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"Wir sind keine Kanonenkugeln"

Kriegsdienstverweigerer in Israel

Von Celestine Hassenfratz und Ulla Scharfenberg, Tel Aviv *

Die Jugend in Israel ist kurz. Direkt nach dem Schulabschluss müssen die jungen Männer und Frauen zur Armee. Den Wehrdienst zu verweigern, ist kaum möglich und gesellschaftlich nicht anerkannt.

Elf Jahre ist es her, dass Yoav Lewy sich eine Gefängniszelle mit 20 anderen Menschen teilte. Seine Erinnerung an die Urteilsverkündung ist klar und genau: Es ist der 9. Dezember 2003, ein Dienstag, kurz vor Chanukka. Yoav trägt ein Barett und seine olivgrüne Militäruniform. An der Wand hängt eine weiß-blaue Israelflagge. Ihm gegenüber sitzt ein hochrangiger Militäroffizier. Er will wissen, warum Yoav sich nicht für den Reservedienst einziehen lassen will, so wie es das Gesetz für Männer bis 40 Jahre in Israel vorsieht.

Der Militärdienst ist in Israel Pflicht: Männer müssen drei Jahre, Frauen 20 Monate zur Armee. Seit der Gründung des Staates Israels 1948 wurden nur wenige von der allgemeinen Wehrpflicht ausgenommen: ultra-orthodoxe Juden und Jüdinnen, die sich stattdessen dem Thora-Studium widmen, die palästinensische Bevölkerung sowie schwangere und verheiratete Frauen.

»Ich wollte schon in der Israeli Defense Force dienen«, erzählt Yoav, der seit neun Monaten in Leipzig lebt, heute: »Aber ich möchte in keiner Mission in den besetzten Gebieten eingesetzt werden.« Warum Yoav den Militärdienst politisiere, wollte der Offizier damals von ihm wissen. Nicht er sei es, der politisiert – sondern die Regierung Israels, indem sie die Soldaten in die besetzten Gebieten schickt, antwortete Yoav. Es sollte sein erster Reservedienst sein. Dreieinhalb Jahre beim Militär hatte er bereits hinter sich. Freiwillig hatte er damals sogar ein halbes Jahr verlängert. Er fühlte sich wohl in seiner Einheit, ist stets allen Anweisungen der Vorgesetzten gefolgt, sagt Yoav. Als Combat Engineer, Schlachtfeld-Techniker, war er in Gaza, Ramallah und anderswo auf der Westbank stationiert.

»Als Soldat bist du wie eine Kanonenkugel, sie feuern dich ab, und du, du kannst nichts daran ändern«, sagte ein Freund damals zu ihm. »Das stimmt nicht, wir sind keine Kanonenkugeln, wir behalten trotzdem unseren freien Willen«, sagt Yoav heute. Der junge Mann ist breitschultrig, kräftig gebaut, jemand, dem man abnimmt, dass er für seine Überzeugungen einsteht.

Israel ist seit seiner Gründung 1948 im Ausnahmezustand: Checkpoints, Sicherheitsüberprüfungen in jedem öffentlichen Gebäude, erste Intifada, zweite Intifada, Raketen aus Gaza, Raketen auf Gaza. Ein Land, das den Ausnahmezustand als Normalität in den Alltag integriert hat. Soldaten und Soldatinnen in ihren khakifarben Uniformen prägen das öffentliche Bild in dem Land mit 7,9 Millionen Einwohnern, das etwa die Größe Hessens hat. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung für Männer ist in Israel gesetzlich nicht anerkannt, Frauen wird es nach dem Nationalen Verteidigungsdienstgesetz nur teilweise gewährt.

Verweigerer, deren Anträge abgelehnt wurden, müssen in Beugehaft. Ändern sie ihre Meinung nicht, kommen sie erneut ins Gefängnis. Aktuell macht der Fall des Kriegsdienstverweigerers Omar Saad Schlagzeilen. Der 18-Jährige wurde deshalb im April bereits zum siebten Mal inhaftiert. Seine Gesamtstrafe beträgt mittlerweile 160 Tage.

»In Israel wächst man in einer Gesellschaft auf, die dem Militär gegenüber sehr loyal ist. Auch ich bin es. Ich war und bin immer noch stolz, in der IDF gewesen zu sein, aber eben nicht in der IOF – Israeli Occupied Force«, sagt Yoav und meint damit die Militäraktionen der Armee in den seit 1967 besetzten Gebieten.

Das Recht, den Wehrdienst zu verweigern, wird seit 1987 von der Vollversammlung der UN als Menschenrecht anerkannt. Israel gewährt es nicht. Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International prangern das seit Jahren an. Wer in Israel verweigern will, muss beweisen, dass er Pazifist ist.

Oder es so anstellen wie Tomer, der eigentlich anders heißt, aber seinen Namen hier nicht lesen möchte. Denn das, was er gemacht hat, ist nicht ganz legal, erzählt er. Eines Morgens lag der Einberufungsbescheid in seiner Post. Tomer war gerade 17 Jahre alt geworden, zehn Jahre sind seitdem vergangen. Bei der Musterung absolvierte er Intelligenztests, führte lange Gespräche mit Offizieren. »Ich habe mich einfach sehr blöd angestellt bei den ganzen Tests, immer die falschen Antworten angekreuzt und versucht, den schlechtesten Eindruck zu hinterlassen, den es gibt«, erinnert sich Tomer. »Ich habe ihnen nicht den wahren Grund gesagt, warum ich nicht in der IDF dienen möchte.« Tomer sieht den israelischen Staat als kolonialistisches Projekt an. Von diesem möchte er kein Teil sein.

Tomer versuchte, die Offiziere davon zu überzeugen, dass bei ihm eine mentale Störung vorliege, er vielleicht ein bisschen verrückt sei. So machen es die meisten anderen auch, die den Militärdienst umgehen möchten, erzählt er. Der Armeedienst ist für ihn nie in Frage gekommen. Von klein auf lebte er in einem politisch linken Elternhaus, Mutter und Vater haben den Militärdienst verweigert.

Den Einfluss des Militärs auf die israelische Gesellschaft sieht Tomer kritisch: Schon im Kindergarten würden die Jüngsten an die Armee gewöhnt. Erinnert sich Tomer an seine Schulzeit, denkt er an Schulstunden mit zionistischem Lehrinhalt, einmal pro Woche, und an den alljährlichen Besuch einer Militärbasis. Der Gipfel dieses Militärvorbereitungsprogramms, wie Tomer es nennt, ist das Gadna, eine Art Erziehungslager zur Vorbereitung auf den Dienst in der Armee.

Dass ihm Nachteile im Berufsleben entstanden sind, weil er keinen Armeedienst geleistet hat, glaubt Tomer nicht. In Vorstellungsgesprächen gibt er immer an, er sei aufgrund familiärer Probleme nicht beim Militär gewesen, politische Diskussionen vermeidet er damit. Berufe in Militär, Industrie und Sicherheitsbereich seien ihm freilich verschlossen, auch regierungsnahe Tätigkeiten, das weiß er. Dass man aber gar keinen Job findet, wenn man nicht in der IDF war, ist ein Mythos, der gerne von den Lehrern in der Schule verbreitet wird, sagt Tomer.

Wie stark der Einfluss des Militärs auf die Gesellschaft in Israel tatsächlich ist, erforscht die Soziologin Orna Sasson-Levy an der Bar-Ilan-Universität in der Nähe von Tel Aviv. Sie ist sich sicher, dass das Militär Einfluss auf die Schulausbildung nimmt, um die Armee attraktiver zu machen. Sasson-Levy erklärt, dass die nationale Identität in Israel eine männliche ist, die stark vom Bild eines Kampfsoldaten in der israelischen Armee und somit guten Bürgers geprägt ist.

Sasson-Levy beschreibt das israelische Militär als eine Armee von Menschen, die dem Staat Israel dienen und ein Gefühl der Zugehörigkeit und Loyalität zum Staat sicherstellen. Dass diese Weichen bereits in Kindheit und Bildungssystem gestellt würden, erleichtere es Israelis, sich ihrer nationalen Identität sicher zu sein, und dem vorgegebenen Weg zu folgen. Oder eben zu hinterfragen, auszubrechen, die Stimme zu erheben und für die eigene Überzeugung einzustehen, wie Yoav es getan hat.

Zu 35 Tagen in Atlit, einem Militärgefängnis im Norden Israels, nahe der Küstenstadt Haifa, verurteilte das Gericht Yoav damals. 35 Tage für seine Überzeugung. Aufgrund guter Führung durfte er vier Tage früher raus. Als Yoav im Gefängnis saß, hörte er von der Bewegung »Courage to refuse«, einer Initiative von israelischen Offizieren, die sich in einem offenen Brief weigern, Teil von Missionen in besetzten Gebieten zu sein. Die Mitglieder der Bewegung, 623 sind es bislang, die bei »Courage to refuse« unterschrieben haben, sind ein kleiner Teil der israelischen Gesellschaft. Wie viele Kriegsdienstverweigerer, »Refuniks« genannt, es in Israel wirklich gibt, ist nicht herauszufinden. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Was würde passieren, wenn sich alle weigerten, in den besetzten Gebieten zu dienen, haben Yoavs Freunde ihn gefragt. »Ganz einfach«, sagt Yoav, » es gäbe keine Besetzung mehr.«

* Aus: neues deutschland, Dienstag 5. August 2014


Verweigerung light

Immer mehr Reservisten lehnen den Dienst im gegenwärtigen Krieg ab – meistens aus »beruflichen Gründen«

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv **


Seit Beginn des Krieges im Gazastreifen demonstriert ein großer Teil der Öffentlichkeit Unterstützung: für das militärische Vorgehen und die Solidarität mit den Reservisten, die einberufen wurden. Über ein anderes Ergebnis des Krieges sprechen Militär und Regierung dagegen nicht gerne: Auf Fragen nach den Auswirkungen auf die Zahl der Kriegsdienstverweigerer, derjenigen, die sich vom Reservedienst freistellenlassen, wird jeder Kommentar verweigert.

Denn diese Zahlen haben es in sich: Nach Angaben von Mitarbeitern der Militärstaatsanwaltschaft ist die Zahl der Wehrpflichtigen, die aus Gewissensgründen den Militärdienst verweigern, ebenso gestiegen wie die Zahl derjenigen, die eine Befreiung aus physischen oder psychischen Gründen anstreben. Letzteres ist in Israel die »Light-Variante« der Wehrdienstverweigerung.

Denn eine Möglichkeit, ersatzweise einen Zivildienst abzuleisten, gibt es für jüdische, säkulare Wehrpflichtige nicht. Wer aus Gewissensgründen verweigert, muss so lange ins Militärgefängnis, bis er sich zum Wehrdienst bereit erklärt. Frauen mit Familie können sich allerdings freistellen lassen, und auch die meisten ultraorthodoxen Juden können – obwohl es darum eine jahrelange, sehr scharf geführte Debatte gab – nach wie vor dem Militärdienst entgehen, wenn sie an einer Religionsschule studieren. Inoffiziellen Zahlen zufolge dienen mittlerweile 27 Prozent der Wehrpflichtigen nicht mehr beim Militär. Vor zwei Jahren waren es noch 24 Prozent.

Bei Reservisten dagegen läuft die Verweigerung weniger offensichtlich ab: Man lässt sich aus beruflichen Gründen für unabkömmlich erklären. Aber mehrmals machten auch Reservisten ihre Ablehnung des Krieges in offenen Briefen deutlich. Und auch Jugendliche stehen zunehmend offen zu ihrer Verweigerung und können dabei, obwohl sie in der breiteren Gesellschaft oft stigmatisiert werden, mit Unterstützung durch Gleichgesinnte rechnen. Selbst einen Job zu finden, ist heute leichter geworden: Eine große Zahl von Unternehmen wird heute von Kriegsdienstverweigerern geführt.

Auch der Umgang des Militärs mit den eigenen Soldaten wird hinterfragt. Mitten im Krieg wurde bekannt, dass die »Hannibal-Doktrin« wieder belebt wurde: Ihr zufolge sollen Soldaten mit allen Mitteln vermeiden, dass Kameraden verschleppt werden – auch wenn dabei Soldaten und Unbeteiligte verletzt werden. Damit sollen künftige Gefangenenaustausche verhindert werden. Die Unterstützung für das Militär beruht aber auf dem Grundsatz, dass niemals ein Soldat zurückgelassen wird.

** Aus: neues deutschland, Dienstag 5. August 2014


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