Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Lernunfähige Nation?

Dreimal haben Japaner den Einsatz von US-Kernwaffen erlebt. Aber bis heute verfolgt Tokio seine atomfreundliche Politik weiter

Von Eiichi Kido *

Am 31. März 2011 hat das japanische Oberhaus mit großer Mehrheit das Gesetz für den Export von Atomkraftwerken (AKW) beschlossen (230 Abgeordnete stimmten dafür, dagegen waren nur 11). Die Horrormeldungen vom AKW Fukushima haben also die japanische AKW-Förderungspolitik nicht im geringsten geändert. Es ist daher keineswegs grundlos, Bedenken bezüglich des japanischen Staates zu haben, der seine Bürger im Stich läßt und sich erneut menschenverachtend verhält – früher wegen des Primats des Militärs, heute wegen des Primats der Wirtschaft.

Wie reagiert die japanische Öffentlichkeit auf das Unglück? Am 26. und 27. März 2011 hat die japanische Nachrichtenagentur Kyodo eine telefonische Umfrage durchgeführt. Danach bewerteten eine Mehrheit der Bevölkerung (58,2 Prozent) die Maßnahmen der Regierung gegen den GAU im AKW Fukushima negativ, während 39,3 Prozent sie positiv beurteilten. 46,7 Prozent der Befragten befürworteten die allmähliche Verminderung oder sofortige Abschaffung der AKW. Aber etwa gleich viele (46,5 Prozent) fanden, Japan solle die AKW erbehalten oder sogar noch mehr bauen.

Noch unglaublicher ist das Ergebnis einer Umfrage, das die größte Tageszeitung Japans Yomiuri am 4. April veröffentlichte. Danach wollten 46 Prozent an den AKW festbehalten, zehn Prozent sie noch ausbauen, 29 Prozent reduzieren und zwölf Prozent abschaffen. Trotz der apokalyptischen Zustände glaubt die Mehrheit der Japaner nach wie vor an den Traum der »friedlichen Nutzung« der Kernenergie. Sind Japaner eine lernunfähige Nation?

AKW-Verteidiger

Es ist nicht zu übersehen, daß bereits die Fragestellung der Yomiuri irreführend war. Sie lautete: »In Japan werden etwa 30 Prozent des Strombedarfs durch Atomkraft abgedeckt. Was sollte man in Zukunft mit den AKW des Landes tun?« Wenn die Zeitung etwa gefragt hätte: »Seit der Katastrophe beim AKW Fukushima wird in verschiedenen Ländern die Möglichkeit eines Atomausstiegs überprüft. Was sollte man in Zukunft mit den AKW des Landes tun?«, hätte das Ergebnis anders aussehen können.

Diese Umfrage spiegelt vermutlich die Absicht der Tageszeitung, die japanischen AKW bis zum Äußersten zu verteidigen. Das hätte Tradition, denn Yomiuri, deren verkaufte Auflage heute mehr als zehn Millionen Exemplare betragen soll, spielte bereits eine wichtige Rolle, als Japan in den 50er Jahren die Kernenergie einführte.

Japaner haben dreimal die US-Kernwaffen erlebt. Nach den Abwürfen von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945 wurde der japanische Thunfischkutter »Glücklicher Drache V« bei US-Kernwaffentests auf dem Bikini-Atoll im Pazifik am 1. März 1954 starkem radioaktivem Niederschlag ausgesetzt, obwohl er vom Ort der Explosion 140 bis 160 Kilometer entfernt war. Alle 23 Besatzungsmitglieder erkrankten an einer schweren Form der Strahlenkrankheit. Ein halbes Jahr später verstarb der 40jährige Funker Aikichi Kuboyama daran. Sein Vermächtnis lautete: »Ich möchte das letzte Opfer der Atom- und Wasserstoffbomben sein.«

Dieses Ereignis schockierte die japanische Öffentlichkeit. Sämtliche Fänge der vom US-Kernwaffentest betroffenen Fischerboote mußte vernichtet werden. Da Japaner damals viel mehr Fisch als Fleisch aßen, belastete das die Ernährungslogistik sehr.

Aus Entsetzen und Empörung über die Tatsache, daß Landsleute zum dritten Mal Opfer der US-Kernwaffen geworden waren, entstand spontan die japanische Antikernwaffenbewegung. Die Regierungen Japans und der USA befürchteten, daß sie sich zu einer antiamerikanischen Bewegung wandeln könnte. Washington zahlte zwei Millionen Dollar – nicht als Entschädigung, sondern aus »Beileid«. Tokio garantierte im Gegenzug, keine weiteren Forderungen zu erheben. Bis heute stehen die USA auf der Position, die direkte Todesursache Kuboyamas sie nicht radioaktive Strahlung gewesen. Um die »unerwünschte« Einstellung der Japaner gegenüber der weiteren Entwicklung der US-Kernwaffen zu beeinflussen, trafen die Machthaber beider Länder verschiedene Maßnahmen. Die »friedliche« Nutzung der Atomkraft war eine davon.

Gedankenpolizist

Die Schlüsselfigur heißt Matsutarô Shôriki (1885–1969), ein früherer Polizeibeamter, der 1924 Yomiuri übernahm. 1940 trug er zur Abschaffung der traditionellen Parteien und zur Errichtung des Ein-Parteien-Staates bei. Im Juni 1943 wurde er Berater der Informationsbehörde, die die Mobilisierung der Bevölkerung für den Krieg organisierte. Im Dezember 1945 wurde er als Kriegsverbrecher verhaftet, die US-Besatzungsmacht verfuhr mit ihm aber nicht besonders rigoros. Seine Karriere in der Gedankenpolizei und Propagandamaschinerie war für sie offenbar nützlich, nach der Freilassung diente Shôriki jedenfalls unter dem Decknamen »podam« und »pojacpot-1« treu der Besatzung und der CIA.

Nach der Verstrahlung von »Glücklicher Drache V« versuchten die USA, der wachsenden Kritik in der japanischen Öffentlichkeit etwas entgegenzusetzen. Shôriki, der 1951 die erste private Fernsehgesellschaft in Japan (Nippon TV) gegründet hatte, wußte, daß er auf ihre Unterstützung bei entsprechenden Kampagnen rechnen durfte.

Dabei war die Atomkraft die entscheidende politische Karte für ihn. Unter Hinweis auf das japanische Sprichwort »ein Übel mit einem anderen bekämpfen« bot er Vertretern der USA die Zusammenarbeit an. Im Februar 1955 wurde Shôriki zum Abgeordneten im Unterhaus gewählt. Im November 1955 trug er zur Gründung der Liberaldemokratischen Partei (LDP) als Bündelung der konservativen Kräfte bei. Er organisierte im gleichen Monat eine »Ausstellung zur friedlichen Nutzung der Atomkraft«, und natürlich machten seine Zeitung und sein Sender umfangreich Werbung für »Atoms for peace«. Im Mai 1956 wurde er zum ersten Staatsminister für Wissenschaft und Technologie ernannt und später als »Vater der Atomkraft« bezeichnet. Daß die AKW heute in einem Land mit häufigen Erdbeben so dicht stehen, ist das Ergebnis eines abgekarteten Spiels von Informationsindustrie, Politik, Bürokratie, Wirtschaft und Wissenschaft.

Militarisierung

Die Nachfolger Shôrikis folgten in der Zeitung wie beim Fernsehsender dem proamerikanischen Kurs des Firmengründers. Im November 1994 veröffentlichte die Yomiuri ihren Entwurf einer neuen Verfassung. Ihr Ziel war und ist die Abschaffung des pazifistischen Artikel 9, so daß Japan als »normaler Staat« immer und weltweit an der Seite der USA militärisch präsent sein kann. Den Irak-Krieg hat das Medienhaus vorbehaltlos unterstützt. Die Zeitung propagiert die Militarisierung Japans, wobei die frühere »Bedrohung« durch die Sowjetunion heute durch die angeblich von China und Nordkorea ausgehende ersetzt wurde. Sie befürwortet sogar, daß Japan eventuell Atomwaffen besitzen soll. Angesichts des nordkoreanischen Atomwaffentests am 9. Oktober 2006 hieß es in ihrem Leitartikel zwei Tage später, es dürfe nicht sein, wegen der emotionalen nuklearen Allergie nicht realistisch handeln zu können und dadurch die Existenz Japans zu gefährden.

Ursprünglich bedeutete »nukleare Allergie« in Japan bis in die 80er Jahre Aversion gegen Atomenergie. Auf Grund der Erinnerung an Hiroshima, Nagasaki und den »Glücklichen Drachen V« gab es große Bedenken gegen sie. Aber angesichts von »Wohlstand« und Konsumismus ließen sich die meisten Japaner die nationale Atomenergiepolitik gefallen. Kritische oder skeptische Stimmen an AKW-Standorten wurden mit Geld zum Schweigen gebracht.

Proamerikanische Kräfte waren so erfolgreich, die Abneigung der Japaner gegen Atomenergie abzubauen. Jetzt sind sie dabei, die Ablehnung von Kernwaffen abzubauen. Das Problem ist, daß sich die japanischen Massenmedien in dieser Hinsicht freiwillig gleichschalten.

Es gibt doch keine Trennlinie zwischen der »friedlichen« und der militärischen Nutzung der Kernenergie, zumal die japanische Atompolitik einen Teil der Militarisierung darstellt (Siehe auch: Eiichi Kido: Wohin treibt Japan? Die Atompolitik ist Teil einer zunehmenden Militarisierung, in: Der Tagesspiegel, 1. April 2011). Ob sich Japaner auch nach der Atomkatastrophe durch die profit- und gewalt­orientierten Medienkonzerne weiter manipulieren lassen, hängt von ihrer zivilgesellschaftlichen Nachdenk- und Lernfähigkeit ab.

* Eiichi Kido arbeitet als Politikwissenschaftler an der Universität Osaka.

Aus: junge Welt, 12. April 2011



Zurück zur Japan-Seite

Zur Kernkraft-Seite

Zurück zur Homepage