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Außer Kontrolle

Jahresrückblick 2011. Heute: Fukushima. Die Atomkatastrophe ist noch lange nicht bewältigt

Von Josef Oberländer *

Mehr als neun Monate nach Beginn der Atomkatastrophe von Fukushima haben die Eigentümer der Schrottreaktoren und die zuständigen staatlichen Stellen die Lage trotz anderslautender Darstellungen noch immer nicht unter Kontrolle gebracht. Ob Fisch oder Fleisch, Reis, Gemüse oder Tee – die ausgetretene Radioaktivität findet ihren Weg zu den japanischen Verbrauchern, auch zu denen, die in weit entfernten Landesteilen leben. Der Nahrungskonzern Meiji rief jüngst 400000 Einheiten Babynahrung zurück, weil sich im verwendeten Milchpulver radioaktives Cäsium 134 und 137 fand. Die amtlichen Grenzwerte – 200 Bequerel pro Kilo – wurden zwar nicht überschritten, aber das Unternehmen sorgte sich wohl um seinen Ruf. Die Eltern dürfte das kaum beruhigt haben, vor allem, weil die Zutaten nicht aus Fuku­shima kamen, sondern aus Saitama, einer an die Hauptstadt angrenzenden Provinz. Rund 160 000 Menschen wurden bislang evakuiert, weite Landstriche sind durch den Fallout auf lange Sicht unbewohnbar, unvorstellbare Mengen radioaktiver Stoffe wurden – und werden – ins Meer verklappt.

Als ein verheerendes Erdbeben am 11. März weite Teile der Hauptinsel Honshu verwüstete, war das Unternehmen Tepco bemüht, die nachfolgende Flutwelle, den Tsunami, für den Schaden an seinem Atomkomplex verantwortlich zu machen. Auch General Electric, dem Hersteller der Reaktoren, dürfte daran gelegen gewesen sein. Schließlich hätte es in der Verantwortung der Firmen gelegen, die Anlage erdbebensicher zu machen. Die Kühlung fiel aus, in drei von sechs Reaktoren kam es zur Kernschmelze. Der Versuch, die Anlagen mit Wasserwerfern zu kühlen, zeugte von der Hilflosigkeit der Verantwortlichen. Zudem wollte Tepco die Reaktoren zunächst nicht weiter beschädigen, etwa durch Einpumpen von Meerwasser – um sie eines Tages wieder anfahren zu können.

Sperrgebiet um AKW

Wasserstoffexplosionen zerstörten die äußeren Hüllen mehrerer Reaktoren zumindest teilweise. Die Flächen im Umkreis von 20 Kilometern rund um Fukushima Dai-Ichi wurden zum Sperrgebiet erklärt, die Bevölkerung wurde evakuiert. Mehr als 100 000 Menschen leben seitdem in Notunterkünften – auf unabsehbare Zeit. Wer zwischen 20 und 30 Kilometer vom AKW entfernt lebte, wurde aufgefordert, sein Haus nicht zu verlassen. Im Mai wurde vom Unterhaus ein Notetat verabschiedet, der einen schnellen Wiederaufbau in den von Erdbeben und Tsunami verwüsteten Gebieten ermöglichen sollte. Berichte über »Wegwerfarbeiter«, die in Fukushima ohne ausreichenden Schutz und ohne Aufklärung über die gesundheitlichen Gefahren zum Aufräumen eingesetzt wurden, sorgten gleichzeitig für Beunruhigung. Tepco kündigte daraufhin an, die Arbeiter vor Ort regelmäßig untersuchen zu lassen. Tepco-Chef Masataka Shimizu trat zurück. Unabhängige Experten wurden von den staatlichen Stellen erst drei Monate nach der Katastrophe eingeschaltet. Daß immer wieder hohe Strahlenwerte auch bei kurzlebigen Isotopen gemessen wurden, machte ab Sommer klar, daß die Kernspaltung bis heute weitergeht.

Als Journalisten im November erstmals das Gelände betreten durften, sah es dort aus wie am Tag nach dem Erdbeben: Schutt und Trümmer überall, verbogene Stahlträger, zerdrückte Lastwagen, geplatzte Wassertanks. Aufräumarbeiten fanden wegen der hohen Strahlenbelastung nicht statt. Bis heute beruhen die Aussagen von Tepco zur aktuellen Situation auf Computersimulationen. Die Reaktorgebäude können nicht betreten werden. Die Ankündigung des Unternehmens, die Reaktoren bis Ende des Jahres endlich herunterzufahren, ist deshalb das Papier nicht wert, auf dem sie verteilt wurde. Wie zuletzt bekannt wurde, hat sich der geschmolzene Kernbrennstoff in mindestens einem Reaktor durch den Druckbehälter und einen Großteil der Betonhülle gefressen.

Größte Sorge der Regierenden ist derzeit allerdings, den Versorger irgendwie am Leben zu halten. Tepco kann nicht einfach in die Insolvenz geschickt werden wie die Fluggesellschaft Japan Airlines (JAL) Anfang vergangenen Jahres. Denn dann verlören Japans große Banken und Versicherer, die größten Aktionäre und Anleihegläubiger des Unternehmens, ihr Geld. Im November sagte die Regierung 900 Milliarden Yen zu, um den Konzern zu stützen. Seit März hat Tepco 1,8 Billionen Yen (17,4 Milliarden Euro) Verluste aufgehäuft. Für das Ende März auslaufende Geschäftsjahr rechnet der Versorger mit einem Minus von 600 Milliarden. Bis März 2013 sollen sich die Entschädigungsforderungen einer Regierungskommission zufolge auf bis zu fünf Billionen Yen summieren. Andere rechnen bereits mit dem Doppelten. Die Tageszeitung Mainichi Shinbun berichtete bereits, ein Sonderfonds der Regierung werde bis zum Sommer für eine Billion Yen Vorzugsaktien des maroden Stromerzeugers kaufen, um zu verhindern, daß die Verbindlichkeiten die Summe der vorhandenen Vermögenswerte übersteigen.

Die Menschen, die in den verstrahlten Gebieten zurückgeblieben sind, haben zur Selbsthilfe gegriffen. Geigerzähler aus chinesischer Produktion fanden reißenden Absatz. Viele haben auf ihren Grundstücken Löcher ausgehoben und die oberste Bodenschichten darin versenkt. Aber Wind und Regen bringen immer wieder neues strahlendes Material. Im kommenden Jahr soll mit der Dekontaminierung begonnen werden. Die Armee hat bereits in vier Gemeinden innerhalb der 20-Kilometer-Zone Gebäude gereinigt, die dabei als Kommandozentren dienen sollen. Ob die Evakuierten jemals zurückkehren können, weiß jedoch keiner. Die zu entgiftende Fläche ist mehr als dreimal so groß wie die von Bremen bzw. halb so groß wie das Saarland.

Dem alltäglichen Grauen setzen Tausende Japaner ihren Protest entgegen – so etwas hat es seit den Studentenunruhen Ende der 60er Jahre nicht mehr gegeben. Man erwartet auch nichts mehr von den Elitebeamten, die im Gegensatz zu Politikern zumindest als unbestechlich gegolten hatten. Das öffnet Perspektiven für gesellschaftliche Veränderungen.

Kein Atomausstieg

Trotzdem ist von einem Atomausstieg im Reich der aufgehenden Sonne nicht mehr die Rede. Premier Naoto Kan, der das Thema auf den Tisch gebracht hatte, mußte Ende August abtreten. Seine Pläne für einen schrittweisen Ausstieg waren in der Öffentlichkeit zwar gut angekommen, aber angesichts des Staatsversagens in Fukushima wurde seine Regierung Meinungsumfragen zufolge nur noch von rund 15 Prozent der Menschen unterstützt. Allen Protesten zum Trotz hofft der Fukushima-Betreiber Tokyo Electric Power Co. (Tepco) nun, unter Kans industriefreundlichem Nachfolger Yoshihiko Noda sein AKW in Kashiwazaki am Japanischen Meer wieder komplett anfahren zu dürfen. Das könnte den katastrophenbedingten Produktionsausfall teilweise ausgleichen. Das vor 60 Jahren gegründete Unternehmen soll schließlich die Stromversorgung des Großraums Tokio sicherstellen.

Der dichte Filz aus Lokalpolitikern, dienstbaren Wissenschaftlern und Aufsichtsbehörden, die von ehemaligen Mitarbeitern der Atomindustrie geleitet werden, half Tepco bislang über jeden Skandal hinweg. Vor knapp einem Jahrzehnt mußte das Unternehmen zugeben, über einen Zeitraum von 16 Jahren Untersuchungsergebnisse gefälscht und Probleme vertuscht zu haben. Geschadet hat es Tepco nicht.

* Aus: junge Welt, 19. Dezember 2011


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