Undermines International Law Through "Lawfare".
Veröffentlicht am 18. August 2014 in: Counterpunch; www.counterpunch.org [externer Link]



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