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Vermutungen von AKW-Gegnern bestätigt: Japanische Betreiberfirma Tepco räumt Kernschmelze in zwei weiteren Fukushima-Reaktoren ein

Von Reimar Paul *

Wer glaubte, die Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima würde sich langsam ausschleichen und aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwinden, muß wohl gedanklich umdisponieren. Denn tatsächlich ist das Ausmaß des Unglücks weit größer als bisher angenommen. Wie die Betreiberfirma Tepco am Dienstag einräumte, ist nicht nur Reaktor 1 von einer Kernschmelze betroffen – auch in den Reaktorblöcken 2 und 3 sind die Brennstäbe teilweise zusammengeschmolzen. Ein Unternehmenssprecher sagte, man glaube, daß bereits in den Tagen, nachdem das Erdbeben und der Tsunami die Kühlsysteme am 11. März außer Betrieb gesetzt hatten, die meisten Brennstäbe in den Reaktoren geschmolzen seien.

Atomkraftkritische Experten etwa von Greenpeace oder der Ärzteorganisation IPPNW hatten das schon früher vermutet, Tepco bestätigte bislang aber nur eine Kernschmelze im Block 1. Allerdings haben Sprecher des Unternehmens auch immer wieder erklärt, daß sie gar nicht genau wüßten, was in den Reaktoren passiert.

Nach dem gestrigen (24. Mai) Eingeständnis soll der größte Teil der Brennstäbe in Reaktor 2 und 3 bereits 60 bis 100 Stunden nach dem Beben geschmolzen und als glutheiße, flüssige Masse auf den Boden der Druckbehälter gelaufen sein. Allerdings seien die Brennstäbe auch dort mit Wasser bedeckt und würden gekühlt. Die Aussagen wecken Assoziationen zu einem der allerschlimmsten denkbaren Szena­rien – dabei frißt sich der geschmolzene Reaktorkern durch die Bodenplatte des Kraftwerks ins Erdreich.

Nach Angaben der deutschen Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), die seit Beginn der Katastrophe tägliche Lageberichte zu Fukushima erstellt, ist im Block 2 drei Tage nach dem Erdbeben durch den Ausfall eines Notkühlsystems das Kühlwasser im Reaktordruckbehälter stark gefallen. Tepco-Beschäftige hätten daraufhin versucht, mit einer Feuerlöschpumpe Wasser in den Behälter einzuspeisen. Die Flüssigkeitsmenge sei jedoch nicht groß genug gewesen, um eine Freilegung der Brennelemente zu verhindern.

»Es kam durch die mangelhafte Kühlung der Brennelemente zum Aufheizen der Brennelemente und dadurch zu einem Kernschmelzen der meisten Brennelemente«, heißt es in dem GRS-Report von Dienstag mittag. Die Kernschmelze habe sich am 15. März gegen 20 Uhr Ortszeit am Boden des Reaktordruckbehälters angesammelt, »das heißt 101 Stunden bzw. vier Tage nach dem Erdbeben«. Im Block 3 ereignete sich die Kernschmelze den GRS-Angaben zufolge am 14. März gegen 3 Uhr nachts.

Mit einer weiter gehenden Bewertung hielten sich in Deutschland zunächst sowohl Atomkraftkritiker wie -befürworter zurück. »Das ist der Zustand, den die Fachwelt erwartet hat«, sagte Hans-Josef Allelein, Leiter des Lehrstuhls für Reaktorsicherheit und -technik der RWTH Aachen, am Dienstag. Die Situation werde nun nicht gefährlicher. Allelein hält Atomenergie für unverzichtbar.

Insgesamt verfügt das AKW Fuku­shima-Daiichi über sechs Reaktoren. Außer in den drei genannten, ist die Lage auch im Block 4 kritisch. Dort waren Brennstäbe in einem Abklingbecken über Tage nicht gekühlt. Ob und wie viele Brennelemente geschmolzen sind, ist aber unklar. An allen Ecken und Enden des weitgehend zerstörten Kraftwerkkomplexes versuchen Arbeiter unter extremen Bedingungen noch immer, Strahlenlecks zu schließen und stark verstrahltes Wasser zu entsorgen. Millionen Liter kontaminierte Brühe sind schon ins Meer gelaufen. Berichten vom Montag zufolge sind die Tanks, die radioaktives Wasser aus den Reaktoren auffangen, randvoll und können bereits in wenigen Tagen keine neue Flüssigkeit mehr aufnehmen.

Das Erdreich und die Pflanzen sind in einem von weit über die Evakuierungszone hinausreichenden Umkreis kontaminiert. Tausende Schweine und Kühe, die halb verhungert bzw. ungemolken aus dieser Zone ausbrachen, wurden erschossen.

Japans Industrieminister Banri ­Kaieda sagte gestern, daß die Regierung ein unabhängiges Gremium zur Untersuchung der Atomkatastrophe einberufen will. Der zehnköpfigen Kommission, die noch bis Ende des Monats mit der Arbeit beginnen soll, werden Ingenieure, Naturwissenschaftler und angeblich auch Juristen angehören. In Tokio ist mittlerweile ein sechsköpfiges Expertenteam der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) eingetroffen. Die Gruppe soll die Reise eines größeren Teams vorbereiten, das bis zum 2. Juni Daten zur Nuklearkatastrophe in Fukushima erheben will.

* Aus: junge Welt, 25. Mai 2011


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