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Kingstons Bewohner proben den Aufstand

Protest gegen Auslieferung in die USA

Von Hans-Ulrich Dillmann, Santo Domingo *

Ausnahmezustand in Jamaika: Bei schweren Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und bewaffneten Gangstern sind am Wochenende mindestens zwei Polizisten getötet und sechs weitere verletzt worden. Für die Hauptstadt und die angrenzende Provinz rief Regierungschef Bruce Golding den Ausnahmezustand aus.

Die Entscheidung der jamaikanischen Regierung barg Brennstoff: Zustimmung zur Auslieferung von Christopher »Dudus« Coke an die USA. Coke wird von den US-Behörden vorgeworfen, einer der Hintermänner des internationalen Drogenhandels zu sein. Die Reaktion der Anwohner von Cokes Viertel Tivoli Gardens folgte prompt: Straßenblockaden und Straßenschlachten mit der Polizei, die sich in andere Stadtteile Kingstons und Umgebung ausbreiteten.

Der 42-jährige Christopher »Dudus« Coke betreibt in Tivoli Gardens eine Firma, die Veranstaltungen und Streetdanceevents organisiert. Für seine Tätigkeit habe er seit 2002 Millionenbeträge vor allem durch die damals amtierende sozialdemokratische People's National Party (PNP) kassiert, schreibt die jamaikanische Tageszeitung »The Gleaner«. Der pressescheue Event-Manager soll aber in Wirklichkeit der Boss eines kriminellen Netzwerkes in Jamaika sein, das aber auch in den USA, Großbritannien und der Karibik operiere. Seinen Reichtum habe »Dudus« mit Waffen- und Drogenhandel gemacht. Im August vergangenen Jahres hatten die USA seine Auslieferung beantragt. Jamaika ist neben Haiti und der Dominikanischen Republik eine der Drehscheiben für den internationalen Drogenhandel.

Für die Bewohner der Armenviertel von Kingston und vor allem von Tivoli Garden ist Christopher »Dudus« Coke jedoch kein Drogenboss und Großdealer, sondern ein Wohltäter und Helfer. Viele Kinder, so berichtet der »Gleaner« verdanken seiner finanzieller Unterstützung die Möglichkeit, eine bessere Schule zu besuchen. An Bedürftige, so wird berichtet, lasse er regelmäßig Lebensmittel verteilen. Und seiner Initiative verdanken viele Stadtteile mit vorwiegend ärmerer Bevölkerung, dass dort die Bandenkriege der letzten Jahren beigelegt worden seinen, berichtet der »Jamaica Observer« in seiner Online-Ausgabe am Sonntag (23. Mai).

Als am Dienstag vergangener Woche (18. Mai) ein Richter den Auslieferungsantrag der USA unterzeichnet hatte und Polizeibeamte den Haftbefehl gegen »Dudus« Coke vollstrecken wollten, verbarrikadierte sich dieser in seinem Haus in Tivoli Gardens. Anwohner begannen anschließend Straßensperren zu errichten, um der Polizei den weiteren Zugang zum Stadtviertel zu wehren. Frauen mit weißen TShirts demonstrierten derweil im Stadtzentrum gegen die Auslieferung: »Lasst 'Dudus' in Ruhe. Er ist ein gesetzestreuer Bürger«, forderten die Demonstrantinnen. Seitdem aber die Anwälte des Gesuchten vor Gericht scheiterten, seine Auslieferung zu verhindern, brennt die Metropole.

Am Sonntag (23. Mai) eskalierte die Auseinandersetzung weiter. Stadtviertel wurden mit brennenden Straßensperren abgeriegelt. Nach Polizeiangaben und Presseberichten aus Kingston verschanzten sich Bewaffnete in mehreren Stellen der Stadt auf Dächer und beschossen anrückende Polizeieinheiten. Mehrere Polizeistationen wurden beschossen, wobei ein Polizist einer Spezialeinheit verletzt wurde. Das Polizeirevier in Hannah Town, im westlichen Kingston musste aufgrund der bewaffneten Angriffe geräumt werden, nachdem den Polizeibeamten die Munition ausgegangen war. Demonstranten setzten das Gebäude anschließend in Brand. Polizeichef Owen Elington hat Christopher »Dudus« Coke aufgefordert, die Situation nicht noch weiter eskalieren zu lassen und sich zu ergeben. Vorsorglich hat das US-Außenministerium eine Reisewarnung seine Staatsbürger für den Großraum Kingston herausgegeben. Auch das Auswärtige Amt warnt vor Besuchen der Krisengegend.

Premierminister Bruce Golding, dessen Wahlkreis in Tivoli Gardens liegt, sprach von »einen kalkulierte Anschlag auf die Staatsautorität«, der nicht nachgegeben werden dürfte. Entspannung ist demnach nicht in Sicht.

* Aus: Neues Deutschland, 25. Mai 2010


Kingston unter Ausnahmerecht **

Jamaikas Regierung verhängte am Sonntag (23. Mai) den Ausnahmezustand über Teile der Hauptstadt Kingston. Dort war es in den vergangenen Tagen zu erbitterten Gefechten zwischen Polizei und Armee auf der einen Seite und Anhängern von Christopher Coke auf der anderen gekommen. Bei dem 42jährigen Mann handelt es sich nach Meinung der US-Regierung um »einen der gefährlichsten Drogenbosse der Welt«, weswegen Washington dessen Auslieferung in die Vereinigten Staaten verlangt.

Bisher hatte die Regierung Jamaikas dem Begehren des US-Justizministeriums nicht stattgegeben. In der vergangenen Woche nun signalisierte Ministerpräsident Bruce Golding, daß er seinen Widerstand gegen die Auslieferung Cokes an die USA aufgeben würde. Justizministerin Dorothy Lightbourne werde den entsprechenden Beschluß unterzeichnen. Die Anwälte von Coke scheiterten am Freitag mit dem Versuch, den Auslieferungsantrag aussetzen zu lassen. Seitdem halten die Straßenschlachten an.

Cokes Anhänger griffen am Wochenende mehrere Polizeiwachen in West Kingston an. Das Viertel Tivoli Gardens, in dem Cokes zu Hause ist, glich einer Festung - die bewaffneten Verteidiger des mutmaßlichen Drogenhändlers verschanzten sich hinter Autowracks und Stacheldraht. Sie hatten schon vor Tagen Barrikaden errichtet, um Sicherheitskräfte fernzuhalten. Coke wurde aufgefordert, sich zu ergeben. Bei den Auseinandersetzungen wurden am Sonntag zwei Polizisten getötet und sieben verletzt. Vier Polizeistationen wurden angegriffen, eine Dienststelle in Brand gesetzt, nachdem diese von den Beamten aufgegeben werden mußte, weil ihnen die Munition ausgegangen war.

Golding bezeichnete die Verhängung des Ausnahmezustandes am Sonntag als »Wendepunkt« im Umgang des Staates mit den »Mächten des Bösen«, die aus Kingston eine der gefährlichsten Städte der Welt gemacht hätten. Frauen und Kinder forderte er auf, den unruhigen Stadtteil Tivoli Garden vorübergehend zu verlassen. Der Ausnahmezustand gelte vorerst für einen Monat, hieß es in Medienberichten von der Karibik­insel.

Coke leitet nach Angaben der örtlichen Polizei ein »Verbrechersyndikat«, das in Jamaika und im gesamten Karibikraum, in Nordamerika und in Großbritannien aktiv ist. Viele Bewohner dagegen sehen in Coke einen »Wohltäter«. Er habe, so sein Ruf, Kindern den Schulbesuch ermöglicht, Eßwaren einkauft und Streitigkeiten geschlichtet, wie die jamaikanische Zeitung Jamaica Gleaner im Internet berichtet. Hunderte hatten vergangene Woche bei einer Demonstration Coke ihre Unterstützung bekundet.

Inzwischen haben die USA, Kanada und Großbritannien Reisewarnungen für die Karibikinsel ausgegeben.

** Aus: junge Welt, 25. Mai 2010


Die Saat der Garrisons

Von Martin Ling ***

Die Loyalität der Anwohner ist ihm sicher: Christopher »Dudus« Coke, dem Don von Tivoli Gardens. Dass in Jamaika die Nachbarn Unterweltfiguren gegen die Polizei und damit gegen die staatliche Autorität verteidigen, hat Tradition und gute Gründe: Vom Staat können die Ghettobewohner so gut wie nichts erwarten, vom örtlichen Bandenchef und Gebietsfürsten bei Wohlverhalten jedoch paternalistische Unterstützung.

Der Fall Coke ist deswegen so brisant, weil Tivoli Gardens ausgerechnet der Wahlkreis des amtierenden Ministerpräsidenten Bruce Golding ist. Tivoli Gardens ist die Mutter aller Garrisons, der so genannten Festungen, die in der Hand von parteinahen Gangs sind. Seit den sechziger Jahren haben sich die beiden maßgeblichen Parteien, die konservative Jamaica Labour Party und die sozialdemokratische People's National Party mittels der Banden die Städte politisch aufgeteilt.

Die Grenzen zwischen Drogengangmitgliedern und den Gunmen der Parteien sind dabei fließend. Dass Bruce Golding neun Monate schützend seine Hand über Coke hielt und eine Auslieferung in die USA verhinderte, wundert daher weit weniger als der jüngste Sinneswandel. Im besten Falle steht er für einen gezielten Bruch mit der Garrison-Politik der Vergangenheit. Im anderen Falle nur für die Begleichung offener Rechnungen.

*** Aus: Neues Deutschland, 25. Mai 2010 (Kommentar)


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