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Große Koalition rückt näher

Sozialdemokrat Letta soll in Italien die Regierung bilden

Von Anna Maldini, Rom *

Zwei Monate nach den Wahlen hat der italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano den Auftrag für die Regierungsbildung erteilt. Designierter Ministerpräsident ist Enrico Letta, bis vor wenigen Tagen stellvertretender Vorsitzender der Demokratischen Partei (PD).

Mit seinen 46 Jahren wäre Enrico Letta einer der jüngsten Regierungschefs in Europa, was nicht heißt, dass er politisch unerfahren wäre. Schon mit 32 Jahren war der in Pisa geborene Familienvater Industrieminister unter Massimo D'Alema. Jetzt soll Letta eine Regierung bilden, die sich auf eine Mehrheit aus Demokraten, der Berlusconi-Partei PdL und den Anhängern von Mario Monti stützt. Ob kleinere Parteien wie die neofaschistische Lega Nord ebenfalls zustimmen werden, bleibt abzuwarten. Die Partei Linke, Ökologie und Freiheit (SEL) und die Bewegung 5 Sterne (M5S) haben schon im Vorfeld erklärt, dass sie zu einer derartigen Koalition in die Opposition gehen werden.

Drei Punkte zählte Enrico Letta am Mittwoch in einer ersten Stellungnahme auf, an denen sich seine Exekutive ausrichten soll: Im Vordergrund steht das Kapitel »Arbeit und Entwicklung«. Vor allem die Jugendarbeitslosigkeit und die schwere Krise, in der die mittelständischen Betriebe des Landes stecken, will Letta angehen. An zweiter Stelle stehen die unbedingt notwendigen politischen Reformen: »Die Politik hat ihre Glaubwürdigkeit verloren«, sagte Letta, nachdem Präsident Giorgio Napolitano ihm den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt hatte, und kündigte eine Änderung des Wahlrechts, aber auch eine Verschlankung des Staates an. Weiter will die neue Regierung - wenn sie denn zustande kommt - starken Einfluss auf die EU-Politik nehmen. Der harte Sparkurs, der so viel Unheil angerichtet habe, solle einem Entwicklungskurs weichen. Letta erklärte, dass er sofort mit den Verhandlungen über die »Große Koalition« beginnen werde. Der Ausgang sei allerdings offen. Innerhalb von wenigen Tagen wolle er Napolitano mitteilen, ob er erfolgreich war und ihm eventuell die Ministerliste vorlegen. Sollte dies nicht der Fall sein - das hat Giorgio Napolitano auch gestern unterstrichen -, bleiben nur noch erneute Wahlen.

Tatsächlich sieht es aber so aus, als könne der junge Politiker Erfolg haben: Die Partei von Monti hat ihm bereits ihre volle Unterstützung zugesagt, während Berlusconi erklärte, dass er eine starke Regierung will, in der sich die Parteien mit ihren Spitzenvertretern engagieren und die mehrere Jahre im Amt bleiben kann. Auch wenn es absurd klingt, wird Letta möglicherweise die größten Schwierigkeiten in seiner eigenen Partei haben: Die PD ist nach wie vor zerstritten, auch wenn sie sich zuletzt mit großer Mehrheit für eine Regierung mit Berlusconi ausgesprochen hat. Ob dieser Entschluss Bestand hat und wie viele »Dissidenten« es tatsächlich gibt, wird sich möglicherweise erst bei der Vertrauensabstimmung im Parlament zeigen.

Enrico Letta ist ein guter Kandidat für eine »Große Koalition«. Er kommt aus der katholischen Volkspartei und gehörte 2007 zu den Mitbegründern der »Demokratischen«. Sein Onkel, Giovanni Letta, ist seit Jahrzehnten einer der engsten Mitarbeiter von Berlusconi. In der Wirtschaftspolitik gilt er als »gemäßigter Reformator«, der seit eh und je gute Beziehungen zu den europäischen Sozialdemokraten hat. Auf der anderen Seite könnte es ihm aber auch gelingen, die italienische Politik in jeder Hinsicht zu »verjüngen«. Zu seiner Ernennung im Quirinalspalast kam er mit seinem Privatwagen, einer Familienkutsche, in der man hinten die Kindersitze sah.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 25. April 2013


Alte Mächte

Von Katja Herzberg **

Mit seinen erst 46 Jahren könnte Enrico Letta als neuer Ministerpräsident einen Wandel in der italienischen Politik einleiten. Die vergreiste, volksferne, in Teilen auch korrupte - von Beppe Grillo schlicht zurecht verachtete - Politikerkaste im Belpaese scheint am Ende zu sein. Doch Letta ist Hoffnungsträger und Totengräber zugleich.

Er steht zwar für einen anderen Politikertypus, nicht aber für einen besseren. Es ist jener, den wir auch in anderen Ländern aufstreben sehen: Akademiker, möglichst der Politikwissenschaft, viel politische Erfahrung schon in jungen Jahren - entweder in Parteinachwuchsorganisationen oder auf EU-Ebene gesammelt - so arbeitet auch Letta an einer großen Karriere. Die will er sich nicht kaufen, er will überzeugen. Mit Programmen und Reformen, nicht mit Polemik. Ein erster Fingerzeig ist seine Ankündigung, gegen die Arbeitslosigkeit vorzugehen, aber auch seine Kritik am europäischen Sparkurs. Seine hehren Ziele will Letta aber offensichtlich in einer Großen Koalition umsetzen.

So lässt er sich doch von den alten Mächten in Rom leiten - von Präsident Giorgio Napolitano, der seit Monaten auf eine Große Koalition hinarbeitet, und Silvio Berlusconi, der in dieser seine letzte Chance aufs Mitregieren sieht. In einer solchen für Italien zwar neuen Konstellation aber würde nicht der Aufbruch, sondern weiterer Stillstand liegen.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 25. April 2013 (Kommentar)


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