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Montis Scherbenhaufen

Dank Euro und Sparpolitik erlebt Italien einen Abstieg ohnegleichen. Doch nach den Wahlen droht eine weitere Verschärfung

Von Raoul Rigault *

Viel Abwechselung hat die Propaganda des europäischen Establishments nicht zu bieten. »Europa ist auf einem guten Weg. Die Krise ist fast vorüber«, lautet die Leier, die Regierungschefs, EU-Kommission und EZB mit schöner Regelmäßigkeit anstimmen. Ein genauerer Blick auf den mit Abstand größten Krisenherd Italien belegt das Gegenteil. Nach einer Reihe von Hiobsbotschaften im Vorfeld der Parlamentswahlen Ende Februar sinkt der Stern des vor einem Jahr als Retter gefeierten Ministerpräsidenten Mario Monti nicht nur in der Wählergunst, sondern auch bei bürgerlichen Beobachtern aus dem Ausland. Maximal 15 Prozent der Italiener wollen seiner Neue-Mitte-Allianz ihre Stimme geben. Die Financial Times weiß warum: »Montis Behauptung, daß Licht am Ende des Tunnels zu sehen sei, wird von den letzten Wirtschaftszahlen kaum gestützt«

Tatsächlich ist die drittgrößte Volkswirtschaft der EU unter der Ägide des ehemaligen EU-Kommissars für Wettbewerb 2012 erneut um 2,3 Prozent geschrumpft. Seit Ausbruch der Krise 2008 hat sie insgesamt sieben Prozent eingebüßt. Die Industrieproduktion sank noch einmal um gut sechs Prozent und hat sich auf knapp drei Viertel ihres Wertes von 2008 reduziert. Trotz weiterer Ausgabenkürzungen und zusätzlicher Massensteuern macht die Staatsverschuldung nun 126,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. 6,6 Punkte mehr als vor einem Jahr. Entsprechend verheerend sind die Auswirkungen auf die Lohnabhängigen: Die Zahl der Erwerbslosen erhöhte sich 2012 um fast eine halbe Million. Damit stieg die offizielle Arbeitslosenrate auf 11,2 Prozent. Fast eine Verdoppelung verglichen mit den 6,5 Prozent Anfang 2008. Zugleich nahm die Kurzarbeit um zwölf Prozent zu und lag mit 1,1 Milliarden ausgefallener Stunden nur knapp unter dem historischen Höchststand von 2010. Besonders alarmierend ist die Jugendarbeitslosigkeit. 36,6 Prozent der 15- bis 24jährigen sind ohne Job und damit weiter von ihren Eltern und Großeltern abhängig. Deren Möglichkeiten werden allerdings auch immer geringer.

Die Kaufkraft der Familien sank 2012 laut der Statistikbehörde ISTAT um 4,4 Prozent. 2008 bis 2011 waren die Einkommen bereits um fünf Prozent geschrumpft. Dem Jahresbericht des Forschungsinstituts Censis zufolge ist das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen auf der Halbinsel seit 2007 auf das Niveau von 1993 zurückgefallen. Um trotzdem über die Runden zu kommen, haben 2,8 Millionen Familien in den letzten beiden Jahren buchstäblich ihr Tafelsilber oder andere wertvolle Habseligkeiten verkauft. 85 Prozent der Italiener haben ihren Konsum massiv eingeschränkt, und 73 Prozent verbringen einen Gutteil ihrer Freizeit mit der Jagd nach Sonderangeboten. Um 33,4 Milliarden Euro ging infolgedessen 2012 die private Nachfrage zurück. Pro Familie bedeutete das einen Konsumverzicht von 1.391 Euro allein in den vergangenen zwölf Monaten. Dafür verantwortlich ist nicht zuletzt die Art der Beschäftigung. Eine Untersuchung der Tageszeitung la Repubblica ergab, daß nur 41,6 Prozent der Beschäftigten ihre Arbeit als sicher betrachten. 32,2 Prozent halten sie für prekär, 16,2 für flexibel und zehn Prozent für nur zeitweilig.

Besserung ist nicht in Sicht. Der Chef des wichtigsten Unternehmerverbandes Confindustria, Giorgio Squinzi, erklärt ganz offen, daß ein Aufschwung Ende diesen Jahres »reines Wunschdenken« ist. Für 2013 sei mit einer weiteren Rezession von 0,6 Prozent zu rechnen. »Einen echten Aufschwung werden wir erst 2015 erleben.« Grund ist neben dem Einbruch der Binnennachfrage, auch wegen der Haushaltskürzungen und Steuererhöhungen, die mangelnde Konkurrenzfähigkeit der italienischen Wirtschaft angesichts des starken Euro und der Billigkonkurrenz aus Osteuropa. Eine vor wenigen Tagen veröffentlichte Studie der US-Bank Morgan Stanley kommt zu dem Schluß, daß Italien eine zehnprozentige Abwertung der Gemeinschaftswährung auf 1,19 Dollar je Euro benötigt. Die deutsche Industrie hingegen sei selbst bei einem Eurokurs von 1,53 Dollar noch wettbewerbsfähig. Die über einen langen Zeitraum angehäuften Versäumnisse bei Innovation und Investitionen bescheren dem Bel-Paese Jahr für Jahr heftige Außenhandelsdefizite. 2011 waren es 24,6 Milliarden Euro. Hauptnutznießer ist, wie nicht anders zu erwarten, die Bundesrepublik mit einem Plus von zuletzt 13,8 Milliarden Euro.

Um diesen Nachteil im Warenverkehr mit den USA, der Volksrepublik China und anderen Ländern auszugleichen, sind offene oder verdeckte Lohnsenkungen für Italiens Padroni das probateste Mittel. Dazu zählt auch die weitere Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Montis bisherige Politik genügt der Financial Times bei weitem nicht. Als eine »Blase« bezeichnet Kommentator Wolfgang Münchau dessen Amtszeit: »Seine Regierung hat bescheidene Strukturreformen versucht, die durch makroökonomische Bedeutungslosigkeit verwässert wurden.« Diese Posaunenstöße werden bei der zu erwartenden Koalition Demokratischer Partei, um deren Generalsekretär Piere Luigi, und Montis »Scelta Civica« nicht ungehört verhallen.

Mitte-Links-Regierungen waren in den letzten 25 Jahren in Rom immer die eifrigsten Kahlschläger. Den Fiskalpakt haben beide Parteien bereits zusammen durchgestimmt und damit Italien auf lange Zeit zu Kürzungen von mindestens 45 Milliarden Euro im Jahr verpflichtet. Die Magerkur geht weiter. Nur das Tempo wird sich erhöhen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 13. Februar 2013


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