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Nichts unter Kontrolle

Zweifelhafte Meßmethoden, kaum Daten, extrem hohe Strahlenbelastung: Japans AKW-Ruine in Fukushima erweist sich weiter als tickende Zeitbombe

Von Wolfgang Pomrehn *

Über ein Jahr nach der dreifachen Reaktorkatastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi hat der Betreiber Tokyo Electric Power Co. (Tepco) die Situation noch immer nicht vollständig unter Kontrolle. Ende März hatte Tepco feststellen müssen, daß im äußeren Sicherheitsbehälter des Reaktors 2 das Kühlwasser viel niedriger stand, als angenommen. Statt der erwarteten zehn Meter war der Wasserstand nur knapp 70 Zentimeter hoch. Ein Teil des zusammengeschmolzenen Reaktorkerns könnte daher freigelegen und sich wieder erhitzt haben. Der Fall macht deutlich, daß der inzwischen verstaatlichte Betreiber entgegen der Versicherungen, die Reaktoren hätten sich stabilisiert, in Wirklichkeit im dunkeln tappt.

Die Strahlung in den insgesamt drei zerstörten Reaktorgebäuden ist stark und für Mensch akut lebensgefährlich. Im Sicherheitsbehälter von Reaktor 2 wurden bei den jüngsten Messungen 72 Sievert festgestellt, eine Strahlungsmenge, die einen Menschen innerhalb weniger Minuten töten würde. In den anderen beiden Reaktoren werden sogar noch höhere Werte erwartet. Dennoch konnten die jüngsten Messungen nur vorgenommen werden, in dem ein Arbeiter in Schutzkleidung ein Endoskop in den Behälter herabließ. An diesem war eine Minikamera, ein Strahlungsmeßgrät, ein Thermometer und eine Vorrichtung zu Bestimmung des Wasserstandes angebracht.

Daß Tepco trotz aller Beteuerungen auch über ein Jahr nach der Katastrophe nicht in der Lage scheint, kontinuierliche Messungen in den vermeintlich stabilisierten Reaktorruinen vorzunehmen, mutet befremdlich an. Wenn dann trotz mangelhafter Datengrundlage behauptet wird, man habe die Sache im Griff, weckt dies nicht gerade Vertrauen. Erstaunlich ist auch, daß es offensichtlich an Robotern mangelt, die zur Erkundung der Lage und zur Überprüfung der verbliebenen Instrumente ins Innere geschickt werden könnten. In einem Land, das wie kein anderes die Entwicklung der Robotik vorangetrieben und sich zugleich von der hochriskanten Atomenergie abhängig gemacht hat, ist das schon bemerkenswert.

Der niedrige Wasserstand wirft unter anderem auch Fragen nach dem Zustand der Sicherheitsbehälter auf. Sollten diese beschädigt sein, könnte weiter hochradioaktives Wasser in die Umgebung entweichen. Die geschmolzenen Reaktorkerne müssen nämlich weiter gekühlt werden, was durch ein Behelfssystem geschieht, das nach Angaben der Betreiber als geschlossenes System funktionieren soll. Das ist jedoch nur möglich, wenn die Sicherheitsbehälter, in die das Kühlwasser gepumpt wird, unbeschädigt sind.

Die Kühlsysteme der Reaktoren 1 bis 3 waren durch das Erdbeben und den nachfolgenden Tsunami außer Funktion gesetzt worden. Erst dadurch kam es zur Reaktorschmelze, denn auch ausgeschaltete Reaktoren produzieren, wenn die Kettenreaktion unterbrochen wurde, zunächst weiter große Mengen an Wärme. Wird diese nicht abgeführt, verdampft das Wasser im Druckbehälter und legt die Brennstäbe frei. Diese erhitzen sich weiter, bis sie schließlich schmelzen. Gleichzeitig droht der Wasserdampf den Kessel zu sprengen, weshalb er teilweise abgelassen wurde. Da sich jedoch im Kessel durch chemische Prozesse im Dampf auch reiner Wasserstoff gebildet hatte, kam es zur Explosion der Reaktorgebäude.

Unklar ist indes, was die geschmolzenen Reaktorkerne inzwischen angerichtet haben. Nach Angaben des Betreibers sind sie zumindest teilweise aus den beschädigten Druckbehältern ausgetreten. Man muß sich das so vorstellen, daß flüssiges Uran sich durch den Stahlboden des Kessels gefressen hat. Die Frage ist, ob es auf dem Boden des Sicherheitsbehälters genügend abgekühlt werden kann, um keinen weiteren Schaden zu verursachen.

Wird nämlich auch dieser zerstört, wird die weitere Kühlung erschwert, und ein weiterer Teil der vielen radioaktiven Spaltprodukte, die sich in der geschmolzenen Masse befinden, würden mit dem versickernden Kühlwasser in die Umwelt entweichen. Zu diesen gefährlichen Produkten gehört auch das ultragiftige Schwermetall Plutonium, das zum einen im Reaktor entsteht, zum anderen aber auch in einem der Meiler bereits als sogenanntes Mischoxid eingesetzt worden war.

Eine Analyse der Vorgänge am Reaktor 2, die Ende März in der Fachzeitschrift Journal of Nuclear Science and Technology erschien, geht davon aus, daß der Boden des dortigen Sicherheitsbehälters bereits vier Tage nach dem Beginn der Katastrophe erheblich beschädigt worden sein muß. Das erscheint auch insofern nachvollziehbar, als der Betreiber mehrere Wochen gebraucht hatte, um eine kontinuierliche Behelfskühlung zu installieren.

Derweil sind die Rettungsmannschaften, wie einem Bericht in der New York Times zu entnehmen ist, noch immer damit beschäftigt, die vier schwerbeschädigten Reaktorgebäude zu sichern. Unter anderem wird befürchtet, daß ein erneutes Erdbeben sie zum Einsturz bringen könnte und somit auch die Stabilisierung der Reaktorruinen und des Abklingbeckens für ausgebrannte Brennstäbe am Reaktor vier gefährden. Insgesamt ist Tepco offensichtlich noch weit davon entfernt, die Lagen wirklich im Griff zu haben.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 4. April 2012


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