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Aufstand gegen Atomkraft

170 000 Japaner wollen den Neustart von Reaktoren nicht hinnehmen

Von Jenny Becker *

In Japan ist wieder ein Atomreaktor in Betrieb, doch die Bevölkerung will sich das nicht gefallen lassen. In Tokio fand am Montag der größte Massenprotest seit der Katastrophe von Fukushima statt. Er richtete sich vor allem gegen den Meiler Oi, der kürzlich auf Beschluss der Regierung neu hochgefahren wurde.

In Japan erreicht die Anti-Atomkraft-Bewegung einen neuen Höhepunkt. Am Montag demonstrierten nach Veranstalterangaben rund 170 000 Menschen in Tokio für ein Ende der Atomenergie. Es war die größte Kundgebung dieser Art seit der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Aus dem ganzen Land reisten Aktivisten an, um sich nahe des Yoyogi-Parks südöstlich des Stadtzentrums zu versammeln.

Ursprünglich hatten die Organisatoren von der Initiative »Sayonara Nukes« (Auf Wiedersehen, Atomkraft) mit 100 000 Teilnehmern gerechnet. Es war nicht nur der nationale Feiertag, durch den die Kundgebung so viel Zulauf erhielt. Maßgebend war das Unbehagen vieler Japaner über die Wiederinbetriebnahme von Nuklearreaktoren. In Sprechchören riefen sie: »Die nukleare Ära ist vorbei« und »Nehmt die Atomkraft nicht wieder in Betrieb. Premierminister Noda soll zurücktreten«.

Yoshihiko Noda hatte die Reaktivierung einiger Meiler genehmigt, um mögliche Stromausfälle abzuwenden, vor denen die Atomindustrie wiederholt gewarnt hatte. Anfang Juli wurde trotz massiver Proteste ein Reaktor im Atomkraftwerk (AKW) Oi hochgefahren - der erste seit dem Super-GAU von Fukushima. Nach der Katastrophe im März 2011 hatten alle 50 japanischen Kernkraftwerke stillgestanden. Ein zweiter Reaktor in Oi soll voraussichtlich diese Woche in Betrieb gehen. Ebenso wie Fukushima liegt das AKW direkt am Meer.

»Wenn wir nichts tun und still bleiben, heißt das, wir stimmen dem Neustart der Reaktoren zu«, sagte die 26-jährige Demonstrantin Ayumi Ajima gegenüber einer japanischen Onlinezeitung. Und der 71-jährige Noboru Shikatani, der damals von Fukushima nach Tokio evakuiert wurde, äußerte: »Wir können keine Wiederaufnahme der Kernkraft akzeptieren, solange der Fall Fukushima nicht aufgeklärt ist.« Auch in puncto Entschädigung und Dekontamination seien noch keine Fortschritte gemacht worden.

Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe, einer der Hauptredner, sagte: »Wir müssen die Pläne der Regierung stoppen.« Er gehört zu den Initiatoren von »Sayonara Nukes«. Die Initiative hat bereits über 7,8 Millionen Unterschriften für den Atomausstieg gesammelt, zehn Millionen sollen es werden. Nach ihren Angaben sind vier Fünftel der japanischen Bevölkerung für ein Ende der Atomkraft.

Vor der Katastrophe von Fukushima kamen oft nur eine Handvoll Umweltschützer zu Anti-Atom-Veranstaltungen, seither hat sich viel getan. »In Japan hat sich eine richtige Anti-AKW-Bewegung gebildet«, sagt Tobias Riedl, Greenpeace-Atomexperte. Der Widerstand gehe quer durch die Bevölkerung. »Mit einem Abebben des Protests ist nicht zu rechnen, die Ablehnung in der Bevölkerung wächst.«

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juli 2012


Nie wieder Fukushima!

Von André Scheer **

Rund 200000 Menschen haben am Montag in der japanischen Hauptstadt Tokio gegen das Wiederanfahren der Atomkraftwerke des Landes demonstriert. In nur wenig mehr als zwei Wochen war dies bereits die dritte Großdemonstration in Japan, die sich gegen den Atomkurs der Regierung richtete. Bereits am 29. Juni hatten sich ebenfalls etwa 200000 Menschen vor dem Amtssitz von Ministerpräsident Toshihiko Noda versammelt. Eine Woche darauf, am 6. Juli, nahmen Medienberichten zufolge noch einmal über 150000 Menschen an einer Kundgebung teil. Zudem haben rund 7,4 Millionen Bürger mit ihrer Unterschrift per Resolution einen Ausstieg Japans aus der Nutzung der Kernkraft gefordert.

Bis zum Super-GAU im März 2011 hatte sich eine große Mehrheit der Japaner in Umfragen immer wieder für die Kernenergie ausgesprochen, nur gegen die Entwicklung von Atomwaffen richtete sich vor dem Hintergrund der Atombombenabwürfe auf Hiro­shima und Nagasaki 1945 eine relativ starke Bewegung. Als jedoch nach der Tsunami-Katastrophe das AKW Fuku­shima-Daiichi außer Kontrolle geriet, teilweise explodierte und weite Landstriche radioaktiv verseucht wurden, änderte sich das. Die Regierung nahm zunächst alle 50 Reaktoren des Landes vom Netz, monatelang kam das Land ohne Atomstrom aus. Seit Anfang Juli fährt jedoch die Kansai Electric Power Co (Kepco) die Reaktoren des AKW Oi wieder hoch. Damit setzen sich der Konzern und die Zentralregierung über den Willen der Regionalverwaltungen und der Bevölkerung hinweg.

Murakami Tatsuya, der Bürgermeister des rund 38000 Einwohner zählenden Tokai in der Präfektur Ibaraki, rund 120 Kilometer nördlich von Tokio gelegen und ebenfalls ein AKW-Standort, kritisierte das Vorgehen der Zentralregierung am 5. Juli bei einer Konferenz der Japanischen Kommunistischen Partei (JCP) in Tsukuba: »Wir sind sehr enttäuscht über die Haltung der Politiker, Bürokraten, Wirtschaftsführer und Wissenschaftler, aber ich setze große Hoffnungen in den stärker werdenden Kampf des Volkes gegen die Kernenergiepolitik der Regierung.« Die Antiatomproteste seien bereits zur stärksten Oppositionsbewegung seit den 60er Jahren geworden, sagte der Politiker. »Das japanische Volk, das das Tohoku-Erdbeben und den Atom­unfall von Fukushima erlebt hat, steht gegenüber den sieben Milliarden Menschen, die auf der Welt leben, in der Verantwortung, eine Nation ohne Atomkraftwerke zu schaffen.«

Bei der Kundgebung am Montag wies der bekannte japanische Komponist, Musiker und Schauspieler Ryuichi Sakamoto Erklärungen der Regierung zurück, die Wiederinbetriebnahme der Reaktoren sei zur Energiesicherheit des Landes notwendig. Japan sei schließlich bereits mehr als ein Jahr lang ohne Atomstrom ausgekommen: »Leben ist wichtiger als Geld. Nach Fukushima zu schweigen, ist barbarisch.« Begleitet wurde er von Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe.

Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW warnt unterdessen vor einer Zunahme von Krebserkrankungen bei Kindern in der Präfektur Fukushima. Wie die deutsche Sektion unter Berufung auf eine Untersuchung der regionalen Gesundheitsbehörde an 38114 Kindern im Alter zwischen null und 18 Jahren mitteilte, seien bei 35 Prozent der untersuchten Kinder Schilddrüsenzysten, bei einem Prozent Schilddrüsenknoten gefunden worden. Die australische Kinderärztin Helen Caldicott warnte, diese müßten als Vorboten von Schilddrüsenkrebs angesehen werden.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 17. Juli 2012


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