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Instabile Spaltprodukte

Keiner weiß, wie es in den Druckbehältern aussieht: Noch könnte Fukushima ein neues Tschernobyl werden

Von Wolfgang Pomrehn *

Noch immer hat Tepco, der weltgrößte AKW-Betreiber, keinen seiner havarierten Reaktoren im japanischen Kraftwerkskomplex Fukushima Daiichi so richtig unter Kontrolle. Mal heißt es, die Temperaturen hätten abgesenkt werden können, dann wieder wird von aufsteigendem Rauch oder Wasserdampf über dem einen oder anderen der Reaktoren berichtet. Die Informationen sind spärlich und widersprüchlich. Meist treffen sie verspätet ein.

Am Montag sollte die Öffentlichkeit mit Temperaturmessungen beruhigt werden. Sie wurden von Helikoptern aus mittels Infrarotsensoren durchgeführt. Was heißt das? Zum einen haben die Betreiber offensichtlich weder im Reaktordruckbehälter noch im umgebenden Sicherheitsbehälter noch im Betriebsgebäude die Möglichkeit, kontinuierlich zu messen. Es gilt also immer noch, was eine ehemaliger Tepco-Ingenieur vor anderthalb Wochen auf einer Pressekonferenz japanischer AKW-Gegner sagte: »Keiner weiß, wie es in den Druckbehältern aussieht.«

Angeblich waren die Temperaturwerte sehr positiv. Vom Reaktor 3 wurden 128 Grad über dem Sicherheitsbehälter gemeldet. Um zu verstehen, was dieser Wert bedeutet, muß erläutert werden, wie die Reaktoren aufgebaut sind: Im Inneren befindet sich der Kessel, der Druckbehälter, in dem die Brennstäbe im Wasser hängen. Der Kessel befindet sich im Sicherheitsbehälter, dem sogenannten Containment. Der sollte eigentlich so ausgelegt sein, daß er allen Widrigkeiten standhält und selbst einem GAU, das heißt, dem größten anzunehmenden Unfall, standhält. Daß letzteres allerdings nur ein frommer Wunsch ist, zeigt sich zur Zeit mal wieder in Fukushima. Die hohen Werte an Radioaktivität, die dort inzwischen im weiteren Umfeld der Reaktoren gemessen wurden, deuten eher darauf hin, daß an einem der Havaristen der Sicherheitsbehälter beschädigt ist. Das könnte durch eine der Explosionen geschehen sein, die sich ereignet haben.

Aber zurück zu den Temperaturen. Wenn außerhalb des Containments eine Temperatur von 128 Grad gemessen wird, dann muß es im Inneren natürlich noch viel heißer sein. Derartige Temperaturen lassen darauf schließen, daß im Inneren des Druckbehälters das Wasser längst vollständig verdampft ist und die Brennstäbe zumindest teilweise aufgeschmolzen sind.

Wie kommt es dazu? In einem Atomreaktor sind Brennstäbe aus Uranoxid oder, wie im Falle des besonders heißen Reaktors 3 in Daiichi, Uran- und Plutoniumoxid, so angeordnet, daß eine Kettenreaktion in Gang kommt. Die Neutronen, die beim spontanen Zerfall des radioaktiven Urans freigesetzt werden, spalten weitere Atomkerne, wodurch wiederum Neutronen freigesetzt werden. Dafür dürfen sie nicht allzu schnell sein, weil sie sonst nicht von den Kernen eingefangen werden können. Ein Moderator, meist das Kühlwasser, bremst die Neutronen ab, damit die Kettenreaktion aufrechterhalten wird.

Weitere Bedingung für die Kettenreaktion ist, das genügend spaltbares Material, also Plutonium und Uran, vorhanden ist. Die Physiker sprechen auch von kritischer Masse. Das hört sich trivial an, ist aber für den Betrieb eines AKW sehr wichtig. Werden nämlich sogenannte Steuerstäbe zwischen die Brennstäbe gefahren, die den Neutronenfluß unterbrechen, dann bricht die Kettenreaktion ab, weil in den einzelnen Stäben nicht genug Brennstoff enthalten ist, um sie aufrechtzuerhalten. Hinweis am Rande: Nicht alles Uran ist als Brennstoff geeignet, sondern nur das Isotop U-235.

Woher kommt aber die Wärme? Die Energie in einem Atomkraftwerk wird von den Spaltprozessen geliefert. Jeder einzelne Atomkern setzt, wenn er zerfällt, erheblich mehr an Energie frei, als wenn er einfach nur mit einem anderen Atom oder Molekül chemisch reagieren würde. Dabei spalten sich nicht nur die Uran- und Plutoniumkerne, sondern auch viele der Spaltprodukte. Wenn also nun die Kettenreaktion abgebrochen wird, dann sind in den Brennstäben immer noch jede Menge instabile Spaltprodukte vorhanden, die weiter zerfallen und dabei Energie freisetzen.

Die Brennstäbe liefern nach dem Abschalten zunächst noch fünf bis zehn Prozent der Volleistung des Reaktors, weshalb diese Energie unbedingt aus dem Reaktor abgeführt werden muß. In deutschen Atomkraftwerken gibt es in der Regel vier voneinander unabhängige Notkühlsysteme, die diese Aufgabe übernehmen können, wenn das Kraftwerk keinen eigenen Strom mehr erzeugt und auch von außen keinen beziehen kann. In den japanischen Reaktoren in Fukushima waren das wohl nur je zwei oder drei, die aber nach dem Erdbeben an drei Reaktoren vollständig ausfielen.

Fällt die Kühlung aus, so verdampft das Wasser im Reaktordruckbehälter, was zwei Probleme mit sich bringt. Zum einen steigt der Druck im Kessel derart stark, daß dieser explodieren kann. In Fukushima wurde daher aus allen havarierten Reaktoren Dampf abgelassen. Zum anderen zerlegt die starke radioaktive Strahlung einen Teil der Wassermoleküle im Dampf zu Wasserstoff und Sauerstoff. Dieses Problem haben die japanischen Techniker offenbar nicht in den Griff bekommen. Zumindest einige der Explosionen, von denen berichtet wurde, sind Wasserstoffexplosionen gewesen.

Wenn das Wasser erst mal verdampft ist, erhitzen sich die Brennstäbe immer weiter. Ab einem bestimmten Zeitpunkt darf denn auch kein neues Kühlwasser mehr eingeführt werden, weil es sonst zu einer Wasserdampfexplosion käme. Das heißt, die Brennstäbe sind bereits so heiß, daß Wasser explosionsartig verdampft, wenn es mit ihnen in Berührung kommt. Eine solche Explosion könnte unter Umständen Druckbehälter und Containment zerfetzen.

In Fukushima wurde daher schon Anfang letzter Woche begonnen, einige der Containments, das heißt, den Bereich zwischen Druck- und Sicherheitsbehälter, mit Meerwasser zu fluten und sie von außen mit Wasser zu bespritzen. Das kann jedoch die Kernschmelze im Inneren der Druckbehälter nicht aufhalten. Dort sammelt sich irgendwann, vermutlich hat dieser Prozeß bereits in einem oder mehreren der havarierten Reaktoren eingesetzt, das flüssige Uran- und Plutoniumoxid – letzteres nur in Reaktor 3 – auf dem Boden des Druckbehälters. Uranoxid hat einen Schmelzpunkt von etwas über 2800 Grad Celsius, Plutoniumoxid verflüssigt sich schon bei 2400 Grad Celsius. Man kann sich vorstellen, daß der Stahl des Druckbehälters solchen Temperaturen nicht ewig standhält.

Zumal es auch noch heißer werden kann. Wenn die Brennstäbe nämlich weitgehend geschmolzen sind und das spaltbare Material miteinander verklumpt, dann kann durchaus die kritische Masse erreicht werden, die für das erneute Ingangsetzen der Kettenreaktion nötig ist. Es entsteht also wieder ein neuer Reaktor, allerdings keiner, der noch irgendwie steuerbar wäre. Diese Situation ist allerdings nicht mit einer Atombombe zu verwechseln: Zu einer nuklearen Explosion kann es in keinem Atomkraftwerk der Welt kommen. Dafür müßten die Brennstäbe mit großer Kraft aufeinander zuschießen.

Es sind allerdings Explosionen anderer Art möglich. Wenn die Kernschmelze sich durch den Boden des Reaktorbehälters brennt, dann fällt sie in das Containment. Dieses ist im Falle der drei Fukushima-Reaktoren derzeit zumindest teilweise mit Wasser gefüllt. Es würde also zu einer Wasserdampfexplosion kommen, die die Sicherheitsbehälter vermutlich sprengen würde. Das Ergebnis wäre die Freisetzung extrem großer Mengen an Radioaktivität, und zwar in der Größenordnung der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.

* Aus: junge Welt, 24. März 2011


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