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Naoto Kan will Japan den Optimismus zurückbringen

Demokraten wählten bisherigen Finanzminister zum Premier

Von Daniel Kestenholz, Bangkok *

Japans bisheriger Finanzminister Naoto Kan ist zum neuen Ministerpräsidenten des Landes gewählt worden. Der 63-Jährige wurde am Freitag (4. Juni) von der Demokratischen Partei (DPJ) zum Vorsitzenden bestimmt, deren Abgeordnete ihn dann in beiden Häusern des Parlaments zum Regierungschef wählten. Vorpremier Yukio Hatoyama war am Mittwoch (2. Juni) zurückgetreten.

Dem neuen Premier Kan verbleiben noch über drei Jahre im Amt. Die Statistik spricht gegen ihn. Von Japans letzten zwanzig Regierungschefs hielt sich mit dem charismatischen Junichiro Koizumi nur ein einziger länger als drei Jahre im Politkarussell.

»Als erstes müssen wir das Vertrauen der Wähler zurückgewinnen«, sagte Kan am Freitag 4. Juni). In gut einem Monat stehen wichtige Oberhauswahlen an.

Gewöhnlich enden die Flitterwochen japanischer Regierungsführer in Monatsfrist, doch für Kan spricht, dass er nicht wie seine Vorgänger aus wohlhabendem Haus mit reicher politischer Vergangenheit stammt. Er ist kein Sohn, Enkel oder Schwiegersohn berühmter Politiker. Kan arbeitete sich hartnäckig aus einfachem Haus empor, liebäugelte in den 70er Jahren als Bürgerrechtler mit der reformistischen Linken und schuf sich in den 90er Jahren einen Namen mit seinem Kampf gegen Korruption und für die kleinen Leute von der Straße.

Kan wirkt glaubwürdig. »Ich wuchs in einer typischen japanischen Familie von Büroangestellten auf«, sagte er vor seiner Wahl zum Premier. »Ich habe keine besonderen Beziehungen. Wenn ich es mit meinem gewöhnlichen Hintergrund zum Premier bringen kann, dann ist das eine gute Sache für japanische Politik.«

Seit 1980 Abgeordneter, deckte er in den 90er Jahren als Gesundheitsminister eines Koalitionspartners einen Skandal um HIV-verseuchte Blutkonserven auf. Als er im Januar 2010 das Finanzministerium übernahm, spielte er gleich mit dem unpopulären Gedanken einer Erhöhung der Fünf-Prozent-Verbrauchssteuer, um Japans vernichtende Schuldenlast anzugehen, die größte der Welt im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt.

Der auch mal aufbrausende Kan macht kein Geheimnis daraus, dass harte Eingriffe vonnöten sind, um Japan aus der Deflationsspirale zurück zu Wachstum zu bringen. Er hütet sich vor billigem Populismus. »Er macht das und steht zu dem, woran er glaubt«, sagte Tobias Harris, der einst einen DPJ-Abgeordneten beriet.

Der Vater von zwei Söhnen und Autor eines Bestsellers will Japan den »Optimismus« zurückbringen, der Hatoyama vorigen Herbst mit einem Erdrutschsieg an die Macht trug. Doch auch Kan ist Abkömmling und Produkt von Japans arteriosklerotischem Politsystem. Als Vizepremier unter Hatoyama schwieg Kan auch zu den Finanzskandalen, die Hatoyama als Mitgrund für seinen Rücktritt angab.

Am Freitag (4. Juni) sagte Kan: »We can do it!«. Das schaffen wir schon, ganz wie Barack Obama in den USA. »Seit zwanzig Jahren steht Japans Wirtschaft still. Junge Menschen finden keine Arbeit. Das ist kein Naturphänomen. Das hat mit falscher Politik zu tun.«

Dabei entspricht es üblicher Praxis in japanischer Politik, das »Deckblatt« kurz vor Wahlen zu wechseln. Mit der raschen Machtübergabe vom unbeliebten Hatoyama auf den fünften Hoffnungsträger in fünf Jahren suchen die Demokraten eine Schnelllösung für den 11. Juli, die wichtigen Oberhauswahlen, die durchaus an die oppositionellen Liberaldemokraten LDP gehen können.

Die Hauptstärke der Demokraten bleibt die Schwäche der in Verruf geratenen LDP, die mit dem Triumph der Demokraten vergangenen August über ein halbes Jahrhundert Einparteienherrschaft aufgeben mussten. Doch LDP-Chef Sadakazu Tanigaki ist mehr Bürokrat als Visionär. Kan wirkt im Vergleich dazu wie ein feuriger Vollblutpolitiker, der – für

japanische Verhältnisse – kein Blatt vor den Mund nimmt, was ihm auch den Namen »Ira-Kan« einbrachte – Ira für »irritable«, reizbar. Kan ist zudem einer der wenigen Spitzenpolitiker, die nie LDP-Mitglied waren. Irgendwie ist er eben eine Ausnahmeerscheinung. Eine Schlagzeile lautete: »Kan can do it!« Kan wird's schon richten.

* Aus: Neues Deutschland, 5. Juni 2010


Hoffnungsträger

Von Olaf Standke **

Die politische Verfallszeit japanischer Regierungschefs ist bei fünf Premiers in nur vier Jahren geringer denn je. Trotzdem glauben Optimisten, dass dem gestern gewählten neuen Ministerpräsidenten Naoto Kan eine längere Amtsdauer beschieden sein wird als Vorgänger Yukio Hatoyama. Der bisherige Finanzminister gilt einfach als entscheidungsfreudiger und durchsetzungsstärker. Allerdings erweisen sich die seit Jahren verschleppten notwendigen Reformen im Land der aufgehenden Sonne auch als Herkulesaufgabe. Vor allem soll der Gründer und Chef der Demokratischen Partei die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt wieder auf Wachstumskurs bringen – und das bei einer Staatsverschuldung von fast 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Da muss Kan schon mehr bieten als sein bei Barack Obama abgekupfertes »Wir schaffen das« und einen rigiden Sparkurs. Zumal sein kaum acht Monate regierender Vorgänger nicht zuletzt auch an seiner außenpolitischen Inkonsequenz gescheitert ist. Hatoyama wollte trotz anderslautender Wahlkampfversprechen einen heftig kritisierten US-amerikanischen Stützpunkt auf Okinawa am Ende dann doch nur innerhalb der Insel verlegen. Noch war von Kan nichts anderes zu hören. Die in fünf Wochen geplante Oberhauswahl wird da für ihn zum ersten großen Test.

** Aus: Neues Deutschland, 5. Juni 2010 (Kommentar)


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