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Warnschuss Netanjahus ins eigene Lager

Hamas bietet Waffenstillstand für die Dauer von zehn Jahren an – gegen eine Aufhebung der Seeblockade Gazas

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv *

Israels Premier Netanjahu hat den Vizeverteidigungsminister gefeuert, weil der eine Bodenoffensive gefordert hatte. Die Hamas hat derweil eine zehnjährige Waffenruhe angeboten.

Die Stimmung kippt, und sie kippt schnell. Eineinhalb Wochen nach Beginn der israelischen Luftangriffe auf den Gaza-Streifen, des täglichen, stündlichen Raketenbeschusses auf Israel haben die Menschen genug. In Gaza wird die Kritik an der Hamas immer lauter, geäußert von Menschen, die oft so wirken, als hätten sie sich in ihr Schicksal ergeben.

Wenn Israels Militär per Flugblatt, SMS oder Telefonanruf zum Verlassen der Häuser aufruft, Luftangriffe ankündigt, dann gehen nur noch wenige. Und das liegt nicht zuerst daran, dass die Hamas den Leuten regelrecht befiehlt, zu Hause zu bleiben, wohl in der Annahme, dass Israels Luftwaffe dann den Angriff abbricht. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass viele der Menschen die Angst vor dem Tode verloren haben. Man hat keinen Platz, wohin man fliehen könnte, keinen, wo das Leben besser wäre. Und vor allem: Es ist kein Ende in Sicht.

Auf der israelischen Seite ist die Wut ebenfalls groß; immer öfter ist zu hören, die Regierung zögere zu sehr, sie solle nun endlich ernsthaft verhandeln oder aber eine Bodenoffensive beginnen, denn von dort, wo Soldaten sind, so das Kalkül, könnten keine Raketen abgeschossen werden. Die psychischen Folgen sind immens: Die psychiatrischen Notdienste können den Ansturm der Patienten nicht mehr bewältigen; gut die Hälfte der Hilfesuchenden müsse derzeit abgewiesen werden, heißt es aus dem Ichilov-Krankenhaus in Tel Aviv. Diejenigen, deren Besitz getroffen wurde, müssen zudem die finanziellen Folgen stemmen – in einer Situation, die seit den Sozialprotesten vor einigen Jahren noch schlimmer geworden ist. Die Lebenshaltungskosten sind weiter gestiegen, die Arbeitslosigkeit auch. Zudem wurde im vergangenen Jahr das Kindergeld gekürzt. Israel könne sich diese Situation nicht leisten, mahnen mittlerweile hochrangige Vertreter von Finanzministerium und von Zentralbank.

Doch in Jerusalem verwahrt sich Regierungschef Benjamin Netanjahu derzeit gegen jede Form von Debatte oder Kritik. So feuerte der Premier am Mittwoch den stellvertretenden Verteidigungsminister Danny Danon, der wie er selbst dem Likud-Block angehört. Danon hatte zuvor in einem Interview gesagt, die Hamas habe Israel »gedemütigt«. Ein Waffenstillstand sei der falsche Weg; Israel müsse nun endlich zur Bodenoffensive übergehen.

Mitarbeiter des Ministerpräsidenten wollen die Kündigung als Warnschuss verstanden wissen. Denn auch Handelsminister Naftali Bennett und Außenminister Avigdor Lieberman sparen weiterhin nicht mit Kritik. Es sei möglich, dass Netanjahu schlicht die Koalition aufkündige und stattdessen eine Regierung mit der Arbeitspartei und den ultraorthodoxen Parteien bilde. Die wären dazu auch durchaus bereit – wenn Netanjahu die Rechten los werde, und darüber hinaus sofortige, ernsthafte Verhandlungen über einen Waffenstillstand aufnehme, heißt es aus allen drei Parteien. Eine Zustimmung zu einer Bodenoffensive schließen sie aus.

Mittlerweile gesteht man auch im Umfeld Netanjahus ein, dass die Waffenruhe am Dienstag übereilt und schlecht geplant gewesen sei – eine indirekte Bestätigung für den Vorwurf der Hamas, die Verhandlungen über den ägyptischen Entwurf seien noch gar nicht ausgereift gewesen, als Kairo den Waffenstillstand am Montagabend angekündigt hatte.

Die Hamas legte am Mittwoch nun einen eigenen Vorschlag für eine Waffenruhe vor. Darin bietet die Organisation einen Waffenstillstand für die Dauer von zehn Jahren an. Die Seeblockade solle im Gegenzug aufgehoben, die Grenzen sollen geöffnet, die Gefangenen, die im Juni im Zuge der Militäroperation im Westjordanland von Israel inhaftiert worden waren, freigelassen werden. Man will internationale Beobachter zur Einhaltung der Waffenruhe in Gaza sowie des Gütertransports über die Land- und die Seegrenze.

In Israel zeigte man dem Vorschlag allerdings bislang die kalte Schulter. Internationale Beobachter lehne man ab. Dabei wird auf frühere Erfahrungen verwiesen. Nach der Räumung der Siedlungen im Gaza-Streifen waren an der Grenze zu Ägypten europäische Beobachter stationiert gewesen; als die Lage dort eskalierte, rückte das Personal allerdings ab. Bereits zuvor hätten die Beobachter den Schmuggel von Geld, vor allem aber Waffen durch palästinensische Kampfgruppen nicht verhindert.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 17. Juli 2014


Massenflucht in Gaza

Israel fordert eine Viertelmillion Palästinenser auf, ihre Häuser zu verlassen, um sie zerstören zu können. Publizist Todenhöfer kritisiert Kriegführung und Medienberichterstattung

Von Rüdiger Göbel **


Die israelische Regierung eskaliert ihren Krieg gegen die Palästinenser in Gaza immer weiter. Am Strand von Gaza wurden am Mittwoch vier Kinder getötet und mehrere weitere verletzt. Augenzeugen zufolge hatten sie Fußball gespielt. Nach den neuerlichen Luftangriffen auf den mit 1,8 Millionen Einwohnern dichtbesiedelten Küstenstreifen ist die Zahl der Toten bis Mittwoch nachmittag auf 214 gestiegen. Mehr als 1600 Menschen sind seit Beginn der Offensive am 8. Juli verletzt worden. Das von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu angeführte Kriegskabinett in Tel Aviv will die Attacken offensichtlich deutlich intensivieren. Mindestens eine Viertelmillion Palästinenser im nördlichen Gazastreifen wurde von der israelischen Armee dazu aufgefordert, ihre Wohnhäuser zu verlassen.

Der Aufruf zur Massenflucht nach nirgendwo – der Gazastreifen ist von der Außenwelt abgeriegelt – erfolgte durch automatisierte Telefonanrufe, SMS-Kurznachrichten und Flugblätter. Um der Forderung »Nachdruck« (dpa) zu verleihen, hat die israelische Armee am Mittwoch die fraglichen Gegenden um Beit Lahia, Sadschaija und Saitun mit Artillerie beschossen.

Der Telefonterror zeigte Wirkung: Bis zum Nachmittag hatten rund 21000 Menschen in Schulen des Hilfswerks der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge (­UNRWA) Zuflucht gesucht. Ob sie dort Schutz finden, ist fraglich, bei vergangenen Kriegen gegen die Bevölkerung des Gazastreifens hatte die israelische Führung auch Bildungseinrichtungen und Krankenhäuser bombardieren lassen. Das Innenministerium in Gaza warnte die Palästinenser Medienberichten zufolge, dem Fluchtaufruf Folge zu leisten. Die Nachricht der Israelis solle nur »Chaos und Verwirrung stiften«, hieß es laut dpa demnach in einer Mitteilung. Wie die Agentur unter Verweis auf den israelischen Rundfunk weiter meldete, sind mittlerweile mehrere zehntausend Palästinenser ohne Strom. Verantwortlich dafür seien aus Gaza abgefeuerte Raketen auf israelisches Gebiet, die zwei Leitungen beschädigt hätten. Nach Angaben des Militärs feuerten am Mittwoch militante Palästinenser insgesamt 42 Raketen auf Israel. Bei einem Angriff mit Mörsergranaten auf den Erez-Grenzübergang war am Dienstag erstmals ein Israeli getötet worden.

Der Publizist Jürgen Todenhöfer, der sich zur Zeit in Gaza aufhält, äußerte sich entsetzt über die israelische Kriegführung und die Berichterstattung in den deutschen Mainstreammedien. Schlagzeilen wie »Israel unter schweren Beschuß« stellten die Tatsachen auf den Kopf, kritisierte der frühere CDU-Politiker und langjährige Burda-Manager auf seiner Facebook-Seite. »Gaza liegt unter schwerem Beschuß!« Der Krieg sei ein »Gefecht David gegen Goliath«, so Todenhöfer. »Nur daß dieser David aus dem winzigen Gaza selten trifft. Und völlig chancenlos ist.« Die »sinnfreie Hamas-Ballerei« mit den »massiven mörderischen Raketenschlägen« der Israelis zu vergleichen, sei »vollkommen realitätsfremd«, die Beschießung Gazas »für jeden erkennbar maßlos«. Es sei eine Schande, wie die Welt zulasse, »daß die Wahrheit über diesen Krieg in fast grotesker Weise auf den Kopf gestellt wird«.

Die von Israel ins Feld geführte Begründung für die Offensive läßt Todenhöfer nicht gelten: »Wahrer Grund dieses massiven Bombenterrors ist nicht die weitgehend wirkungslose und dilettantische Schießerei der Hamas und des ›Islamischen Dschihad‹. Die ich ebenfalls ausdrücklich verurteile. Sie begann nach der Tötung von sechs Hamas-Kämpfern in Gaza und sechs palästinensischen Zivilisten in der Westbank.« Netanjahu wolle keinen Frieden mit den Palästinensern. »Jeder führende US-Politiker von Obama bis Kerry würde das resigniert bestätigen«, so Todenhöfer. »Netanjahu will vor allem kein freies, unabhängiges Palästina.«

** Aus: junge Welt, Donnerstag 17. Juli 2014


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